Kapitel 88
Inan
Mit zitternden Händen stehe ich auf dem Podest im Thronsaal, niedergedrückt vom Gewicht dessen, was ich gleich tun werde. Da Mutter ausgeschaltet ist, habe ich den schwersten Kampf bereits gewonnen. Zurück bleiben die Menschen in diesem Saal.
Auf langen Tischen stehen silberne Platten mit gebratenen Hühnchen und Moín-moín-Küchlein. Die Gäste sind guter Dinge, der Rotwein fließt in Strömen. Adelige und Offiziere tanzen auf dem gewienerten Marmorboden.
Vaters Embleme an den Wänden sind verschwunden, fort ist die böse Schneeleopardesse. An ihrer Stelle wehen nun dunkelblaue Banner mit einer aufgestickten Gepardesse, die Mutter für meine Herrschaft entwerfen ließ.
Bei dem Blick auf den Rittling muss ich an die Bronzemünze denken, die ich in der Ahéré deponiert habe. Mutter wollte ein Tier, das nicht so alltäglich ist.
Ihr war nicht klar, wie schnell diese Banner untergehen würden.
Ein letztes Mal sehe ich mich im Saal um und spüre die Bürde der Geschichte, die von diesem Augenblick abhängt. Nach diesem Tag wird Orïsha nicht mehr so sein wie zuvor. Wenn die Monarchie stürzt, wird das Land in Chaos versinken.
Aber es gibt eine Chance.
Ich schließe die Augen. Eine Chance,
das aus der Asche etwas emporsteigt. Eine Vision von Orïsha, die nicht von unserer Vergangenheit verdorben ist.
Als ich mich mit gehobener Hand vor den Thron stelle, erstirbt die Musik. Ich nehme all meine Kraft zusammen und wende mich an die Gäste.
»Danke, dass ihr hier seid.« Ich nicke ihnen zu. »Dieser Krieg hat uns viel genommen. Es ist eine große Erleichterung, sein Ende zu feiern.«
»Gegrüßt sei König Inan!«, ruft ein Leutnant weiter hinten. Die Gäste lächeln und heben ihre Kelche. Ich gebe ihnen ein Zeichen, die Gläser sinken zu lassen. Der Druck in meinem Oberkörper wächst.
»Diese schweren Zeiten haben uns gleichermaßen schwere Lektionen erteilt. Das Ende dieses Krieges bietet uns die Chance, das von uns begangene Unrecht wiedergutzumachen. Uns mit Orïshas dunkler Geschichte auseinanderzusetzen und einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Auf der Suche nach dem besten Weg in die Zukunft bin ich auf all die Legenden gestoßen, mit denen viele von uns aufgewachsen sind, ohne sie sich bewusst zu machen. Eine dieser Legenden würde ich nun gerne mit euch teilen.«
Meine Kehle wird trocken. Ich schlucke und ärgere mich, keinen Weinkelch mit aufs Podium genommen zu haben. Meine Finger tasten hilflos herum, doch es ist nichts da, was ich in die Hand nehmen könnte. Nichts, hinter dem ich mich verstecken könnte.
Du schaffst das
. Ich stelle mir Zélie unter den Gästen vor. Und Ojore an ihrer Seite.
Für sie, für Orïsha, schaffe ich alles.
»Am Anfang war das Nichts. Dann kam die Himmelsmutter. Sie gebar die Götter hoch oben in den Himmeln.« Ich hebe
die Hände. »Und die Menschen hier. Mit dem Leben schenkte sie ihnen die Magie, eine Kraft, die es uns ermöglichte, dieses großartige Königreich zu errichten. Am Anfang wurden unsere Lande von den Clans regiert. Sie verwalteten sich selbst.« Ich trete einen Schritt nach hinten und fahre mit den Händen über den kostbaren Thron. »Der erste Herrscher bestieg den Thron, als eine Gruppe Maji ihre Gabe missbrauchte. Sie verloren ihre Fähigkeit, Magie auszuüben, doch durch sie wurde die Monarchie überhaupt erst geschaffen.«
Die Stimmung im Saal ändert sich, ein Gewitter braut sich zusammen. Leises Flüstern kommt auf. Ich höre Fragen nach Mutter.
»Ich habe euch hergebeten, um mit euch ein neues Zeitalter einzuläuten. Es wird eine wahrhaftig neue Ära. Der Niedergang Orïshas ist an diesen Thron gebunden. Unzählige Menschen haben ihm mit ihrem Blut Tribut gezollt.« Es wird unruhig. Ich hebe meine Stimme. »Ich beabsichtige, die Angelegenheiten dieses Königreichs in Ordnung zu bringen. Und danach werde ich diese Institution ein für alle Mal abschaffen.«
Einzelne Gäste stürzen zur Bühne. Verwirrte Wachleute halten sie in Schach.
»Nichts da!«, ruft ein Adeliger.
»Die Maden haben dir wohl das Gehirn gewaschen!«
»Bitte!« Ich hebe die Hände. »Ich weiß, dass ihr Angst habt, aber ihr werdet irgendwann einsehen, dass es das Beste ist. Wenn alle mitmachen, können wir etwas aufbauen, das besser ist als die Monarchie. Eine Regierungsform, die den wunderbaren Menschen in diesen Landen dient …«
Ein Brüllen lässt uns erstarren.
Es klingt nicht wie eine Explosion.
Eher wie eine Löwenesse.
Sirenen ertönen, Bomben explodieren in Regenbogenfarben. Ich entdecke ein Loch im Verteidigungswall um Lagos. Mit großen Augen wird es mir klar: Die Ältesten sind da …
Sie sind wegen der Menschen hier, die wir gefangen genommen haben.
»Lauft!«, rufe ich. »Raus hier, sofort!«
Im Saal bricht Panik aus, die Gäste schubsen und drängen Richtung Ausgang. Weinkelche fallen klirrend auf den Marmorboden, Tische werden umgeworfen.
»Bringt euch in Sicherheit!«, schreie ich. »Die Iyika kommen …«
Die Fenster des Thronsaals zersplittern. Schreie gellen durch die Nacht.