Prolog
Sie wusste nicht, was sie empfinden sollte, und war selbst überrascht, wie nah ihr das alles ging. Trotz des warmen langen Mantels mit dem edlen Pelzbesatz fror sie erbärmlich, Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper.
Er war tot, und so wenig aufrichtige Gefühle sie ihm zu Lebzeiten entgegengebracht hatte, so schwer fiel es ihr nun, damit umzugehen, dass er gestorben war. Es war eigenartig, denn sie fühlte sich auf eine Art und Weise verloren, die sie nie zuvor gekannt hatte.
Vor allem aber hatte sie Angst. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, weshalb oder wovor sie sich fürchtete, doch es war wie ein Knoten, der ihr die Brust zuschnürte und sie nach Atem ringen ließ. Kurz schloss sie die Augen, krampfhaft um Fassung bemüht, als der Sarg langsam in die Grube hinab­gelassen wurde. Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern, und sie presste ihr Stofftaschentuch vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie musste sich zusammennehmen, die Contenance wahren. Was würde August wohl von ihr denken, wenn er sie jetzt so sähe? Das war nicht die Frau, die er geheiratet hatte. Aber nein, er konnte sie nicht sehen, nie mehr. Er war tot und wurde nun begraben, gleich würde man Erde auf den Sarg schaufeln, der seinen kalten Körper dann in endloser Dunkelheit umschloss. Der Gedanke daran ließ sie einmal mehr schaudern.
Sie hörte die Worte des Pastors, doch drang deren Sinn nicht zu ihr durch. Ihre Gedanken waren ganz bei August, dem Mann, den sie erst vor knapp einem Jahr geheiratet hatte. Es war nicht aus überschwänglicher Liebe geschehen oder weil sie sich gewünscht hätte, seinen Namen zu tragen. Nein, es war Kalkül gewesen – weil genau dies ihrem Wesen entsprach. Sie hatte schon immer gewusst, was sie wollte, und bis auf ein einziges Mal mit ihrem Urteil über ihre Mitmenschen immer richtiggelegen. Tatsächlich hatte sie ihren ersten Ehemann Robert unter-, seinen Bruder Georg hingegen überschätzt. Noch immer wusste sie nicht, wie sie sich so sehr hatte täuschen können, war doch Georg stets der Ruhigere und ihrer Einschätzung nach die bessere Partie gewesen. Deshalb hatte sie auch nicht gezögert, eine Affäre mit ihm zu beginnen – in dem Glauben, an Georgs Seite wesentlich mehr erreichen und womöglich das Kontor der Familie Hansen vollständig übernehmen zu können. Dass sich alles vollkommen anders entwickelt und diese Affäre ihren finanziellen und gesellschaftlichen Absturz zur Folge gehabt hatte, hatte sie geradezu entsetzt. Eine Weile hatte sie mit Georg in einer schrecklich kleinen, heruntergekommenen Wohnung hausen müssen. Schon beim Gedanken daran konnte sie heute nur den Kopf schütteln.
Es war ein Glück für sie gewesen, dass sich schon bald die Affäre mit August Frederiksen ergeben hatte – und ein noch größeres Glück, dass er sie sogar geheiratet hatte. Diesmal hatte Elisabeth genau gewusst, was sie tat, und alles war so gekommen, wie sie es geplant hatte. Schließlich war es abzusehen gewesen, dass ein Mann, der ihr Vater hätte sein können, in nicht allzu ferner Zukunft das Zeitliche segnen würde. Doch nun, da er tatsächlich gestorben war, spürte sie auf eine beklemmende Weise, wie gern sie diesen Mann gehabt hatte, und wusste mit ihren Gefühlen nicht umzugehen.
Was war es, was sie beide verbunden hatte und ihr zu seinen Lebzeiten entgangen war? Bilder von August entstanden in rascher Folge vor ihrem geistigen Auge. War es Liebe gewesen? Vor allem, so erkannte Elisabeth, war es eine ehrliche Beziehung gewesen, denn sie hatte August nichts vormachen müssen. Er wusste, welche Art Frau sie war, und doch hatte er sich auf sie eingelassen. Ihm hatte sie nichts vorspielen und sich nicht verstellen müssen. Außer vielleicht im Schlafzimmer, doch das war auch bei Robert und Georg nicht anders gewesen.
Elisabeth fuhr zusammen, als der Sarg mit einem Rumpeln am Grund der Grube aufsetzte. Die Träger warfen die Seile, mit denen sie ihn hinabgelassen hatten, in die Grube, und der Pastor sprach noch ein paar Worte. Dann trat Elisabeth vor und warf die rote Rose, die sie die ganze Zeit in ihren zitternden Händen gehalten hatte, in das Grab hinab, flüsterte einen letzten Gruß und stellte sich an die Seite. Die anderen Trauergäste traten einer nach dem anderen vor, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Viele waren nicht gekommen, genau genommen, nur diejenigen, die in seinem engsten Umfeld für ihn gearbeitet hatten. Sie kondolierten der Witwe, und manch einem stand die unausgesprochene Frage ins Gesicht geschrieben, ob sie wohl die Geschäfte ihres Mannes fortführen würde und die Mitarbeiter weiterhin eine Anstellung hätten.
Elisabeths Miene blieb unbewegt. Sie wusste selbst noch nicht, wie es nun weitergehen sollte. Vermutlich wäre es nicht besonders schwierig, Augusts Firma zu verkaufen und eine hübsche Summe dabei herauszuschlagen, die bis an ihr Lebensende reichen würde. Hinzu kamen noch die Villa, in der sie gemeinsam gelebt hatten, sowie zwei weitere Häuser, die August vermietet hatte.
Noch vor einigen Jahren hätte ihr das alles gereicht, um ein Leben nach ihrem Geschmack zu führen. Doch es hatte sich etwas verändert. Während früher für Elisabeth schlicht das Geld gezählt hatte, spürte sie nun, wie sehr sie in ihrer früheren Ehe die Gesellschaften an Roberts Seite genossen hatte und wie wichtig es ihr war, nicht nur die schönsten und elegantesten Kleider zu tragen, sondern auch die neidischen Blicke der vornehmen Damen zu spüren. Ganz abgesehen von den Blicken der Herren, die stets voller Bewunderung waren. Während ihrer Ehe mit Robert hatte sie nicht darüber nachgedacht, welchen Stellenwert all dies für sie hatte. Es war selbstverständlich gewesen. Doch da sie trotz ihrer Eheschließung mit einem der reichsten Männer Hamburgs nicht das gesellschaftliche Ansehen hatte zurückgewinnen können, hatten sich ihre Zielsetzung und ihre Motivation geändert. Sie wollte mehr als nur das Geld. Sie wollte wahrgenommen und anerkannt werden. Und wenn es schon nicht aus Bewunderung geschah, dann aus Furcht, ihr Missfallen könnte sich negativ für denjenigen auswirken, der bei ihr in Ungnade gefallen war.
Vor allem aber war sie noch immer nicht fertig mit der Familie Hansen. Mit ihren Töchtern Martha und Luise hatte sie keinerlei Kontakt. Gewiss hatte sie ihn auch nicht aktiv gesucht, doch sie fand, dass es an ihren Töchtern gewesen wäre, ihr die Hand zur Versöhnung zu reichen. Was die beiden auch von ihr denken mochten, sie war schließlich ihre Mutter und verdiente somit Respekt.
Insbesondere mit ihrem früheren Ehemann Robert Hansen hatte sie noch eine Rechnung offen. Keine Sekunde hatte er um sie gekämpft, sondern sie mit Schimpf und Schande zusammen mit seinem Bruder Georg, ihrem damaligen Geliebten, aus dem Haus gejagt. Seinem Bruder hatte er verziehen. Wie Elisabeth erfahren hatte, war Georg irgendwann wieder in die Hansen’sche Villa eingezogen und im letzten Jahr, nach dem Tod des gemeinsamen Bruders Karl, nach Wien gegangen, wo er nun das dortige Kontor leitete. Dies hatte sie eher nebenbei in den letzten Wochen und Monaten von August erfahren. Woran Karl gestorben war, wusste sie bis heute nicht. Doch sie bedauerte es auch nicht. Für sie war Karl immer ein Weichling gewesen. Der Gleichmut dieses Mannes, der stets um ein friedliches Miteinander bemüht war, stand im Gegensatz zu allem, was sie an einem Mann attraktiv fand. Zwar hätte sie ihm nicht den Tod gewünscht, doch im Grunde war es ihr einerlei. Was sie jedoch maßlos ärgerte, war, dass sie von vielen Ereignissen nur durch Gerüchte und aus zweiter Hand erfahren hatte.
Wenn sie Robert wirklich schaden wollte, musste sie das schwächste Mitglied der Familie ausmachen und ihm einen Anreiz bieten, es zu unterstützen. Bei diesem Gedanken erschien ein Gesicht vor ihrem inneren Auge, und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen.
Der Buchhalter ihres verstorbenen Mannes, der ihr in diesem Moment die Hand zum Kondolieren reichte, deutete es offenbar als Freundlichkeit ihm gegenüber und erwiderte das Lächeln. Dann machte er Platz für die letzten Trauergäste, die der Witwe ihr Beileid bekunden wollten.
Nicht einmal zwanzig Minuten später saß Elisabeth in der Kutsche und ließ sich zur Villa zurückfahren. Wieder lächelte sie maliziös. Ja, sie hatte einen Plan gefasst. Nun wusste sie, was zu tun war.