1. Kapitel
Kamerun, Freitag, 29. März 1895
Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Langsam, ganz langsam fuhr das Schiff in die Bucht und an den Anleger heran. Geschickt verstand es der Kapitän, den Abstand genau richtig abzuschätzen, sodass das Schiff der Woermann-Linie längsseits sanft gegen den Anleger glitt, ohne dass eine Erschütterung zu spüren war. Ein junger Bootsmann warf einem der schwarzen Männer, die auf dem Anleger bereitstanden, ein Tau zu, das dieser auffing und um einen Holzpflock band, der am Ende des Anlegers aufragte. Dann fing er ein weiteres Tau und befestigte es an dem anderen Pflock.
»Komm.« Franz zerrte an Thereses Hand. »Wir sind da. Komm, lass uns gehen.« Er versuchte, sie mitzuziehen.
»Warte noch, Franz. Es wird erst noch eine Planke ausgelegt«, mahnte Therese, doch das Argument schien für ihren Sohn nicht zu zählen.
»Aber wir können uns doch schon ganz vorne hinstellen«, bettelte er.
»Franz«, mahnte Therese, nun etwas strenger. »Du wartest jetzt bitte, hörst du?«
Lieselotte Heemsen, die mit ihren beiden King-Charles-Spaniels neben Therese und den Kindern gestanden hatte, während das Schiff einlief, legte ihr in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf den Unterarm. »Lass uns doch schon ein Stück weiter Richtung Ausstieg gehen«, schlug sie vor, was Franz ihr mit einem schelmischen Lächeln dankte.
Lieselotte und Therese hatten sich während der gut dreieinhalbwöchigen Fahrt von Calais nach Kamerun angefreundet. Für Therese war es eine reine Freude, den Erzählungen Lieselottes über das Leben und ihre Erfahrungen in Kamerun zu lauschen, und sie war froh, schon jetzt eine erste Freundin dort zu haben. So hatte Therese erstmals aus der Sicht einer anderen Person als Robert etwas über das Leben auf dem fremden Kontinent erfahren. Und es waren nicht nur romantische Geschichten von einer exotischen Welt. Lieselotte Heemsen hatte auch von der politischen Lage und den Schwierigkeiten berichtet, die die Kolonialisierung Afrikas mit sich brachten. Denn bei all dem Wunderbaren, das Kamerun zu bieten hatte, durfte man keinesfalls die Spannungen außer Acht lassen, die sich durch das Zusammenleben der Europäer mit den Einheimischen ergaben. Einiges habe sich in den vergangenen Jahren schon geändert, doch das sei, wie Lieselotte Heemsen meinte, deren Ehemann Oberleutnant beim Militär war, längst nicht genug. Die Deutschen hätten – genau wie die Franzosen, Engländer und Belgier – einsehen müssen, dass bei einem zu strengen Umgang mit den Einheimischen mehr Schlechtes als Gutes herauskam.
Am 1. Januar dieses Jahres hatte Jesko von Puttkamer die Geschäfte des Gouverneurs in Kamerun übernommen. Ob er sich als guter Mann in dieser Führungsposition erweisen würde, war abzuwarten. In jedem Fall würde er wohl besser geeignet sein als sein Vorgänger Eugen von Zimmerer, dem der Vorwurf anhing, seinen Stellvertreter Leist, der für den
Dahomey-Aufstand mit vielen Toten auf beiden Seiten verantwortlich war, nicht zur Räson gebracht zu haben. Er hätte eingreifen müssen, so die allgemeine Haltung. Viel schwerer jedoch als diese Verfehlung wog offenbar, so munkelte man, die Tatsache, dass Eugen von Zimmerer keinen großen Wert auf Expansion gelegt hatte und die Kolonie nicht wirklich voranzubringen vermochte. Der neue Gouverneur von Puttkamer hatte weit größere Ambitionen und Ziele. Er wollte nicht nur die Küste, sondern auch das Landesinnere für das Deutsche Reich erobern. Es blieb abzuwarten, auf welche Art er dies durchzusetzen gedachte.
Therese hatte Lieselottes Ausführungen mit Interesse verfolgt und auch immer wieder Verständnisfragen gestellt. Sie war ein wenig unsicher, weil sie deutlich spürte, viel zu wenig über die Menschen und das Land zu wissen, in dem sie plante, künftig ihr Leben zu verbringen. Doch sie vertraute darauf, nach und nach alles zu erfahren, was sie wissen musste, und hoffte insbesondere auf Roberts Unterstützung, damit sie und die Kinder sich rasch einleben konnten.
Ihr war der Umgang mit Menschen noch nie schwergefallen. Ganz im Gegenteil: Sie hatte es immer als Bereicherung empfunden, neue Menschen kennenzulernen, und freute sich auf all das, was vor ihr lag. Vor allem aber war sie sicher, dass es ihr nicht schwerfallen würde, die Menschen in Kamerun zu mögen, von denen Robert ihr so viel Wunderbares berichtet hatte. Sie hielt es wie er: Ihr war gleichgültig, welche Hautfarbe ein Mensch hatte. Was zählte, war sein Wesen, und Therese kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass sie genau dies in einem Menschen zu erkennen vermochte – ob er nun schwarz oder weiß war.
»Sieh nur, Mama, sieh nur!«, rief Franz aufgeregt und deutete auf die Planke, die in diesem Moment vom Schiff auf den Anleger geschoben wurde.
»Ja, mein Schatz, ich sehe es.« Therese, die die kleine Helene auf dem Arm trug, folgte ihrem Sohn, der nun vorauslief, um möglichst als einer der Ersten den Ausstieg zu erreichen. »Nicht so schnell«, mahnte sie abermals und drehte sich zu Lieselotte um, die ihr mit ihren Hunden lächelnd folgte.
Zusammen erreichten sie die Reling, an der sich rechts und links bereits einige Fahrgäste postiert hatten, um das Schiff zu verlassen.
»Nicht drängeln, Franz«, mahnte Therese nun und griff nach dem Arm ihres Sohnes, worauf dieser mit einem enttäuschten Blick reagierte.
»Vorsicht, meine Herrschaften!«, sagte nun der Matrose, der die Planke auf der Schiffsseite sicherte. »Einen Moment bitte noch.«
Franz versuchte abermals, sich weiter nach vorn zu arbeiten, doch Therese hielt ihn zurück. »Du wirst jetzt genau hier stehen bleiben und warten, junger Mann.« Die Art, wie sie es gesagt hatte, machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. Franz sah zu seiner Mutter auf, seine Wangen glühten vor lauter Aufregung.
Es dauerte noch einen Moment, bis der Ausstieg frei gemacht wurde. Dann gingen die Ersten von Bord. Therese hielt Franz fest an der Hand, damit dieser nur nicht zu nah an das Geländer kam und womöglich ins Wasser fiel. Kurz bewegte sich die Planke ein wenig, und sofort fasste Therese noch einmal fester nach, lockerte den Griff aber sofort wieder, um Franz nicht womöglich aus übertriebener Fürsorge wehzutun. Ihre Anspannung ließ nach, als sie festen Boden auf dem Anleger erreichten.
»Darf ich dort hinauflaufen und sehen, was das für Hütten sind?«, rief Franz.
»Nein«, entgegnete Therese. »Du bleibst hier bei mir. Wir müssen noch auf unser Gepäck warten.«
»In der Zwischenzeit werde ich den Transport organisieren«, bot Lieselotte Heemsen an. »Dann geht es gleich etwas rascher.«
»Ich danke dir.« Therese war die Erleichterung über die freundschaftliche Unterstützung anzusehen. Auch wenn sie noch so entspannt sein wollte und sich auf die Begegnung mit Robert, die für ihn eine riesige Überraschung sein würde, freute, fühlte Therese sich in diesem Augenblick doch auch überfordert. Sosehr sie Franz’ Aufregung verstand, es machte die Situation jedoch nicht gerade einfacher. Einen kurzen Moment blitzte der Zweifel auf, ob sie richtig gehandelt hatte, indem sie für sich und die Kinder den Abschied von Wien entschieden und sie damit in eine ganz andere Welt katapultiert hatte. Immerhin riss sie die beiden vollkommen aus ihrer gewohnten Umgebung, und alles, was sie bisher in ihrem kurzen Leben kennengelernt hatten, gehörte mit einem Mal der Vergangenheit an.
Ja, es war der blanke Wahnsinn und das Unüberlegteste, was sie je getan hatte. Mitte Februar erst hatte sie den Brief in Empfang genommen, in dem Robert ihr berichtet hatte, länger als nur einige Wochen oder Monate in Kamerun bleiben zu wollen. Er hatte geschrieben, er habe den Eindruck, dass Männer wie er im Lande gebraucht würden und er sich deshalb zum Bleiben entschieden habe. Und er hatte sie gebeten, an seiner Seite zu leben, als seine Frau. Er wollte Franz und Helene den Vater ersetzen, den sie so früh verloren hatten.
»Ach, da ist ja mein Mann!«, rief nun Lieselotte begeistert, nahm die Hundeleinen in die eine Hand und reckte die andere hoch in die Luft, um auf sich aufmerksam zu machen. »Erich, hier bin ich!«
Der Mann in Uniform, dem sie zugewinkt hatte, beschleunigte seinen Schritt. Als er sich durch die ihm entgegenkommenden Menschen seinen Weg gebahnt und sie fast erreicht
hatte, begannen die Hunde wie wild zu kläffen. Lieselotte konnte sie kaum noch halten und ließ schließlich die Leinen einfach los. Die Spaniels liefen auf ihr Herrchen zu, sprangen vor Freude immer wieder an ihm hoch und kläfften aus vollem Hals.
Oberleutnant Erich Heemsen streichelte die beiden Vierbeiner, fasste deren Leinen und ging dann die letzten Schritte seiner Frau entgegen. Therese war überrascht, mit welcher Herzlichkeit Lieselotte ihren Ehemann begrüßte. Geradezu stürmisch umarmte sie ihn und gab ihm einen Kuss. Einfach so in der Öffentlichkeit, und das bei einem Oberleutnant des Deutschen Reichs. Damit hatte Therese nicht gerechnet. Aber es gefiel ihr, das musste sie zugeben.
»Es ist so schön, dass du wieder da bist«, sagte Erich Heemsen und strahlte seine Frau an.
»Erich, ich möchte dir jemanden vorstellen«, kündigte Lieselotte an. »Das sind Therese Hansen und ihre Kinder Franz und Helene. Therese, das ist mein Ehemann Erich.«
»Es freut mich wirklich sehr, Herr Heemsen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Therese.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Wir Deutschen hier in Kamerun sprechen uns alle beim Vornamen an.«
»Ach, wirklich? Na, das gefällt mir sowieso viel besser. Also: schön, dich kennenzulernen, Erich.«
»Guten Tag«, sagte nun Franz und streckte ihm mit wichtiger Miene die rechte Hand entgegen.
»Guten Tag«, gab Erich zurück, gerührt von dem guten Benehmen des Jungen.
»Du heißt also Hansen?«, wandte er sich nun wieder an Therese. »Ich glaube, dann habe ich deinen Ehemann schon kennengelernt. Robert, nicht wahr?«
»Nun, eigentlich ist er mein Schwager, obwohl …«, versuchte Therese sich an einer Erklärung.
»Er ist ihr Mann, es muss nur noch offiziell gemacht werden«, mischte sich Lieselotte ein. »Aber das erkläre ich dir zu Hause.«
»Ich dachte nur wegen des Nachnamens …«, brachte Erich nun fast entschuldigend hervor.
»Wie gesagt, mehr darüber zu Hause«, stellte Lieselotte klar, die ahnte, dass Therese eine Erklärung über ihre derzeitige Situation alles andere als leichtfiel, nachdem sie während der Überfahrt die ganze Geschichte erfahren hatte. »Könntest du dich bitte darum kümmern, dass ein paar Träger bereitstehen, die Therese mit den Kindern und ihrem Gepäck zur Plantage der Hansens bringen?«
»Natürlich«, bestätigte Erich sogleich. »Das mache ich.« Er warf seiner Frau einen liebevollen Blick zu. »Es ist wirklich schön, dass du wieder daheim bist.« Damit machte er kehrt und ging über den Anleger zurück zum Strand und zu den Hütten, wo sich die Einheimischen aufhielten und auf Aufträge warteten.
Therese war Lieselotte dankbar, dass sie so selbstverständlich geholfen hatte und damit der Transport der Koffer bereits geklärt war. Während der Überfahrt waren Therese kurz Zweifel gekommen, wie sie sich wohl verhalten sollte, wenn zum Beispiel niemand da war, der sie und die Kinder zu Roberts Plantage bringen konnte. Erst da war ihr vollends klar geworden, wie waghalsig, ja geradezu irrwitzig ihre überstürzte Entscheidung war, Wien den Rücken zu kehren und sich auf das Abenteuer Kamerun einzulassen. Zwar war sie immer schon ein spontaner und entscheidungsfreudiger Mensch gewesen. Schon damals, als sie sich entschlossen hatte, das Kaffeehaus zu eröffnen und auf eigenen Beinen zu stehen, ganz ohne Unterstützung ihrer Eltern oder gar eines Ehemannes, war sie ein großes Risiko eingegangen, ohne auch nur einen Augenblick an ihrem Vorhaben zu zweifeln.
Doch inzwischen hatte sich vieles geändert. Sie war Mutter und stand seit dem Tod ihres Ehemannes allein in der Pflicht, für die beiden Kinder zu sorgen. Zwar musste sie sich über die finanzielle Situation keine Gedanken machen – Karl hatte gut vorgesorgt und sie abgesichert. Davon abgesehen brachte das Kaffeehaus genug Geld ein, um nicht nur die Angestellten zu bezahlen, sondern auch selbst gut davon leben zu können. Doch es war die Verantwortung, sämtliche Entscheidungen zum Wohl ihrer Kinder allein treffen zu müssen, die schwer auf ihren Schultern lastete.
Und auch wenn sie es sich nicht gern eingestand, so war der Entschluss, nach Kamerun zu gehen und dort an Roberts Seite zu leben, auch eine kleine Flucht für sie gewesen. Denn eines wusste sie, seit sie die Tage in der Hamburger Villa und in Roberts Gesellschaft verbracht hatte: Sie wollte nicht allein sein. Es hatte ihr gutgetan, wieder etwas zu unternehmen. Sie hatte die Zeit so sehr genossen, ebenso die Gespräche. Vor allem aber war das Gefühl, nicht allein für die Kinder verantwortlich zu sein, eine unglaubliche Erleichterung für Therese gewesen. Sie hatte Robert und Franz beim Spielen zugesehen und beobachtet, wie gut es ihrem Sohn tat, in seinem Onkel einen möglichen Vaterersatz zu haben.
Sie hatte sich vor ihrer Entscheidung für Kamerun sogar gefragt, ob sie die Auswanderung wirklich nur aus tiefer Verbundenheit, ja aus Liebe zu Robert in Erwägung zog, oder ob sie damit ihren Kindern auch einen neuen Vater geben wollte. Viele Nächte hatte sie wach gelegen und über die wahren Beweggründe gegrübelt, war dann aber zu ihrer eigenen Erleichterung zu dem Schluss gekommen, dass sie sich ehrlich und aufrichtig in Robert verliebt hatte. Auch wenn der Tod ihres Mannes noch kein Jahr her war und sie es damals für unmöglich gehalten hatte, sich überhaupt je wieder verlieben zu können, war es dennoch geschehen. Noch immer
schwankte sie zwischen dem schlechten Gewissen wegen ihres verstorbenen Mannes und der Euphorie, die die frisch erblühten Gefühle für Robert mit sich brachten. Letztendlich, das wusste sie, würde nur die Zeit zeigen, wie sich alles mit Robert entwickelte.
Eines wusste sie sehr genau: Seit langen Monaten war sie endlich wieder glücklich und wollte sich all dem stellen, was sich ihr an Herausforderungen bot. Und sie wollte, dass auch ihre Kinder wieder glücklich waren und dass sie die Trauer und Einsamkeit, die nach Karls Tod Einzug in die Familie gehalten hatten, abschütteln und von vorn beginnen konnten. Genau hier, in diesem fernen Land, so weit weg von Wien und allem, was sie dort kannten und liebten.
»Lass uns dort zum Ufer gehen«, bat Lieselotte. »Es wird noch ein wenig dauern, bis eure Koffer ausgeladen werden. Und hier am Anleger stehen wir nur im Weg.«
Therese nickte, setzte Helene von ihrem rechten Arm auf den linken, griff nach Franz’ Hand und folgte Lieselotte den Anleger entlang. Die warme Luft umhüllte sie, und mit jedem Schritt wurde ihr in ihrem langen Kleid wärmer und wärmer. »Es ist ziemlich heiß, nicht wahr?«
Lieselotte lachte auf. »Man gewöhnt sich recht rasch an das Klima. Der wirkliche Nachteil daran ist, dass man ständig friert, wenn man wieder einmal in die alte Heimat reist. Ich konnte es gar nicht abwarten, nach Kamerun zurückzukehren. Seit ich das Leben hier kennengelernt habe, fühle ich mich an keinem anderen Fleck der Erde wirklich wohl.«
Therese lächelte und hoffte insgeheim, dass es ihr genauso ergehen und sie schon bald dieses Land als ihre Heimat ansehen möge.
Langsam spazierten sie über den Anleger. Die knapp dreijährige Helene schien auf Thereses Arm immer schwerer zu werden. Sie setzte die Kleine ab und nahm sie an die andere
Hand, sodass nun Franz links und Helene rechts von ihr gingen.
Lieselotte hatte ein wenig Mühe, ihre Hunde so weit zu bändigen, dass sie sich den langsamen Schritten Thereses anpassen konnte. Helene lief zwar inzwischen allein recht sicher, doch bereitete der Kleinen der etwas holprige Untergrund des Anlegers einige Mühe. Schließlich erreichten sie das Ende, und Therese ließ Franz los, da nun nicht mehr die Gefahr bestand, er könnte leichtsinnig zu nah ans Wasser gehen und hineinfallen.
Schon kam ihnen Erich Heemsen wieder entgegen.
»Es steht eine Trage für euch bereit und eine zweite für das Gepäck«, erklärte er. »Natürlich auch eine dritte, solltet ihr noch eine benötigen.«
»Danke schön«, sagte Therese. »Tatsächlich habe ich nicht gerade wenig mitgenommen. Dabei habe ich den Eindruck, für die Kinder viel mehr eingepackt zu haben als für mich.«
»Wenn du möchtest, begleiten wir dich bis zur Hansen-Plantage«, bot Erich an. »So groß ist der Umweg für uns gar nicht.«
Therese zögerte. Gern hätte sie das Angebot des Oberleutnants angenommen, schon aus dem unsicheren Gefühl heraus, sich ansonsten vollkommen in die Hände Fremder zu begeben. Andererseits hatte sie bei ihrem Aufbruch nicht darauf hoffen können, sofort nach der Ankunft Unterstützung zu finden, und sie wollte die Heemsens nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Ganz abgesehen davon, dass sie sich schon die ganze Zeit ausgemalt hatte, was für ein Gesicht Robert wohl machen würde, wenn sie mit den Kindern plötzlich vor ihm stünde. Sie tastete nach dem Brief, in dem Robert sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle. Sie hatte ihm nicht zurückgeschrieben, denn die Antwort wollte sie ihm nun persönlich überbringen. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Nein, das ist nicht nötig, herzlichen Dank für alles«, lehnte Therese nun Erichs Angebot ab. »Bestimmt werden die Träger uns sicher zur Plantage bringen.«
»Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen«, bekräftigte der Oberleutnant. »Ich habe die Menschen hier stets als sehr hilfsbereit und zuverlässig kennengelernt, auch wenn es viele gibt, die anderes behaupten. Die Träger kennen ihren Auftrag und werden ihn erfüllen. Du kannst dich darauf verlassen.«
»Danke.« Therese nickte ihm zu, dann wandte sie sich an Lieselotte. »Wird es denn Gelegenheiten geben, bei denen wir uns sehen?«
»Aber ja! Jeden Sonntag treffen sich die Deutschen zum Gottesdienst und bleiben danach noch eine Weile zusammen, um miteinander zu plaudern und sich über die allgemeine Lage auszutauschen. Dein künftiger Ehemann wird dir alles erklären. Ich freue mich schon jetzt darauf, ihn kennenzulernen.«
»Dann sehen wir uns ja schon in zwei Tagen wieder!«, stellte Therese fest. »Wie wunderbar.«
Lieselotte reichte Therese die Hand, zog sie dann aber kurz an sich. »Es ist mir eine solche Freude, dass wir uns kennengelernt haben. Ganz sicher werden wir uns oft sehen. Ihr müsst uns unbedingt schon bald auf unserem Stützpunkt besuchen.«
»Von Herzen gern«, stimmte Therese zu und erwiderte die Umarmung. Dann reichte sie Erich die Hand, um sich auch von ihm zu verabschieden.
»Dann alles Gute, Therese.« Er sah zu Franz hinab. »Und du, kleiner Mann, passt gut auf deine Mutter auf, ja?«
»Ja, mein Herr, das werde ich«, gab Franz eifrig zurück, was Erich zum Lächeln brachte. Die Heemsens winkten den Kindern und Therese noch zu, dann gingen sie die kleine Anhöhe hinauf, und Erich half Lieselotte in die bereitstehende Trage. Er selbst stieg auf ein Pferd, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
Kurz fragte Therese sich, ob die neu gewonnene Freundin gar kein Gepäck bei sich gehabt hatte, und wollte ihnen schon nachrufen, ob sie womöglich etwas vergessen hätten. Dann fiel Therese jedoch ein, dass der Oberleutnant vermutlich bereits jemanden mit dem Heimtransport der Sachen beauftragt hatte, so organisiert, wie hier alles schien. Therese freute sich schon jetzt darauf, wenn sie eines Tages den Punkt erreicht hätte, an dem ihr alles hier vertraut war und sie genau über alle Abläufe Bescheid wusste.
»Kommt«, sagte sie nun zu den Kindern. »Wir gehen dort nach oben und setzen uns, bis unser Gepäck verladen wird.«
»Wo ist Onkel Robert?«, fragte Franz.
»Na, auf seiner Plantage.«
»Und warum holt er uns nicht ab, wie der Mann von Frau Heemsen?«
»Weil es doch eine Überraschung ist und Robert überhaupt keine Ahnung hat, dass wir kommen. Das habe ich dir doch erklärt.«
Franz schien sich zu erinnern. »Aber ich hätte es schöner gefunden, er hätte uns abgeholt«, meinte er dann, folgte aber artig seiner Mutter und nahm, oben angelangt, neben ihr auf dem Holzstamm Platz. Wieder warten zu müssen, bis es endlich so weit war und sie den Rest des Weges zurücklegen konnten, entsprach so gar nicht dem, was er sich vorstellte. Doch er wollte nichts mehr sagen, um seine Mutter nicht zu verärgern. Aber es forderte ihm einiges an Geduld ab, bis endlich die Koffer hergetragen und zum Weitertransport bereit waren. Franz seufzte. Er war müde und hatte Hunger. Ob es hier wohl auch Schnitzel gab, die er so gern aß? Das musste er seinen Onkel Robert gleich als Erstes fragen.
Über diesem Gedanken sinnierte er noch, als sie bereits in der Trage Platz genommen hatten und er, eng an seine Mutter gekuschelt, eine bequeme Sitzposition gefunden hatte. Kurz
darauf fielen ihm bereits die Augen zu, er öffnete sie erst wieder, als seine Mutter ihn sanft an der Schulter berührte.
»Franz, mein Schatz, wir sind da«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er blinzelte und brauchte einen Moment zum Wachwerden. Dann erst nahm er das weiße Steinhaus mit den flachen Anbauten, den drei Erkern und der Holzveranda wahr. Ja, so hatte er sich das vorgestellt.
Sie waren angekommen.