3. Kapitel
Hamburg, Freitag, 29. März 1895
»Sie ist gekrabbelt. Sie ist zum allerersten Mal gekrabbelt!« Luises Stimme überschlug sich fast.
»Was? Das kann doch nicht wahr sein! Meine kleine Prinzessin!« Hans, der gerade von der Arbeit gekommen war, beugte sich zu Viktoria hinunter und hob sie schwungvoll auf seinen Arm. Die Kleine kiekste vor Vergnügen.
Luise legte den Arm um Hans’ Mitte, eng aneinandergeschmiegt betrachteten sie ihre Tochter, die die Eltern anstrahlte. Zwar wusste sie vermutlich nicht, weshalb ihre Eltern sich so freuten, doch die gute Laune der beiden kam bei ihr an.
»Dann wird unsere Kleine ab jetzt offiziell groß«, erklärte Hans, drückte Viktoria noch einmal zärtlich an sich und setzte sie dann wieder auf dem Fußboden ab. Er beugte sich zu Luise und gab ihr einen Kuss. »Guten Abend, Liebling.«
»Guten Abend.« Luise erwiderte den Kuss. Ein tiefes Gefühl von Liebe und Glück durchströmte sie. Sie war dankbar, eine Ehe zu führen, die von so inniger Vertrautheit erfüllt war.
»Wie war dein Tag?«, fragte Hans.
»Es ist wirklich viel zu tun im Kontor.« Luise ließ einen kleinen Seufzer hören. »Ich kann von Glück sagen, dass Richard so viel erledigt. Ich wüsste gar nicht, wie ich das alles ohne ihn schaffen sollte.« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Und ich fürchte, es wird auch mit Viktoria nicht einfacher. Frau Regener erwähnte am Rande, dass sie heute immer wieder zu mir wollte. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Arbeit mache und mich womöglich nicht genug um unser Kind kümmere.«
Anna, die Haushälterin, betrat das Wohnzimmer. »Guten Abend, Herr Petersen. Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.«
»Guten Abend, Anna.«
»Kann ich Viktoria zum Baden mitnehmen?«, fragte sie Luise.
»Ja, bitte, Anna.«
Die Haushälterin bückte sich und hob Viktoria auf den Arm. Ohne noch etwas zu sagen, verließ sie mit der Kleinen den Raum, die sichtlich irritiert schien und die Arme nach ihrer Mutter ausstreckte, als könnte sie nicht verstehen, weshalb sie einfach so fortgetragen wurde.
Einen Moment lang war Luise in Versuchung, hinterherzugehen und sich selbst um Viktorias abendliches Bad zu kümmern, ließ es dann aber, als Hans zur Sitzecke hinüberging und das Gespräch wieder aufnahm.
»Du machst dir zu viele Gedanken. Viktoria ist gerade mal ein halbes Jahr alt. Sie wird sich daran gewöhnen, dich teilen zu müssen. Du kümmerst dich weit mehr um die Kleine, als es andere Frauen in deiner gesellschaftlichen Position tun würden.«
Luise ging zu ihrem Mann und setzte sich neben ihn auf das Ledersofa.
»Wie war es damals bei dir?«, fragte er. »Hat sich deine Mutter die ganze Zeit um dich und deine Schwester gekümmert oder doch eher das Personal?«
»Das war etwas anderes.«
»Weshalb?«
Luise sah ihn an.
»Weil meine Mutter uns nie geliebt hat.«
Hans wollte etwas erwidern, doch eine Geste von Luise brachte ihn zum Schweigen. »Nein, wirklich, du brauchst nichts zu sagen. Es macht mir inzwischen nichts mehr aus. Es ist lediglich eine Feststellung. Meine Mutter hat uns nicht geliebt, niemals. Wir konnten daher froh sein, dass sich Regine um uns gekümmert hat.«
Einen kurzen Moment störte sich Hans an der Art, wie rigoros Luise über ihre Mutter sprach. »Regine?«, fragte er dann nach. »Du hast mir nie von ihr erzählt.«
»Sie war mein Kindermädchen. Genau genommen, unser aller Kindermädchen.« Luise lächelte bei dem Gedanken an die Frau, die ihr ebenso am Herzen gelegen hatte wie ihre Großmutter, die sie über alles geliebt hatte. Nun, da Luise an sie dachte, sah sie das Gesicht der Frau vor sich, die bis zu ihrem elften Geburtstag immer für sie da gewesen war. Denn genau an dem Tag war sie verstorben.
»Regine war noch älter als meine Großeltern«, begann sie zu erzählen. »Sie sah, solange ich sie kannte, immer gleich aus. Sie hatte viele Falten und graues Haar, das immer ganz straff zurückgenommen war. Aber sie hatte etwas an sich, das sie immer noch schön wirken ließ.« Luise sah ihren Mann an. »Klingt komisch, oder?«
»Nein, finde ich gar nicht. Es gibt viele Frauen, die ihre Schönheit bis ins hohe Alter bewahren.«
»Ich denke, es war vor allem ihre Ausstrahlung. Sie hatte so etwas Stolzes, fast schon Unnahbares an sich. Nur nicht uns Kindern gegenüber. Bei uns war sie der liebevollste Mensch, den man sich vorstellen kann.«
»War sie verheiratet?«
Luise überlegte kurz. »Jetzt, wo du mich danach fragst, muss ich gestehen, dass ich das gar nicht weiß. Sie hat bei uns im Haus gelebt, und da war kein Mann. Aber womöglich war er schon verstorben. Ich schäme mich fast ein bisschen, so wenig über sie zu wissen, wo sie sich doch so viel um Richard, Frederike, Martha und mich gekümmert hat.«
»Du warst damals eben ein Kind«, meinte Hans.
Luise nickte nachdenklich. »Ich war seinerzeit am Boden zerstört und habe tagelang nichts gegessen, als sie gestorben war. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Obwohl meine Großeltern noch lebten, weiß ich noch ganz genau, dass ich damals dachte, ich hätte den einzigen Menschen verloren, der nur dafür da war, uns Kinder zu lieben.« Sie lächelte gequält. »Nicht einen Augenblick lang kam mir in den Sinn, dass das eigentlich die Aufgabe unserer Mütter war.« Sie nahm Hans’ Hand in ihre. »Ich möchte auf keinen Fall, dass Viktoria eines Tages so über mich denkt.«
»Aber das ist doch Unsinn!«
»Ist es das? Was, wenn sie glaubt, das Kontor sei mir wichtiger als sie? Was, wenn sie mich deshalb womöglich nicht mehr lieb hat und sich von mir abwendet?«
»Na, na«, machte Hans und nahm seine Frau in den Arm. »Was ist denn los mit dir, Luise? Weshalb diese Zweifel? Du bist eine wunderbare Mutter und liebst unsere Kleine über alles. Sie wird niemals so von dir denken, hörst du?«
Luise genoss es, ihren Kopf an seiner Brust ruhen zu lassen und den Duft seines Körpers einzuatmen. Wie sehr sie Hans doch liebte! Einen Moment blieb sie noch so sitzen, dann richtete sie sich auf. »Ich glaube, ich habe einfach Angst, all dem nicht gewachsen zu sein.«
»Deinen Aufgaben als Mutter oder im Kontor?«
»Beidem. Ich habe immer das Gefühl, zu wenig zu tun. Seit Vater nach Kamerun gegangen ist, bleibt immer noch etwas
liegen, das zu bearbeiten ist. Dabei kümmert sich Richard inzwischen allein um den gesamten Einkauf. Das Kontor ist randvoll, doch ich habe große Sorge, weil derzeit zu wenig Geld hereinkommt.«
»Sind euch Kunden weggebrochen?«
»Nein, das nicht. Ich weiß noch nicht recht, woran es liegt. Und ich fürchte, ich werde Richard bitten müssen, nicht mehr so viel einzukaufen. Unsere finanziellen Mittel nehmen täglich ab.«
Hans sah seine Ehefrau einen Moment lang nachdenklich an. »Ist das nicht die gleiche Situation wie schon vor Weihnachten, kurz bevor du deinen Unfall hattest?«
»Leider ja. Nur dass wir damals bestohlen wurden, was am Ende alles erklärt hat.« Luise zuckte mit den Schultern.
»Bist du sicher, dass es jetzt nicht ebenso ist?«
Luise straffte den Rücken. »Wie meinst du das? Gerhard Dietke wurde damals sofort von Richard entlassen, nachdem der Diebstahl herauskam. Das weißt du doch.«
»Ja, ich weiß. Aber findest du es nicht eigenartig, dass binnen weniger Monate die identische Situation erneut auftritt?«
»Was willst du damit sagen?« Luise spürte Unruhe in sich aufsteigen. Sie setzte sich kerzengerade hin.
»Ich denke nur laut. Kann es vielleicht sein, dass dieser Dietke einen Komplizen im Kontor hatte, der einige Monate abgewartet hat, damit sich alles wieder beruhigen konnte, und nun einfach da weitermacht, wo er damals aufgehört hat?«
Luise schlug die Hand vor den Mund. War das tatsächlich möglich?
»Wie ist Richard diesem Dietke damals eigentlich auf die Schliche gekommen?«, hakte Hans weiter nach.
Luise überlegte. »Hm«, machte sie. »So ganz genau weiß ich es gar nicht. Richard hat mir nur das Nötigste erzählt, weil er mich nach meinem Unfall nicht damit belasten wollte.« Luise kaute auf der Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie
nervös war. »Ich weiß nur, dass Gerhard Dietke offenbar Waren angenommen, dann die Bohnen gegen Sand getauscht und die Säcke so in die Regale gelegt hat. Die Kaffeebohnen hat er dann auf eigene Rechnung verkauft und damit einige Wochen lang ordentlich kassiert.«
»Was weißt du über diesen Dietke?«
Wieder zuckte Luise die Schultern. »Georg hat ihn vor einigen Jahren eingestellt, als das Kontor wieder zu florieren begann und wir mehr Arbeiter brauchten.«
»Hat er Familie?«
»Das weiß ich wirklich nicht.« Luise neigte bedauernd den Kopf. »Oder ich erinnere mich nicht«, fügte sie noch hinzu und fragte sich, ob sie sich mehr mit den Kontorangestellten und ihrem privaten Umfeld beschäftigen sollte. War die Art, wie sie die Firma führte, umsichtig genug?
Hans sagte einen Moment lang nichts, schien zu überlegen. »Hat dieser Dietke den Diebstahl eigentlich damals zugegeben?«
Luise schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er nicht. Er hat es sogar bis zum Schluss abgestritten und sich heftig gegen die Vorwürfe gewehrt. Doch die Beweise, die Richard gegen ihn hatte, waren wohl eindeutig.«
»Und was waren das für Beweise?«
»Worauf willst du eigentlich hinaus, Hans?«
»Nichts Bestimmtes. Aber ich finde es eigenartig, dass ihr offenbar schon wieder ein randvolles Lager habt, die Kunden auch gut einkaufen, aber dennoch nicht genug Geld in die Kassen fließt. Du nicht?«
»Doch«, musste Luise zugeben und nickte. »Also denkst du, er hat einen Komplizen, der noch immer bei uns beschäftigt ist und nun fröhlich sein Geschäft wieder aufgenommen hat?«
Hans zögerte. »Entweder das – oder Dietke war wirklich unschuldig, und nun macht der, der auch damals der Täter war, einfach weiter.«
Luise legte die Hand auf die Brust. Ihr war plötzlich übel. »Du meinst, wir könnten den Falschen entlassen haben?«
»Möglich wäre es.«
»Aber Richard war sich ganz sicher. Er sagte mir, dass die Beweise eindeutig seien. Ich werde ihn darauf ansprechen, sobald er nach Hause kommt.«
Hans hob die Hand. »Würdest du mir den Gefallen tun, und das noch nicht tun?«
»Und weshalb nicht?«
»Lass es einfach mir zuliebe, ja?«
»Sag mir bitte, was du denkst.« Luise konnte die Unruhe nicht mehr verbergen.
Hans schüttelte den Kopf. »Es gibt überhaupt keinen Grund zur Sorge«, versuchte er seine Frau zu beruhigen. »Es geht mir einzig darum, voreiliges Handeln zu vermeiden.« Er bemühte sich um ein Lächeln. »Das ist etwas, das mein Onkel mir immer wieder gesagt hat: Lass dich niemals dazu hinreißen, übereilt zu handeln. Es kostet dich am Ende nur viel mehr Zeit.«
»Schön gesagt«, befand Luise. »Doch das ist es nicht allein. Ich sehe es dir an, Hans. Was denkst du?«
»Ich denke, wir sollten diesem Gerhard Dietke einfach mal einen Besuch abstatten, um zu sehen, wie er lebt, und uns mit ihm unterhalten.«
»Glaubst du wirklich, er würde seine Meinung ändern und zugeben, dass er uns bestohlen und womöglich noch immer einen Komplizen im Kontor hat, mit dem er gemeinsame Sache macht – nur weil wir nett fragen?«
Hans hob in einer lässigen Geste die Hände. »Einfach mit ihm zu sprechen, wäre ein Anfang, findest du nicht?« Er sah auf seine Taschenuhr. »Es ist gerade erst kurz nach fünf. Wo wohnt dieser Dietke eigentlich?«
»Da müsste ich in der Personalakte nachsehen.«
»Allzu weit vom Kontor entfernt wird es vermutlich nicht
sein. Wir könnten es also noch gut vor dem Abendessen schaffen. Und vielleicht bringt es uns direkt Klarheit. Du denkst doch ohnehin die ganze Zeit an nichts anderes.«
Luise stand, ohne zu zögern, auf. »Du hast recht. Lass uns gehen. Ich sage nur rasch Anna Bescheid, und dann können wir aufbrechen.« Sie wollte schon davongehen, da machte sie noch einmal kehrt. »Ich danke dir, Hans. Du bist wirklich der beste Ehemann, den man sich nur wünschen kann.«
Er zwinkerte ihr zu. »Dann passe ich ja gut zu dir.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln, dann beeilte sie sich, um Anna Bescheid zu geben.
Nur wenige Minuten später saßen sie bereits in der Kutsche und ließen sich von Hugo zum Hansen’schen Kontor fahren, um dort die Anschrift Gerhard Dietkes nachzuschlagen. Nervös knetete Luise während der Fahrt ihre Finger. Sie war beunruhigt und fragte sich, wie der Besuch bei Dietke wohl verlaufen würde, schließlich konnte sie sich lebhaft vorstellen, dass der frühere Angestellte sie gewiss nicht mit offenen Armen empfangen würde. Wäre es richtig gewesen, wenn sie sich damals nach ihrer Genesung noch einmal bei ihm gemeldet hätte, um persönlich zu hören, wie es dazu gekommen war? Warum war ein Mann zum Dieb geworden, der zuvor jahrelang zuverlässig und gut gearbeitet und, soweit Luise wusste, sich nie unzufrieden gezeigt hatte? Aus reiner Geldgier?
Hans und Luise sprachen während der gesamten Fahrt nur wenige Worte, und als Hugo vor dem Kontor anhielt, öffnete Luise sofort den Schlag und stieg aus, ohne Hugos Hilfe abzuwarten.
Im Kontor war um diese Zeit niemand mehr. Nur Richard könnte sich noch in den Büroräumen aufhalten, weil er noch nicht in der Villa eingetroffen war und oft länger im Büro blieb, um dringende Angelegenheiten zu erledigen.
Hans trat an Luises Seite, als sie den Schlüssel hervorzog und die große Eingangstür aufsperrte. Da sie nur zu zweit waren und Luise nicht wie sonst Viktoria dabeihatte, stiegen sie rasch die Treppe hinauf, statt den Fahrstuhl zu benutzen. Wieder sagte keiner von beiden ein Wort.
Erst als sie oben ankamen, rief Luise: »Richard? Bist du noch hier?« Sie wollte den Cousin nicht erschrecken, der davon ausgehen musste, dass alle außer ihm schon gegangen waren und er allein in dem großen Kontorgebäude war. Sie lauschten einen Moment, erhielten jedoch keine Antwort. Also gingen sie den Korridor entlang bis zu seinem Büro, und Luise klopfte zweimal an. »Richard?« Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür war abgeschlossen. »Hm«, machte sie und drehte sich zu Hans um. »Dann ist er wohl doch schon gegangen.«
»Aber zu Hause war er nicht, und wäre er uns auf dem Weg hierher begegnet, hätten wir es sicher bemerkt.«
»Wer weiß, ob er den direkten Weg genommen hat oder zuvor noch irgendwo anders war.« Luise zuckte die Schultern, dann sah sie ihren Mann einen Moment lang an. »Was denkst du, Hans?«
»Gar nichts«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
»Na los, sag es schon!«, beharrte Luise.
»Ich frage mich halt manchmal, ob Richard wirklich so viel arbeitet, wie er vorgibt. Das ist alles.«
»Was denkst du denn, was er sonst tut?«
»Ich weiß es nicht. Und letztlich geht es mich auch nichts an. Mir tut nur Elsa manchmal leid, wie sie zu entschuldigen versucht, dass Richard wieder einmal das Abendessen verpasst, weil er so viel arbeitet. Oft dachte ich schon, dass sie auch ihre Zweifel hat, ob er wirklich so viel arbeitet oder seine Zeit womöglich lieber anderswo als zu Hause verbringt.«
»Du denkst, es gibt eine andere Frau?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich gebe zu, dass ich
bestimmt nicht meine Hand dafür ins Feuer legen würde, dass es nicht so ist.« Kurz berührte er Luise am Arm. »Ich bin sehr glücklich darüber, dass so etwas bei uns undenkbar ist. Oder hast du jemals auch nur einen einzigen Augenblick Zweifel an meiner Treue gehabt?«
»Nein.« Luise schüttelte den Kopf. »Nie.«
Hans gab ihr einen kurzen Kuss. Luise lächelte ihn an, spürte jedoch das schlechte Gewissen, dass sie Hans zu Beginn ihrer Ehe mit Hamza betrogen hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, während es tatsächlich erst ein gutes halbes Jahr zurücklag, dass sie zusammen mit Hamza ihre Flucht aus dem Deutschen Reich ins ferne Kamerun geplant hatte, um dort mit ihm zu leben. Sie merkte an Hans’ Reaktion, wie sehr es ihn abstieß, dass Richard seine Frau möglicherweise betrog. Niemals durfte er auch nur den geringsten Verdacht haben, was Luise betraf. Niemals! Sonst wäre alles ruiniert.
Sie sah ihn an, bemühte sich um ein Lächeln. »Komm, lass uns in den Personalakten nachsehen, wo Gerhard Dietke wohnt.« Damit wandte sie sich um und ging, gefolgt von Hans, zum Büro ihres Vaters, das seit dessen Abreise nach Kamerun die meiste Zeit leer stand. Luise wollte nicht darin arbeiten, wenngleich es anfangs so gedacht gewesen war. Sie war lieber in ihrem eigenen Büro und schloss die Tür zu Roberts Raum nur in seltenen Fällen auf, so wie jetzt. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen, als sie die Tür öffneten.
»Ich mache das Fenster auf und lüfte ein wenig, solange wir hier sind«, erklärte Hans.
»Ja, gut«, erwiderte Luise und machte sich schon an dem hohen Holzschrank zu schaffen, in dem ihr Vater die Unterlagen sämtlicher Kontorangestellter aufbewahrte. In den unteren beiden Fächern waren diejenigen aufgereiht, die bereits aus dem Geschäft ausgeschieden waren, während oben die Akten der derzeitigen Mitarbeiter verwahrt wurden.
Luise bückte sich und brauchte nicht lange, um die Akte Gerhard Dietkes zu finden. Sie schlug sie auf und sah auf der ersten Seite einen handschriftlichen Vermerk von Fräulein Schreiber, dass er am 10. Dezember 1894 entlassen wurde.
Luise stand auf und zeigte es Hans. »Sieh mal! Richard hat wirklich sofort gehandelt. Am neunten Dezember war mein Unfall, und schon am zehnten hat er Gerhard Dietke fristlos gekündigt.«
»Das spricht tatsächlich dafür, dass die Beweise eindeutig waren.«
Bilder erschienen vor Luises geistigem Auge – von dem Tag, als sie die statt mit Kaffee- oder Kakaobohnen mit Sand gefüllten Säcke im Kontor entdeckt hatte und plötzlich aus mehreren Metern Höhe von der Leiter gefallen war –, obwohl sie sich nicht an jedes Detail erinnerte. Das einzig Gute an all dem war, dass ihre Entdeckung dazu geführt hatte, dass Richard sich der Sache angenommen und den Dieb überführt hatte. Doch es hatte Wochen gedauert, bis Luise das Bett wieder verlassen konnte, und auch heute fielen ihr manche Bewegungen noch schwer. Der Arzt hatte ihr gesagt, dass sie sich glücklich schätzen müsse, überhaupt wieder laufen zu können und auch keine geistigen Folgeschäden davongetragen zu haben, wie er es in vergleichbaren Fällen bei Patienten durchaus schon erlebt habe. Doch für Luise ging alles viel zu langsam voran. Sie war einfach nicht der Mensch dafür, Geduld zu bewahren und ihren Körper in aller Ruhe heilen zu lassen.
Hans ging zu Roberts Schreibtisch, nahm einen der bereitliegenden Notizzettel und den Federhalter und kam wieder herüber. Luise schlug die nächste Seite auf, wo sich in einem vereinheitlichten Fragebogen sämtliche persönlichen Angaben befanden. »Alte Gröninger Straße 4«, murmelte Hans und notierte die Adresse auf dem Zettel. »Das ist ja gleich um die Ecke.«
Luise nickte, schlug die Akte wieder zu und stellte sie an die Stelle im Schrank zurück, von wo sie sie genommen hatte. Dann schloss sie den Schrank wieder ab, während Hans den Federhalter auf den Schreibtisch zurücklegte. Gemeinsam verließen sie das Büro, Luise sperrte wieder zu, und sie gingen wortlos zur Treppe und ins Erdgeschoss. Unten angekommen, sagte Luise: »Ist es nicht eigenartig, wie anders ein Gebäude oder ein Ort wirkt, wenn die Menschen fehlen, die ihm sonst Leben verleihen?«
Hans nickte zustimmend. »Das habe ich auch schon öfter gedacht.«
Sie verließen das Kontor, und Luise schloss die Eingangstür ab. Dann stiegen sie in die Kutsche und sagten Hugo, wohin sie wollten, wenngleich sie die paar Meter auch gut zu Fuß hätten gehen können. Doch dann hätte Hugo mit der Kutsche später immer noch vor dem Kontor gestanden, also fuhren sie lieber. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Hugo das Pferd vor dem Haus in der Alten Gröninger Straße zum Stehen brachte, vom Kutschbock stieg und den Schlag öffnete.
Luise bemerkte beim Aussteigen, dass Hugo sich kurz an die Hüfte fasste, ganz so, als hätte er Schmerzen. »Alles in Ordnung, Hugo?«
»Man wird eben nicht jünger«, brachte er mit einem leichten Stöhnen hervor.
Luise fragte sich, wie lange Hugo wohl seinen Dienst noch tun könnte und ob er auch genug Geld zurückgelegt hatte, um im Ruhestand gut davon leben zu können. Zwar zahlten die Hansens in eine Pensionskasse für ihn ein, doch war das, was er daraus bekäme, alles andere als üppig, sodass er sich im Vergleich zu seinem jetzigen Lohn würde einschränken müssen, wenn er nicht anderweitig vorgesorgt hatte. Außerdem würde Hugo die gesetzliche Altersrente, den sogenannten Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt, erst mit siebzig Jahren erhalten.
»Danke, Hugo.« Luise griff nach der Hand, die er ihr reichte, und stieg aus. Hans folgte ihr, und sie gingen gemeinsam die Stufen hinauf zum Haus. Es wirkte freundlich und durchaus gepflegt, und Luise fragte sich, was für ein Empfang ihnen wohl bevorstand.
Hans klopfte an, und es dauerte nicht lange, bis ihnen geöffnet wurde. Eine Frau, die Luise etwa auf Mitte vierzig schätzte, öffnete ihnen die Tür. Eben hatte sie noch gelächelt, doch das änderte sich schlagartig, als sie Luise ins Gesicht sah.
»Guten Tag. Ich bin Luise Petersen, und das ist mein Mann Hans. Ist Gerhard Dietke wohl zu sprechen?«
»Ich weiß, wer Sie sind«, gab die Frau zurück und suchte offenbar nach Worten. Schließlich sagte sie: »Einen Moment«, und schloss die Tür wieder.
Luise und Hans tauschten einen Blick, und Hans legte seiner Frau kurz die Hand auf den Rücken.
Es dauerte eine Weile, dann wurde die Tür zur Wohnung der Dietkes wieder geöffnet. »Guten Tag, Frau Petersen, Herr Petersen.« Gerhard Dietke nickte ihnen zu, er wirkte ein wenig eingeschüchtert. »Bitte verzeihen Sie meiner Frau. Kommen Sie doch herein.«
»Guten Tag, Herr Dietke. Vielen Dank.« Luise streckte ihm beim Eintreten die Hand entgegen, ebenso wie Hans. Sie blieben kurz im Flur stehen, bis Dietke die Tür geschlossen hatte.
»Bitte dort hinein. Da geht es zur Stube.«
»Danke schön.« Luise ging durch die geöffnete Tür.
Gerhard Dietke deutete zum Esstisch hinüber, um den sechs Stühle standen. »Wenn Sie bitte dort Platz nehmen wollen.«
Luise und Hans setzten sich an die Längsseite, Gerhard Dietke nahm sich einen Stuhl ihnen gegenüber. Kurz darauf trat Frau Dietke mit einem Tablett in den Händen ein, stellte einen Krug Wasser, eine Kanne Tee sowie Tassen und Gläser auf dem Tisch ab. Ihre geröteten Augen verrieten, dass sie geweint hatte.
»Das ist wirklich sehr freundlich, vielen Dank«, sagte Luise und spürte einen Kloß im Hals.
»Ich muss mich für mein abweisendes Verhalten von vorhin entschuldigen«, murmelte Frau Dietke kleinlaut.
Weder Luise noch Hans erwiderten etwas, keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt, und Gerhard Dietke war die Nervosität ins Gesicht geschrieben. Die Firma Hansen hatte ihn damals entlassen, auf eine Anzeige bei der Polizei jedoch verzichtet. War er deshalb so nervös, weil er fürchtete, dass es doch noch zu einer öffentlichen Anklage kommen könnte?
Luise musterte ihn und sah sich kurz um. Wenn er tatsächlich noch mit jemandem im Kontor gemeinsame Sache machte, so gab er das ergaunerte Geld weder für vornehme Kleidung noch für eine teure Wohnungseinrichtung aus. Sie wusste noch nicht so recht, was sie von alldem halten sollte.
»Haben Sie vielen Dank, dass Sie uns empfangen«, setzte Luise an. »Wir hatten nach den Geschehnissen seinerzeit gar nicht die Gelegenheit, noch einmal miteinander zu sprechen.«
»Nein, das hatten wir nicht«, erwiderte Dietke und senkte den Blick. Seine Frau stand noch immer am Tisch, unschlüssig, ob sie gehen oder bleiben sollte.
»Setz dich zu uns, Frieda. Alles, was hier besprochen wird, betrifft dich ebenso.«
Seine Frau schien erleichtert und nahm neben ihrem Mann Platz.
Einen Moment herrschte Schweigen, dann ergriff Hans das Wort. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, weshalb wir gekommen sind.«
»Ja, ehrlich gesagt, schon«, stimmte Gerhard Dietke zu.
Luise überlegte, wie sie es formulieren könnte. Dann hörte sie sich selbst fragen: »Haben Sie die Diebstähle damals begangen?«
Dietke errötete und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, und das schwöre ich beim Leben unserer Kinder. Ich habe noch nie etwas gestohlen, nicht einmal einen Apfel auf dem Markt.«
Luise und Hans sahen sich kurz an, dann fragte Luise: »Was ist aus Ihrer Sicht damals geschehen?«
Gerhard Dietke hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Was soll ich Ihnen dazu sagen? Ich weiß es ja selbst nicht. Ich bin zur Arbeit gekommen und war wie immer pünktlich. Dann habe ich gerade angefangen, die neue Ware zu stapeln, da kam Ihr Cousin und hat mich des Diebstahls beschuldigt. Vor allen anderen hat er mich angeschrien und mir gesagt, dass ich von Glück sagen könnte, wenn er bei den Behörden keine Anzeige gegen mich erstattet und auch sonst davon absieht, überall von dem Diebstahl zu erzählen. Ich hätte unverzüglich meine Sachen zu holen und das Kontor zu verlassen. Und sollte ich je wieder einen Fuß über die Schwelle setzen, hätte das ernste Folgen.«
Luise wartete, ob er fortfuhr, doch das tat er nicht. Frau Dietke traten erneut die Tränen in die Augen.
»Es soll eindeutige Beweise gegeben haben, dass Sie und niemand sonst für die Diebstähle verantwortlich waren«, erklärte Luise. »Hat man Ihnen gesagt, welche Beweise das waren?«
Dietke schüttelte wieder den Kopf. »Nein, nichts dergleichen. Ihr Cousin gab zwei Kollegen den Auftrag, mich zu den Spinden zu begleiten, damit ich meine Sachen holen konnte und sonst nichts mitnahm. Dann brachten sie mich bis zur Tür, und das war es dann. Ich habe mich danach auch nicht mehr getraut, noch einmal zum Kontor zu kommen, um den Lohn für die geleisteten Arbeitstage im Dezember zu fordern. Was, wenn er seine Drohung wahr gemacht und mich den Behörden gemeldet hätte? Dann hätte ich nie mehr eine neue
Anstellung gefunden.« Er sah seine Frau an, griff nach ihrer Hand. »Wir leben ohnehin schon in ständiger Angst, dass mein neuer Arbeitgeber erfahren könnte, was mir vorgeworfen wurde.«
»Bei wem arbeiten Sie jetzt?«
»Bei Blohm & Voss in der Werft.«
»Ich bin froh, dass Sie wieder eine Anstellung gefunden haben«, sagte Luise.
»Ich muss länger arbeiten und bekomme weniger Geld.« Er drückte die Hand seiner Frau. »Aber wir kommen zurecht, und unsere Kinder haben immer ordentliche Schuhe ohne Löcher in den Sohlen.«
Die liebevolle Art, wie die Dietkes miteinander umgingen, rührte Luise, und sie lächelte. Dann stand sie auf. »Haben Sie vielen Dank. Wir möchten Ihre Zeit nicht über Gebühr beanspruchen.«
Hans erhob sich ebenfalls, und nach kurzem Zögern auch die Dietkes. Dem Ehepaar stand die Frage, was sie von dem Besuch der Petersens halten sollten, ins Gesicht geschrieben. Doch keiner von beiden sagte noch etwas. Also brachten sie die Petersens noch zur Tür und verabschiedeten sich mit Handschlag von ihnen.
Als die beiden aus der Tür getreten waren, drehte Luise sich noch einmal um. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen, und ich werde mir die Beweise zeigen lassen, die damals gegen Sie gesprochen haben, Herr Dietke. Darauf haben Sie mein Wort.«
Der ehemalige Mitarbeiter war sichtlich um Fassung bemüht. »Ich danke Ihnen, Frau Petersen. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Wir alle, also alle, die für Sie und Ihren Herrn Vater arbeiten, schätzen Sie über die Maßen. Sie behandeln jeden Angestellten sehr gut, und das weiß auch jeder. Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mich
anzuhören. Ich werde ruhiger schlafen können, jetzt, da ich Ihnen die Wahrheit persönlich sagen konnte.«
Luise nickte ihm zu. »Ich werde mich wieder bei Ihnen melden, Herr Dietke. Ihnen und Ihrer Familie einstweilen alles Gute.«
»Ihnen auch, Frau Petersen. Und vielen Dank.«
Luise und Hans gingen die Stufen hinab und zur Kutsche.
»Bleib dort oben sitzen«, wies Luise Hugo an, der eben Anstalten machte, von seinem Kutschbock zu kommen, um ihnen den Schlag zu öffnen.
Luise und Hans stiegen ein, und kaum dass sie die Tür zugezogen hatten, trieb Hugo das Pferd auch schon an.
»Was denkst du?«
Hans schüttelte den Kopf. »Der Mann hat euch nicht bestohlen, Luise. Niemals.« Er griff nach ihrer Hand. »Was auch immer vorgefallen sein mag und welche vermeintlichen Beweise es gab, sie wurden ihm entweder untergeschoben oder waren längst nicht so eindeutig, wie Richard behauptet hat.«
»Wir müssen unbedingt sofort mit Richard sprechen. Hoffentlich ist er inzwischen zu Hause.«
»Lass uns damit noch warten«, bat Hans, »und erst einmal nichts davon sagen, dass wir mit Gerhard Dietke gesprochen haben.«
»Weshalb?«, fragte Luise überrascht.
»Mir zuliebe«, sagte Hans. »Einfach nur mir zuliebe.«