2. Kapitel
Wien, Freitag, 29. März 1895
Wenn alles gut gegangen war, würden sie heute oder morgen in Kamerun ankommen. Georg seufzte schwer. Er hoffte inständig, dass Therese und die Kinder wohlauf waren und die Überfahrt gut überstanden hatten. Doch der Gedanke, dass sie womöglich für immer in Afrika bleiben würden, zerriss ihm fast das Herz. Immer wieder hatte er sich seit Thereses Ankündigung, mindestens für eine Weile Wien den Rücken zu kehren und zu Robert nach Kamerun zu gehen, gefragt, ob er etwas hätte sagen sollen. Wäre es richtig gewesen, seiner Schwägerin zu gestehen, dass er Gefühle für sie hatte? Bevor er von ihren Plänen erfuhr, hatte er sich diese Frage gar nicht gestellt. Sie war die Witwe seines Bruders Karl, dessen Tod noch nicht einmal ein Jahr her war. Aus Pietät hatte er seine Gefühle für sich behalten. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass Therese und Robert Gefühle füreinander entwickeln könnten. Vor allem aber empörte ihn, wie kurz nach Karls Tod Robert die Initiative ergriffen hatte.
Doch wusste Georg, dass er kein Recht hatte, so zu denken oder gar zu urteilen. Robert war geschieden, Therese verwitwet. Er selbst war hingegen verheiratet, doch er hatte bereits vor langer Zeit erkannt, dass es ein Fehler gewesen war, die Beziehung mit Vera nach seinem damaligen Ehebruch wieder aufzunehmen. Zwar war seine Ehefrau früher schon oft recht mürrisch gewesen, aber nach der Trennung und der anschließenden Versöhnung war es immer schlimmer geworden. Ja, sie war geradezu bösartig und hatte sich sogar mit der gemeinsamen Tochter Frederike überworfen. Vera tat den ganzen Tag nichts anderes, als zu Hause zu sitzen und Häkelarbeiten anzufertigen. Georg konnte diese verfluchten Deckchen, Untersetzer, Schals und den ganzen anderen Plunder nicht mehr sehen. Hinzu kam, dass Vera, seit Georg und sie in Wien waren, einiges zugenommen hatte. Anfangs hatte er es gar nicht wirklich bemerkt, doch nun war es unübersehbar. Selbst die Holzlehnen des Sessels, in dem sie immer saß, knarrten bereits bedenklich, wenn Vera sich hineinzwängte, und er hatte sich einen Kommentar, als seine Frau sich über das Knarren des Möbelstücks beklagt hatte, gerade noch verkneifen können.
Als Georg seiner Ehefrau mitgeteilt hatte, dass Therese mit den Kindern nach Kamerun gehen werde, hatte er bemerkt, dass ein Lächeln über ihre Lippen huschte. Er wusste nicht, ob Vera von seinen Gefühlen für die Schwägerin etwas ahnte und deshalb so reagierte. Soweit er es beurteilen konnte, war ihm nie anzumerken gewesen, welche Gefühle er Therese entgegenbrachte. Nur dass Vera eine offensichtliche Abneigung gegen die Schwägerin entwickelt hatte, war ihm nicht entgangen. Vermutlich war sie einfach neidisch, dass Therese trotz der Schicksalsschläge, die das Leben ihr beschert hatte, selbstständig ihr Kaffeehaus führte und sich um die Kinder kümmerte, um ihnen Mutter und Vater zugleich zu sein.
Georg wandte sich seinem Angestellten zu. »Felix, ich gehe nach hinten ins Lager und sortiere die neue Ware ein.«
»Ich kann das wirklich gern erledigen«, bot Felix wie so oft an, obwohl er bereits ahnte, dass sein Chef das Angebot – wie immer – ablehnen würde.
»Nein, lass nur. Bleib du hier vorn und kümmere dich um die Kunden.«
Genau in diesem Moment klingelte das kleine Glöckchen über der Tür und kündigte das Eintreten einer Kundin an.
»Grüß Gott, Frau Riebnagel«, sagte Georg freundlich zu der Frau, die soeben das Kontor betreten hatte.
»Grüß Gott, Herr Hansen«, erwiderte sie, wandte sich dann aber ganz selbstverständlich an Felix. »Dieselben Kaffeebohnen wie das letzte Mal bitte, aber dieses Mal eine große Packung. Mein Mann will gar nichts anderes mehr trinken.«
Georg verabschiedete sich höflich und ging nach hinten ins Lager. So war es immer: Die Kunden und Kundinnen grüßten ihn, wollten aber lieber von Felix bedient werden, der schon bei Georgs verstorbenem Bruder Karl angestellt gewesen war und Seite an Seite mit diesem hinter dem Verkaufstresen gestanden hatte. Und auch wenn die Menschen wussten, dass Georg nun der Geschäftsführer war, schienen sie doch die Erinnerung an Karl aufrechterhalten zu wollen und nahmen Georg nur als Ersatz wahr. Doch das war ihm einerlei.
Viel mehr beschäftigte ihn das Fortgehen Thereses und sein vermeintlicher Fehler, ihr seine Gefühle nicht gestanden zu haben. Doch was hätte es schon genützt? Er kannte Therese. Solange er verheiratet war, hätte sie ihn als Mann gewiss nicht eine Sekunde lang in Erwägung gezogen. Dafür war sie viel zu ehrlich und loyal. Doch was verband Therese mit Robert? Liebe? Georg ballte die Hand zur Faust. Er hatte gezögert und musste nun damit leben, dass sie gegangen war.
So schwer es ihm auch fiel, er würde keinesfalls etwas tun, was das Verhältnis zu seinem Bruder abermals in Gefahr bringen würde, Robert hatte ihm verziehen, dass er sich damals mit Elisabeth eingelassen und eine folgenreiche Affäre begonnen hatte. Er hatte ihn wieder in die Firma und die Villa in Hamburg zurückgeholt und damit mehr Großmut bewiesen, als Georg sich selbst und den meisten anderen Menschen, die er kannte, zutrauen würde. Wäre Karl nicht gestorben und dadurch die Besetzung des Kontors in Wien notwendig geworden, würde er mit Gewissheit auch jetzt noch in Hamburg leben und arbeiten.
Georg griff einen der Säcke, klemmte ihn sich unter den Arm und kletterte damit die Leiter hinauf. Er wollte die Wut nicht zulassen, die bei dem Gedanken an Robert und Therese als Paar in ihm aufwallte. Wieso nur hatte er sich nun schon zum zweiten Mal ausgerechnet in die Frau verliebt, mit der sein Bruder verbunden war? Verdammt noch mal! Er hob den Sack über seinen Kopf und warf ihn mit Schwung in das obere Regalfach.
»Fall da nur nicht herunter!«
Georg drehte sich abrupt um.
»Um Himmels willen, ich wollte dich nicht erschrecken, bitte entschuldige!«, rief Frederike sofort, die, ohne dass Georg es bemerkt hätte, ins Lager getreten war.
»Frederike!« Georg kletterte die Leiter herab. »Wenn du nicht schon bald dein Erbe antreten möchtest, hör lieber auf, mich so zu erschrecken, wenn ich auf einer Leiter stehe.«
Frederike lachte auf, machte noch einen Schritt auf ihren Vater zu und hauchte einen Kuss auf seine Wange.
»Oh«, machte Georg. »Wofür war der denn?«
»Na, ich werde doch meinen Vater richtig begrüßen dürfen!«
»Ja, das schon.« Georg musterte sie. »Aber wenn du so ein breites Lächeln im Gesicht hast und derart überschwänglich bist, dann hast du mir etwas zu erzählen, und zwar etwas Gutes.«
»Ja, das stimmt.« Frederike griff glücklich nach seinen Händen. »Wir haben einen Termin für die Hochzeit festgelegt.« Sie strahlte ihren Vater an.
»Das wurde aber auch Zeit«, fand Georg und sah sie erwartungsvoll an. »Und? Verrätst du mir auch, wann der Termin ist?«
Frederike bekam das Grinsen nicht aus dem Gesicht. »Am sechsten Juli.«
»So bald schon!« Georg öffnete seine Arme, und Frederike drückte sich glückselig an ihren Vater. »Ich freue mich so für dich, mein Mädchen. Und für Anton natürlich auch«, fügte er rasch hinzu, löste sich aus der Umarmung und suchte ihren Blick. »Doch mehr noch freue ich mich für dich. Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst, und zwar jeden einzelnen Tag deines Lebens!«
»Danke, Vater.« Frederike traten Tränen in die Augen. Früher hatte sie ihren Vater nie als einen so herzlichen Menschen erlebt. Vielmehr war er stets zurückhaltend, ja geradezu distanziert gewesen.
Sie hatte lange gebraucht, ihm die Affäre mit Elisabeth zu verzeihen, die zur Trennung ihrer Eltern geführt und auch ihre eigenen Pläne zerstört hatte, weil sie von einem Tag auf den anderen als seine Tochter nicht mehr gesellschaftsfähig war. Sie hatte weder ihm noch ihrer Mutter je erzählt, dass sie damals in Ludwig Ahrendsen verliebt gewesen war und dieser die Verbindung gelöst hatte, nachdem der Fehltritt und, damit einhergehend, der gesellschaftliche Abstieg ihres Vaters öffentlich geworden waren.
Heute war sie froh darüber, denn es hatte sie reifer werden lassen. Ja, im Nachhinein glaubte sie sogar, dass es das Beste war, was ihr hatte passieren können. Schließlich hätte sie sonst niemals Anton Messinger kennengelernt, den Mann, den sie aufrichtig liebte. Vor allem aber hatte er etwas, das sie bei Ludwig nie entdeckt hatte: einen unvergleichlichen Humor. Anton brachte sie zum Lachen, selbst wenn ihr gar nicht danach zumute war. Und er schaffte es sogar, dass sie ihm niemals wirklich böse sein konnte. Sie wusste, dass er der Richtige für sie war, und freute sich, schon in wenigen Monaten seine Frau zu werden. Und das nicht nur des Ansehens wegen und weil sie es an der Zeit fand, sich einem Mann hinzugeben und so erst richtig zur Frau zu werden. Nein, sie freute sich tatsächlich auf das Leben mit ihm und konnte es kaum erwarten, bis es endlich so weit wäre.
»Habt ihr euch schon nach einer passenden Wohnung umgesehen?«, holte ihr Vater sie aus ihren Gedanken.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Bisher war noch keine Zeit dazu. Anton arbeitet und arbeitet, um mehr Geld zu verdienen, damit er mir etwas bieten kann.«
Georg deutete zu dem Tisch und den vier Stühlen, die im vorderen Bereich des Lagers standen. »Komm, setz dich und lass uns in Ruhe darüber sprechen«, bot er an. »Soll ich Felix bitten, uns einen Kaffee zu machen?«
»Nein, danke. Ich möchte nichts.« Frederike ging hinüber und nahm auf einem der Stühle Platz, während Georg sich ihr gegenüber setzte. »Weißt du«, begann sie, »Anton verdient ja jetzt schon ganz gutes Geld, und mit dem, was ich im Schreibbüro bekomme, könnten wir wunderbar zurechtkommen. Doch das reicht Anton nicht.«
»Wie meinst du, dass es ihm nicht reicht?«
»Nun, er versucht, sich in der Firma unentbehrlich zu machen, und hofft, dass es Florentinus bemerkt und ihn befördert.«
»Aber das ist doch gut. Ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren sollte den Ehrgeiz besitzen, etwas für sich und seine künftige Familie erreichen zu wollen.«
»Das ist es nicht allein«, seufzte Frederike. »Ich glaube, er möchte mir das Leben bieten, das ich in Hamburg an der Seite eines reichen Geschäftsmannes hätte führen können. Zwar ist auch er aus gutem Haus, doch wirklich reich sind seine Eltern nicht.«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man glücklich oder unglücklich im Leben sein kann, ohne dass es etwas damit zu tun hat, ob man reich oder arm ist.«
»Eben. Genauso sehe ich das auch. Doch Anton ist geradezu verbissen, wenn es darum geht, etwas zu erreichen. Und vor allem möchte er die größte und schönste Hochzeit feiern, die man sich nur vorstellen kann.«
»Das kannst du ihm nicht verdenken. Er bekommt ja auch die beste Frau.«
Frederike lächelte ihren Vater an. »Ach, weißt du, ich wäre auch mit viel weniger zufrieden. Wenn wir zusammen sind und es mal nicht um die Arbeit geht, dann ist Anton so heiter und unbeschwert. Wir lachen viel miteinander und genießen es zum Beispiel, an der Wien entlang spazieren zu gehen und dem Wasser beim Fließen zuzusehen. Doch sobald es um die Arbeit geht, verändert Anton sich. Er presst dann immer seine Lippen zusammen und zieht die Stirn in Falten.« Sie zog eine Grimasse und verdrehte die Augen.
»Sei nachsichtig, Frederike. Er ist noch dabei, seinen Weg zu finden. Rede ihm gut zu und unterstütze ihn, statt ihn zurückzuhalten.« Er überlegte einen Moment. »Durch Therese kennst du doch Florentinus auch recht gut. Hast du mal Andeutungen gemacht oder nachgefragt, ob er Antons Einsatz überhaupt schon bemerkt hat?«
Frederike errötete. Sie brauchte nur an Florentinus und dessen schmutziges Geheimnis zu denken, schon stieg Abscheu in ihr auf. »Nein«, erwiderte sie fast schnippisch. »Und das werde ich auch nicht. Ich habe nichts mit Florentinus zu tun und gedenke nicht, etwas daran zu ändern.«
Georg nahm die Veränderung der Tochter verwundert wahr. »Was hast du denn gegen Florentinus?«
»Nichts, gar nichts«, sagte sie hastig. »Es ist nur …« Frederike suchte nach Worten und ärgerte sich über ihre heftige Reaktion. Schon so oft hatte sie sich vorgenommen, ihre Gefühle besser zu beherrschen. Doch die Abscheu über das, was sie damals gesehen hatte, war noch immer so groß, dass es ihr geradezu unmöglich war, Florentinus auch nur mit einem Mindestmaß an Respekt gegenüberzutreten.
»Es ist nur was? « , bohrte Georg nach.
»Ich will einfach nicht, dass es am Ende heißt, Anton hätte nur deshalb eine gute Position erhalten, weil die Schwester seines Chefs mit meinem Onkel verheiratet war.« Es war die erstbeste Erklärung, die ihr auf die Schnelle eingefallen war.
»Eine löbliche Einstellung«, meinte Georg, »doch wirklich klug ist sie nicht.«
»Findest du?«, fragte Frederike, wenngleich es müßig war, das Thema weiter mit ihrem Vater zu diskutieren. Schließlich war es nur eine Ausrede gewesen, weshalb sie den bestehenden Kontakt zu Florentinus nicht zu Antons Vorteil nutzen wollte.
»Nein. Wenn Anton eine höhere berufliche Stellung erlangt, weil er stets länger in der Firma ist und mehr schafft als jeder andere, werden es ihm viele gönnen, sollte er eine bessere Position angeboten bekommen. Doch es wird immer auch die anderen geben, die Neider, denen es vollkommen gleichgültig ist, ob Anton die Beförderung verdient hat oder nicht. Sie werden nur sehen, dass Antons zukünftige Ehefrau die Nichte von Therese Hansen, der Schwester des Chefs, ist. Es wird für diese Leute immer einen kleinen Beigeschmack haben, wenn er eine gute Position erlangt. Antons Leistungen spielen in deren Augen erst in zweiter Linie eine Rolle.« Georg zuckte die Schultern. »Aber die, die seinen Einsatz zu schätzen wissen, Anton mögen und ihn vielleicht sogar für sein Engagement bewundern, werden es ihm gönnen und sagen, dass er die Beförderung wahrlich verdient hat. Ihnen ist egal, in welchem Verhältnis wer zu wem steht. Sie werden anerkennen, dass Antons Aufstieg in der Firma ausschließlich auf seinen Leistungen beruht, und ihn dafür respektieren.« Georg beugte sich weiter über den Tisch. »Wäre es da nicht sinnvoll, wenn du Florentinus einfach einmal auf Antons herausragende Leistungen aufmerksam machst? Und sei es nur, damit ihm nicht entgeht, wie fleißig und engagiert sein Mitarbeiter ist?« Georg zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Frederike brauchte ein wenig Zeit, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie ließ die Worte ihres Vaters nachklingen. War das womöglich wirklich eine Chance, die sie ergreifen sollte – für Anton und für das gemeinsame Glück?
Sie hatte seit dem damaligen Vorfall nie mehr als nur ein paar Worte mit Florentinus gewechselt, und das auch nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Immer hatte sie sich über die Maßen unwohl in seiner Gegenwart gefühlt. Weihnachten hatte sie, da sie wegen des Streits mit ihrer Mutter das Fest lieber nicht zusammen mit ihren Eltern verbringen wollte, die Einladung Thereses angenommen, sie und die Kinder zum Weihnachtsessen bei den Loisings zu begleiten. Natürlich wusste sie, dass Florentinus ebenfalls anwesend sein würde. Sie hatte sich gesagt, dass Florentinus aufgrund der Verwandtschaftsbeziehung immer zu ihrem Leben gehören würde und dass sie einen Weg finden musste, irgendwie damit umzugehen. Vielleicht bot sich ja nun die Gelegenheit, mit all dem, was sie noch immer bedrückte, abzuschließen, wenn sie Florentinus zwanglos auf Anton und dessen Leistungen ansprach. Und wenn das dazu beitrüge, dass Anton die Stelle bekäme, auf die er hinarbeitete, würden alle Seiten davon profitieren, und sie könnte vielleicht einen Schlussstrich unter alles Belastende ziehen.
»Womöglich hast du recht, Vater«, sagte Frederike nun nachdenklich. »Vielleicht sollte ich wirklich einmal mit Florentinus reden.«
»Ich denke, das wäre klug.«
Frederike stand auf, und auch ihr Vater erhob sich. »Vielen Dank. Du hast mir wirklich sehr geholfen. Nun freue ich mich umso mehr, dass ich gekommen bin und dir als Erstem die frohe Botschaft mit dem Hochzeitstermin überbracht habe.«
»Und ich freue mich doppelt, dass du gekommen bist.«
»Was denkst du? Ob Therese wohl die Mühe auf sich nehmen wird, zusammen mit den Kindern und natürlich Onkel Robert zur Hochzeit anzureisen?«
»An deiner Stelle würde ich ihr so rasch wie möglich telegrafieren. Aber halt …« Georg unterbrach sich und überlegte einen Moment. »Warte damit besser noch zwei oder drei Tage. Wer weiß, ob das Schiff bereits in Kamerun angekommen ist. Nicht, dass du ihr sonst womöglich die Überraschung verdirbst, die sie Robert bereiten möchte.«
»Es ist wirklich sehr lieb von dir, dass du das bedenkst«, sagte Frederike und spürte, dass das Gefühl der Verbundenheit mit ihrem Vater in den letzten Wochen noch stärker geworden war.
Kurz senkte sie den Blick. »Glaubst du, dass Mutter zur Hochzeit kommen wird?«
»Na, hör mal!«, erwiderte Georg. »Ihr mögt zwar gestritten haben, doch es wird ihr ein Vergnügen sein, den Ehrentag ihrer Tochter zu begehen. Du solltest so bald wie möglich zu uns nach Hause kommen und dich mit deiner Mutter aussöhnen. Dieser Streit dauert ohnehin schon viel zu lange an.«
Frederike sah ihrem Vater an, dass er längst nicht so zuversichtlich war, wie er vorgab. Doch sie sagte nichts dazu. Was würde es schon nützen, wenn sie offen zugäbe, dass sie durchaus mit einem ablehnenden Verhalten ihrer Mutter rechnete? Vera würde sich auf die eine oder andere Art entscheiden, ob Frederike dies nun mit ihrem Vater diskutierte oder nicht. Aber insgeheim quälte sie der Gedanke, dass ihre Mutter sich weiterhin stur stellen und sie den wichtigsten Tag ihres Lebens einzig in Anwesenheit ihres Vaters begehen würde. Sollte dieser Fall wirklich eintreten, wäre ihre Mutter für sie gestorben.
»Auf Wiedersehen, Vater.« Sie ging um den Tisch herum, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Auf Wiedersehen, Frederike. Ist es dir recht, wenn ich deine Mutter von dem Termin in Kenntnis setze, oder möchtest du das lieber selbst machen?«
Frederike zögerte. »Sie könnte sich übergangen fühlen, wenn ich es ihr nicht selbst sage, und sich wieder einmal echauffieren«, überlegte sie laut. »Ich denke also, es wird besser sein, wenn ich es ihr selbst sage.«
»Ganz wie du willst«, stimmte Georg zu. »Am besten werde ich überrascht tun, wenn du zu uns kommst, einverstanden?«
»Du bist wirklich großartig!« Frederike lächelte ihn an. »Ich werde euch gleich heute Abend besuchen, doch nun muss ich mich beeilen, damit ich nicht zu spät aus der Mittagspause komme.«
»Hab noch einen schönen Tag, Frederike. Bis später dann.«
»Ja, bis später, Vater.« Damit verließ Frederike das Lager, und Georg hörte, wie sie sich vorn im Verkaufsraum von Felix verabschiedete, der ihr ebenfalls einen angenehmen Tag wünschte.
Georg seufzte. Es blieb nur zu hoffen, dass Vera später freundlich auf Frederike reagierte. Seine Frau war für ihn unberechenbar geworden, und nur der Himmel wusste, wie dieser Abend ausgehen mochte. Georg hoffte inständig auf einen guten Verlauf. Kurz dachte er noch an Therese und das so schwierig gewordene Verhältnis zu seiner Frau. Wieder seufzte er.
Dann ging er hinüber zu den Regalen, hob einen der neu angelieferten Säcke auf, stieg die Leiter hoch und legte den Sack oben ab. Er würde noch eine Weile beschäftigt sein, und später müssten außerdem die Listen überprüft werden. Wenigstens würde er sich ablenken können und nicht die ganze Zeit an Therese denken. Ein schwacher Trost.
Doch der stechende Schmerz in seinem Herzen bei dem Gedanken daran, dass sie wohl schon in Kamerun eingetroffen war und womöglich bereits in Roberts Armen lag, der blieb.