10. Kapitel
Kamerun, Freitag, 5. April 1895
Es war einfach herrlich! Therese saß auf der Veranda der Farm und sah Robert und Hamza zu, die mit Franz und Helene spielten und so ausgelassen miteinander lachten, dass es eine reine Freude war.
Eine Woche war sie jetzt hier, und sie fühlte sich so frei wie nie zuvor in ihrem Leben. Dieses Land, dieser ganze Kontinent bewirkte etwas bei ihr, das sie nie erwartet hätte. Alles war ganz anders als in Wien oder auch in Hamburg, wo stets Ordnung herrschte und Regeln zu befolgen waren. Hier war es vollkommen anders. Es war, als könnte sie nach der Trauer um Karl nun endlich wieder frei atmen. In Wien hatte sie keinen Schritt tun können, ohne an Karl erinnert zu werden. Das Haus, das Kontor, der Park, ja jeder Strauch im Garten, den sie gemeinsam gepflanzt hatten – wohin auch immer ihr Blick fiel, es erinnerte sie alles an ihren Karl.
Karl, der freiwillig aus dem Leben geschieden war, das sie nun so genoss. Er hatte Robert und sie zu Verbündeten gemacht, da sie als Einzige wussten, dass es weder ein Unfall oder gar ein Verbrechen, sondern Selbstmord gewesen war. Lediglich die Frage, ob Robert mehr wusste als sie oder zumindest den wahren Grund für den Selbstmord ahnte, stand noch zwischen ihnen. Sie spürte, dass diese Frage in ihr brannte, und sie spürte ebenso, dass Robert, wann immer das Gespräch auch nur ansatzweise die Frage nach dem Motiv für den Suizid berührte, sofort abblockte. Es war natürlich möglich, dass er einfach nicht mehr länger über den Tod seines Bruders nachdenken wollte. Therese wusste es nicht. Womöglich sah sie auch nur Gespenster.
»Sieh nur, Mutter, jetzt werfe ich den Ball ganz hoch!«, rief Franz herüber.
»Ja, mein Schatz. Ich sehe es!« Therese klatschte in die Hände.
Es war so schön, zu sehen, dass ihr Sohn nach der schweren Zeit endlich wieder er selbst war. Und am vergangenen Sonntag hatte er nach dem Gottesdienst sogar einen Gleichaltrigen kennengelernt. Kurt lebte mit seinen Eltern und vier weiteren Geschwistern auf der früheren Kraft-Farm, sie waren erst vor einem Monat hergezogen. Therese wusste aus den Erzählungen Roberts, dass es jene Farm war, auf der er die Misshandlungen von Sanula, der jungen Duala-Frau, mit angesehen hatte. Roberts Meldung an das Militär hatte dazu geführt, dass die Kraft-Brüder in Gewahrsam genommen und ins Deutsche Reich abgeschoben worden waren, womit sich ihr zukünftiger Ehemann, wie sie zu ihrer Überraschung hatte feststellen müssen, nicht nur Freunde gemacht hatte. Es war, wie Robert schon sagte, noch viel Anstrengung notwendig, um ein Umdenken unter den Kolonisten in Gang zu bringen. Denn derzeit, so empfand es Therese, waren eher die in der Überzahl, die meinten, dass man Einheimische ruhig auch körperlich züchtigen sollte, als diejenigen, die so dachten wie Robert und sie.
Ihr erstes Aufeinandertreffen mit den anderen Deutschen nach dem Gottesdienst war daher nicht ganz frei von Spannungen gewesen, doch Therese war zuversichtlich, dass sie einen Weg finden würde, auch mit den schwierigen einen Konsens zu finden.
Besonders gefreut hatte sie sich, Lieselotte und Erich Heemsen zu treffen. Fast war es, als hätten sich die Frauen nicht erst auf der Überfahrt nach Kamerun kennengelernt, sondern bereits vor Jahren. Nie zuvor war Therese eine Frau, die sie eigentlich kaum kannte, derart rasch ans Herz gewachsen und zur Freundin geworden.
Die Frauen hatten angeregt miteinander geplaudert, allerdings war noch während des Gesprächs ein Bote zu Pferd eingetroffen, der Oberleutnant Heemsen die Nachricht überbrachte, dass der im Januar zum neuen Gouverneur bestellte Jesko von Puttkamer ihn unverzüglich zum Rapport zu sehen wünsche. Zwar hatte Oberleutnant Heemsen seiner Frau angeboten, dass sie noch bleiben und sich später von ein paar Soldaten nach Hause bringen lassen könne, doch Lieselotte Heemsen hatte es vorgezogen, zumindest einen Teil des Rückwegs mit ihm zusammen zurückzulegen, sodass die Frauen sich etwas übereilt voneinander verabschieden mussten. Aber sie trennten sich nicht ohne das Versprechen, dass Lieselotte schon in der nächsten Woche zur Farm der Hansens kommen und dort ein bisschen Zeit mit Therese verbringen würde. Vor allem wollte Therese mit Lieselotte besprechen, wie man hier in Kamerun eine Hochzeit ausrichten konnte.
Robert hatte keine Zeit verloren und gleich nach dem Gottesdienst am Sonntag mit Pastor Nienstädt gesprochen. Vater Jan, wie alle den gebürtigen Husumer nannten, hatte sich darüber gefreut, endlich einmal eine Trauung abhalten zu können, denn die meisten Deutschen, die nach Kamerun kamen, waren bereits verheiratet und ihre Kinder so klein, dass es noch viele Jahre dauern würde, bis diese vor den Altar träten.
Vater Jan hatte sich, nachdem er von Therese erfahren hatte, dass ihr erster Ehemann und der Vater ihrer Kinder letztes Jahr gestorben war, nicht anmerken lassen, was er von einer Wiederverheiratung vor Ablauf des Trauerjahres hielt. Therese hatte ihre Nervosität zu überspielen versucht, als Robert dann Vater Jan darüber aufgeklärt hatte, dass der verstorbene Ehemann zugleich sein Bruder gewesen war. Sie hatte auf eine Reaktion des Kirchenmannes gewartet, irgendetwas, das sich in seinem Gesicht widerspiegelte und ihr verriete, was er über sie dachte. Doch Vater Jan hatte es lediglich zur Kenntnis genommen und am Ende des Gesprächs gemeint, dass die Wege des Herrn unergründlich seien und es ein Glück für Therese und Robert sei, einander gefunden zu haben. Das war alles gewesen.
Therese war ein Stein vom Herzen gefallen, ja sie fühlte sich seither wie befreit. Schon in Kürze würde sie sich, wenn sie sich als Therese Hansen vorstellte, nicht mehr bemüßigt fühlen, zu erklären, dass sie trotz desselben Nachnamens Roberts Schwägerin war und nicht seine Frau.
Doch das war bei Weitem nicht der einzige Grund, weshalb sie es nicht mehr erwarten konnte, Roberts Frau zu werden. Sie wollte schlicht und einfach Tag und Nacht mit ihm zusammen sein. Erst gestern Abend hätte sie fast dem drängenden Wunsch nachgegeben, zu ihm in sein Zimmer hinüberzugehen. Letztlich war sie jedoch froh, dass sie es nicht getan hatte, denn nach kurzer Zeit, während sie wach gelegen und noch darüber nachgedacht hatte, war Franz in ihr Schlafzimmer gekommen und zu ihr unter die Decke gekrabbelt. Das hatte er früher auch öfter gemacht, öfter sogar als heute. Damals jedoch war es noch das Ehebett gewesen, das sie mit Karl geteilt hatte, und Franz hatte es als vollkommen selbstverständlich angesehen. Sie wollte jedoch nicht, dass die Kinder womöglich einen falschen Eindruck gewännen, solange sie nicht auch vor Gott als Roberts Frau galt.
Für sie selbst hätte es keine Rolle gespielt, nicht nach allem, was geschehen war. Sie war nicht mehr das junge unschuldige Ding, sondern eine erwachsene Frau und Mutter zweier Kinder, die sich nach körperlicher Nähe sehnte. Und wie sehr sie sich sehnte! Nachts, wenn sie allein in ihrem Zimmer lag, träumte sie davon, dass Robert sie umarmen und überall streicheln würde. Sie wollte ganz und gar seine Frau sein. Sie wollte von ihm begehrt werden und ihn begehren dürfen. Sie wollte Leidenschaft erleben und sich ihm hingeben, und sie wusste, dass er genauso für sie empfand.
Denn vorgestern Nacht hatte sie, als sie wieder einmal wach lag und an ihn dachte, deutlich gehört, wie die Tür seines Zimmers, das neben ihrem lag, geöffnet wurde und die Holzdiele direkt vor ihrer Tür unter seinem Gewicht geknarrt hatte. Sie hatte den Atem angehalten und in die Dunkelheit gelauscht. Vermutlich hätte sie ihn in ihr Bett gelassen, wenn er sich getraut hätte, die Tür zu öffnen. Doch das hatte er nicht. Er hatte offenbar eine Weile davor gestanden und mit sich gerungen. Dann hatte Therese erneut das Knarren der Diele gehört und kurz darauf das Klicken des Schlosses, als Robert in sein Zimmer zurückgeschlichen war. Therese hatte noch einen Moment gelauscht, doch es tat sich nichts mehr. Sie war enttäuscht gewesen und hatte noch Stunden danach keinen Schlaf gefunden. Ja, es war an der Zeit, dass sie heirateten. Das stand für sie zweifelsfrei fest.
»Jambo, Sango.« Ein junger Mann, ein Duala, war von der Plantage gekommen und an Robert herangetreten.
»Jambo, Adisa«, grüßte Robert zurück.
»Sango kommen, Bäume krank.«
Hamza fing den Ball, den Franz soeben noch geworfen hatte, und hielt ihn fest. Dann sprach er ein paar Worte auf Duala mit Adisa und wandte sich dann an Robert.
»Die Kakaopflanzen sind befallen«, klärte er auf. »Ich weiß nicht, wie es in eurer Sprache heißt. Es sind kleine Tiere, die die Bäume wie mit einem Netz überziehen und sie krank machen. Die Blätter werden braun, und die Bäume tragen keine Früchte mehr.«
Robert verzog sorgenvoll das Gesicht. Seit er die Plantage in Kamerun gekauft hatte, hatte er sich mit allen möglichen Schädlingen rund um die Kakaopflanzen beschäftigt. Das, was Hamza beschrieb, deutete auf Spinnmilben hin. Robert hoffte inständig, dass dies nicht der Fall wäre.
Wegen des Überfalls im letzten Jahr, bei dem sein Verwalter Heinrich Begemann das Leben verloren hatte und eine gesamte Schiffsladung Kakaobohnen vernichtet worden war, hatte die Familie erhebliche finanzielle Verluste erlitten. Zwar war es Robert mithilfe von Hamza gelungen, von den umliegenden Plantagen genug Kakaobohnen aufzukaufen, um alle Bestellungen erfüllen zu können. Doch hatte er dafür viel Geld bezahlt und musste die Plantage mitsamt seinen Duala ebenfalls versorgen, sodass er an den Bohnen so gut wie nichts verdient hatte. Die Hauptsache war jedoch, dass die Belieferung seiner Kunden sichergestellt war. Schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren und konnte keinesfalls riskieren, seine Verträge nicht einzuhalten und dadurch die Kunden an andere Händler zu verlieren. Nicht nach allem, was er in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte.
Es war schwer genug gewesen, dem Namen Hansen wieder die Bedeutung zu verleihen, die er einmal gehabt hatte. Robert hatte hart dafür arbeiten müssen, und er hatte viel gegeben, um das Kontor nach dem Tode des Vaters erneut zur Blüte zu führen. Unermüdlich war er gewesen, hatte manche Nacht durchgearbeitet und sich bis zur Erschöpfung angetrieben. Seine Ehe mit Elisabeth war zu Bruch gegangen, obgleich man das kaum als Verlust bezeichnen konnte. Die Zeiten waren hart gewesen, und es hatte nur die ferne Hoffnung gegeben, dass die Plantage in Kamerun die Rettung bringen könnte. Er hatte alles investiert und auch gegen den Willen Georgs seinen und Karls Plan durchgesetzt, das Hauptgeschäft von Kaffee- auf Kakaobohnen umzustellen. Das Kontor verkaufte seither beides, und inzwischen hatte das Kakaogeschäft fast den Umfang des Kaffeehandels erreicht. Robert konnte und wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn ihm nun erneut Umsatzeinbußen entstehen sollten. Nicht nach allem, was er geschafft hatte.
»Franz, gehst du bitte mit deiner Schwester für eine Weile zu deiner Mutter? Hamza und ich haben etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Sind die Pflanzen wirklich krank?«, fragte Franz, der nur das aus dem kurzen Gespräch entnommen hatte.
»Möglich. Genau deshalb müssen wir nach ihnen sehen, damit wir sie wieder gesund machen können.«
»Kommt dann der Doktor?«
Robert streichelte ihm übers Haar. »Hamza ist unser Pflanzendoktor, er wird die Kakaobäume wieder gesund machen.«
Franz blickte zu Hamza auf. »Viel Glück«, wünschte er ihm, nahm ihm den Ball ab, streckte Helene die Hand hin, die sie sogleich nahm, und ging folgsam mit seiner kleinen Schwester zur Veranda hinüber.
Therese war aus ihrem Rattanstuhl aufgestanden und half Franz und Helene, die Stufen zur Veranda zu nehmen. Sie warf Robert einen besorgten Blick zu.
»Es wird alles gut«, sagte er und bemühte sich um ein Lächeln. Doch Therese konnte ihm die Sorge aus dem Gesicht ablesen.
Wortlos gingen Robert, Hamza und Adisa zur Plantage, wo die Duala sich bereits an den Pflanzen zu schaffen machten und bereitwillig den Blick darauf freigaben, als sie die drei Männer kommen sahen. Robert trat nah an die Bäume heran, konnte aber im ersten Moment nichts erkennen.
»Hier.« Adisa riss einer der noch jungen Pflanzen ein Blatt ab und reichte es Robert.
Hamza befühlte in der Zwischenzeit die Bäume, rieb mit den Fingern über die Blätter.
»Spinnmilben«, sagte Robert mehr zu sich selbst, als er die kleinen, feinen Sprenkel auf den Blättern sah. »Verdammt!«, schimpfte er dann laut.
Hamza sagte nichts, ging von einem Baum zum nächsten, bückte sich zur Erde, befühlte dann wieder die Stämme und Blätter. »Es ist zu trocken«, sagte er dann. »So können sie sich ausbreiten.«
»Was können wir tun?«
»Wir müssen Wasser haben. Viel Wasser.« Hamza rieb die Blätter zwischen seinen Fingern. »Die Luft ist zu trocken.« Er sah sich um. »Wir werden nicht alle Pflanzen retten können, das schaffen wir nicht.«
»Wie ist dein Plan?«
Hamza deutete mit dem Arm auf den oberhalb der Plantage gelegenen Stausee. »Wir müssen einen Abzweig bauen, durch den das Wasser mit hoher Geschwindigkeit fließen kann. Und wir müssen alle Laken, Decken und Tücher zusammentragen, die wir bekommen können.«
»Weshalb das?«
»Diese …« Hamza rieb mit den Fingern, weil ihm gerade das Wort nicht mehr einfiel, das Robert genannt hatte.
»Spinnmilbe.«
»Ja, Spinnmilbe. Sie breitet sich während der Trockenzeit aus, wie gesagt. Wir werden die Bäume auf nicht mehr als drei Meter Höhe stutzen und von oben mit viel Wasser abspülen. Dann werden wir Stoffbahnen darüberspannen und die immer wieder befeuchten. Dadurch erhöhen wir die Luftfeuchtigkeit für die Pflanzen und machen sie so wieder gesund.«
»Genial. Der Plan ist wirklich genial«, freute sich Robert und klopfte Hamza auf den Rücken. Dann sah er auf die Bäume. »Aber wie sollen wir das schaffen? So viele Tücher und Decken gibt es in ganz Kamerun nicht.«
»Wir werden nicht alle retten können«, wiederholte Hamza. »Aber wir werden viele retten können. Und wir müssen sofort beginnen. Ich werde die Duala ausschicken, um von überallher Laken, Decken und Stoffe zu besorgen.«
»Die Weberei!«, rief Robert aus, dem dieser Einfall soeben gekommen war. »Die Weberei in Viktoria. Dort können wir auf einmal mehr Stoff kaufen, als wir anderswo einsammeln können.«
»Das sollten wir möglichst schnell machen.« Hamza sah Robert ernst an. »Nicht sehr viele wissen, wie man den Pflanzen helfen kann. Doch einige schon. Und es ist überall trocken zurzeit. Die Spinnmilben«, er sprach das Wort langsam aus, unsicher, ob er es sich richtig gemerkt hatte, »werden sich ausbreiten, und alle Plantagenbesitzer haben dann das gleiche Problem. Der Stoff wird schon bald knapp werden. Dann sollten jedoch unsere Bäume bereits überspannt sein.«
Fast erschreckte es Robert ein wenig, wie kühl Hamza plante und dabei genau kalkulierte, um Schaden von der Plantage abzuwenden. Er war ein kluger, ein sehr kluger junger Mann, und er würde es gewiss weit bringen in seinem Leben. Robert ertappte sich bei der Überlegung, welche Möglichkeiten Hamza wohl gehabt hätte, wenn er nicht mit schwarzer, sondern weißer Haut zur Welt gekommen wäre.
»Lass es uns so machen«, sagte er schließlich.
»Gut. Ich nehme alle Karren, die wir haben, und werde mit einigen Männern nach Viktoria aufbrechen.«
»Viktoria kann unsere Rettung bedeuten«, sagte Robert mit einem Lächeln. »Die Stadt trägt denselben Namen wie Luises Tochter. Wenn das kein gutes Zeichen ist!«
Hamza bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln, doch die Bemerkung schnitt in eine Wunde, die noch lange zum Verheilen brauchen würde. »Ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte er und wandte sich zum Gehen.
»Hamza?«, hielt Robert ihn noch einmal zurück.
»Ja?« Er wandte sich seinem Herrn wieder zu.
»Ich bin unglaublich froh, dich an meiner Seite zu haben. Du bist einer der klügsten Menschen, mit denen ich das Vergnügen habe, zu arbeiten.«
Hamza freute sich über das Lob, doch seine Gedanken kreisten um die Pflanzen und darum, so viele wie möglich von ihnen zu retten. »Danke. Darf ich jetzt gehen?«
»Aber ja, natürlich. Ich wollte es dir nur einmal gesagt haben, weil es oft im Alltag untergeht.«
Hamza nickte. »Adisa«, sagte er dann zu seinem Stammesbruder, »du kümmerst dich um den Abzweig. Wir brauchen immer enger werdende Rohre, um die Fließgeschwindigkeit zu erhöhen. Und wir müssen Stützen setzen. Das Wasser nützt uns nichts, wenn es im Boden versickert. Baut Pfähle zwischen den Bäumen auf, damit die Rinnen darauf zu liegen kommen. Wenn die Bäume gestutzt sind und wir den Stoff haben, spannen wir ihn über die Bäume und legen die Rinnen auf die Stützen. Ihr müsst kleine Löcher in die Rinnen bohren, damit das Wasser gleichmäßig abgegeben wird. Hast du verstanden?«
»Ja, Hamza«, antwortete Adisa beflissen und rannte los, um die anderen Duala zu holen.
»Komm«, sagte dann Robert. »Gehen wir zur Farm. Ich gebe dir genug Geld mit, damit du allen Stoff kaufen kannst, der verfügbar ist.«
Hamza sagte nichts, als er an Roberts Seite zum Haus zurückeilte. Offenbar war er ganz in Gedanken. Robert empfand aufrichtige Bewunderung für ihn, weil er Adisa soeben so klar und deutlich angeleitet hatte. Offenbar sah Hamza die gesamte Konstruktion schon genau vor sich.
Als sie die Farm erreichten, saß Therese noch immer auf der Veranda und spielte mit den Kindern. »Und? Wie schlimm ist es?«, fragte sie.
»Es ist ernst, doch Hamza hat bereits einen Plan, wie er einen Großteil der Pflanzen retten kann. Ich erkläre es dir gleich«, sagte Robert. »Doch erst muss ich Hamza Geld geben, damit er Stoff kaufen kann. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Robert ging ins Haus, während Hamza bei Therese und den Kindern auf der Veranda stehen blieb.
»Kannst du die Pflanzen wirklich gesund machen?«, fragte Franz.
»Nicht alle, aber die meisten schon«, antwortete Hamza.
»Dann bist du wirklich ein richtiger Doktor«, befand Franz und sah dann zu Robert, der in diesem Moment wieder herauskam.
Dieser reichte Hamza eine prall gefüllte Geldtasche. »Keinem außer dir würde ich so viel Geld anvertrauen, Hamza. Ich muss dringend nach Hamburg telegrafieren und mir Geld schicken lassen, sonst sind die Pflanzen gesund, während wir nichts mehr zu essen haben«, scherzte Robert, doch Hamza erwiderte das Lächeln nicht.
»Ich werde so wenig wie möglich ausgeben«, kündigte er an.
»Ich weiß. Pass gut auf dich auf!«
»Das werde ich.« Hamza machte kehrt und ging fort, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Er ist ein wirklich bemerkenswerter junger Mann«, sagte Robert zu Therese und setzte sich dann auf den Stuhl neben ihr. »Weißt du, was sein Plan ist? Wir werden ein ausgeklügeltes Luftbefeuchtungssystem für die Pflanzen bauen. Und das ist ihm einfach so eingefallen, mit allem Drum und Dran, während er über die Kakaoblätter gestrichen hat. Er wusste sofort, was zu tun ist.«
»Wie du es eben sagtest, er ist wirklich bemerkenswert«, pflichtete Therese ihm bei. »Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
»Ich fürchte, nein. Aber auf mich wirst du für einige Tage verzichten müssen. Wir müssen Rohre bauen und einen Abzweig vom Stausee anlegen. Dafür brauchen wir jeden Mann, den wir kriegen können. Hamza wird recht lange brauchen, bis er mit den Männern und dem Stoff zurück ist. Er muss vor Ort verhandeln, und vermutlich werden die Karren schwer beladen sein. Der Weg wird einige Zeit in Anspruch nehmen, und in dieser Zeit müssen wir so viel wie möglich schaffen.«
»Kann ich auch mithelfen?«, fragte Franz. »Ich werde auch ganz genau machen, was du mir sagst.«
»Aber nein, Franz, das ist nur etwas für die Großen«, widersprach Therese.
»Aber ich bin schon ganz schön groß!«, empörte sich Franz.
»Das stimmt, Franz, aber …«, setzte Robert an, überlegte es sich dann jedoch anders. »Du hast vollkommen recht. Du bist wirklich schon ein großer Junge. Weißt du, was wir unbedingt brauchen?«
»Was?«
»Wir brauchen jemanden, der groß und kräftig genug ist, in ein Holzrohr Löcher zu bohren.«
»Aber, Robert, das kann er doch unmöglich«, warf Therese ein.
»Ich habe ein Werkzeug, das wir für diesen Zweck nehmen können, und ich bin sicher, du kriegst das hin. Willst du es versuchen?«
»Ja!«, rief Franz begeistert. »Bitte, Mama, bitte.«
»Ich werde ja ohnehin überstimmt«, gab Therese nach.
»Danke!« Franz fiel ihr um den Hals und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
»Wartet hier«, bat Robert, lief ins Haus und kam kurz darauf mit einem Werkzeug zurück, das Therese entfernt an einen Kleiderbügel von der Größe einer Hand erinnerte, an dessen Ende eine Spitze mit einem Gewinde nach unten ragte.
»Komm, Franz«, sagte Robert, »ich zeige dir, wie es geht.« Zusammen gingen sie ans Ende der Veranda. Robert ging in die Hocke und piekte das Werkzeug mit der Spitze ins Holz. »So, siehst du? Und jetzt musst du drehen, bis ein Loch im Holz ist.«
Franz kniete sich hin, nahm das Werkzeug und verfuhr genauso, wie Robert es ihm soeben gezeigt hatte.
Er drehte einige Male, bis Robert sagte: »Das genügt schon. Du sollst ja schließlich nicht die Veranda zum Einsturz bringen.«
Franz lachte fröhlich auf.
»Sehr gut. Und nun dreh in die andere Richtung, bis du den Bohrer wieder herausziehen kannst.«
Franz tat, wie ihm geheißen, und als er das Werkzeug wieder aus dem Holz zog, war dort ein kleines rundes Loch zu erkennen. »Ich habe es geschafft! Sieh nur Mutter, ich habe ein Loch gebohrt!«
Therese stand auf, und auch Helene, die zuvor ganz ruhig dagesessen und mit dem kleinen Stoffkissen, das sie immer bei sich trug, gespielt hatte, sah, durch den Jubel ihres Bruders alarmiert, auf.
»Das hast du wirklich prima gemacht«, lobte Robert. »Dann stelle ich dich hiermit als offiziellen Lochbohrer zur Rettung unserer Plantage ein.« Er hielt Franz die Hand hin, der mit gewichtiger Miene einschlug.
Therese beugte sich hinunter, um das Loch ebenfalls zu begutachten. »Sehr schön, Franz. Wirklich. Ich bin stolz auf dich.«
»So«, Robert erhob sich, »nun muss ich aber gehen. Bestimmt hat Adisa schon die Duala zusammengetrommelt und ist mit ihnen auf dem Weg nach oben zum Stausee.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte Franz.
»Nein, Franz, jetzt nicht. Wir müssen erst zum Stausee hoch, und einige werden bereits mit der Fertigung der Rinnen beginnen, durch die das Wasser auf die Kakaobäume fließen soll. Sobald die ersten fertig sind, kommt dein großer Moment, und du kannst mit dem Löcherbohren beginnen. Aber vorher geht es nicht. Jeder hat seine Aufgabe. Das verstehst du doch?«
Franz schien seine Antwort abzuwägen. Zwar wollte er am liebsten gleich mitgehen, doch Robert hatte ihm erklärt, wann er zum Einsatz käme. Und das war jetzt noch nicht der Fall. »Ja«, entschied er. »Das verstehe ich.«
»Gut. Sehr gut. Und bohr bis dahin bitte keine Löcher mehr in die Veranda, hast du gehört?«
»Jawoll, Herr Oberadmiral!« Franz sprang auf und stand stramm. Diesen Ausdruck hatte er aus einer der Geschichten in Erinnerung behalten, die ihm ein Stammgast im Wiener Kaffeehaus erzählt hatte.
Robert lächelte, stand auf und wuschelte Franz durchs Haar. »Du bist aber auch wirklich ein Original!« Er sah Therese verliebt an. »Ich kann mir nach gerade einmal einer Woche nicht mehr vorstellen, dass ihr irgendwann nicht hier wart. Mit euch ist einfach alles schöner!« Er machte einen Schritt auf Therese zu, zog sie ganz selbstverständlich an sich und küsste sie.
Franz sah verlegen zu Boden. Er fand es peinlich, wenn sich zwei Menschen küssten. Aber da seine Mutter und sein Onkel es taten, störte es ihn nicht besonders.