12. Kapitel
Wien, Samstag, 6. April 1895
»Ich glaube, er war die ganze Nacht da draußen.« Vera warf Frederike einen bangen Blick zu. »Am Abend hatte ich starke Kopfschmerzen und bin früh zu Bett gegangen. Ich nahm an, Georg würde länger im Kontor bleiben. Aber als ich heute Morgen die Vorhänge aufzog, hat er dort auf der Terrasse gesessen. Er hat kein einziges Wort gesagt und nur vor sich hin gestarrt.«
Frederike, die sofort gekommen war, als Käthe im Auftrag von Vera die Nachricht überbracht hatte, dass etwas mit Georg nicht stimme, betrachtete nun ihren Vater, der vollkommen erschöpft wirkte und mit offenen Augen im Sessel saß. Er schien weder sie noch seine Frau wahrzunehmen.
»Es ist richtig unheimlich«, fügte Vera hinzu.
»Hast du nach dem Arzt geschickt?«
Vera schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte erst mit dir sprechen, was du davon hältst.«
Frederike berührte ihn an der Schulter. »Vater?« Sie rüttelte ihn sanft.
Er regte sich nicht, sondern murmelte nur: »Ich bin so müde, ich kann nicht mehr. Bitte lasst mich einfach hier sitzen.«
»Wir müssen unbedingt den Arzt holen«, beschloss Frederike.
Vera drehte sich zu Käthe um, die im Türrahmen stand und in einiger Entfernung abwartete, was passierte. Sie hatte am Morgen mitgeholfen, Georg behutsam von dem Terrassenstuhl hochzuziehen und ihn mit langsamen Schritten zu dem Sessel zu führen, in dem er jetzt saß.
»Hol den Doktor«, ordnete Vera an. »Und sag ihm, dass er sich beeilen soll.«
»Jawohl, gnädige Frau.« Käthe knickste und eilte davon.
Ein paarmal sprach Frederike ihren Vater noch an, gab es aber dann auf. Ob er deshalb nicht auf sie reagierte, weil sie sich gestern gestritten hatten? Womöglich war sie zu hart mit ihm ins Gericht gegangen. Doch sie hatte sich so sehr über ihn geärgert, weil sie einfach nicht verstehen konnte, weshalb er sich gerade jetzt, wo ein Ruck durch ihre Mutter gegangen war und alles gut werden könnte, so benahm. Was fehlte ihm denn in seinem Leben, dass er so unglücklich war?
Sie musste an gestern Abend denken, als Anton zu ihr gekommen war, um ihr von der Beförderung zu erzählen, die er erhalten hatte. Er wollte mit ihr feiern, doch eigentlich war ihr nach der Auseinandersetzung mit ihrem Vater so gar nicht danach gewesen. Doch sie wollte Anton nicht enttäuschen und ihm die Freude über die Beförderung nicht verderben. So willigte sie ein, den Wein mit ihm zu trinken, den er eigens zur Feier des Tages gekauft hatte. Je mehr sie davon getrunken hatte, desto weniger dachte sie noch an den Streit mit ihrem Vater und gab sich ganz dem Glücksgefühl hin, das Anton mit ihr teilte. Er war so selig, so ausgelassen, ja er war über die Maßen erleichtert und hatte Frederike wieder und wieder erzählt, dass er kurz nach Arbeitsbeginn in das Büro von Florentinus Loising, dem Chef der Loising Eisenwarenfabrik, gerufen wurde.
Er war nie zuvor in dessen Büro gewesen, nicht einmal, als er damals eingestellt wurde. Denn Vorgänge wie Einstellungen oder auch Entlassungen überließ Loising stets den jeweiligen Abteilungsleitern. Er selbst hatte Wichtigeres zu tun, als sich um die Belange der Angestellten zu kümmern. Entsprechend nervös war er deshalb zur Sekretärin Florentinus Loisings gegangen, hatte seinen Namen genannt und gesagt, dass er zum Chef bestellt worden sei. Sie hatte freundlich erwidert, dass er bereits erwartet werde, was Anton endgültig in Schweiß ausbrechen ließ. Mit etwas zaghaften Schritten war er durch die Tür getreten und hatte sich mehrfach unauffällig die Hand an der Hose abgewischt, bevor er sie Florentinus Loising gereicht hatte.
Wie Anton erzählte, hatte sich Florentinus einen kleinen Spaß daraus gemacht, ihn eine Weile zappeln zu lassen, bevor er mit der Nachricht herausgerückt war, dass er fortan die Stelle des Leiters im Verkauf einnehmen werde.
Selbst als Loising es ausgesprochen hatte, konnte Anton noch nicht glauben, ihn richtig verstanden zu haben. Eine solche Position wurde in einer Firma wie der Loising Eisenwarenfabrik normalerweise nur langjährigen Mitarbeitern übertragen, die meist schon etwas fortgeschrittenen Alters waren und weit mehr Erfahrung als Anton Messinger hatten. Doch Loising hatte betont, dass er Antons enormen Einsatz registriert habe und es zu schätzen wisse, wie engagiert und ehrgeizig er sich hochgekämpft hatte.
Für Anton war es der bisher glücklichste Tag in seinem Leben, denn diese Beförderung bedeutete neben neuen Aufgaben und der hiermit verbundenen Verantwortung vor allem auch, dass er künftig ein beachtliches Gehalt verdienen würde und sich alles leisten könnte, was sein Herz begehrte. Er hatte Frederike vorgeschwärmt, dass sie ihre Kleider nun in den teuersten Schneidereien fertigen lassen könnte. Sie würde Hüte tragen, die in Paris Mode waren, Kristallflakons mit edlen Parfüms würden auf ihrem Spiegeltisch stehen. Sie würden in der feinen Gesellschaft Wiens verkehren, und man würde Antons Rat suchen, wenn es um neue Verkaufsmethoden und andere geschäftliche Angelegenheiten ging.
Der Wein war an diesem Abend in Strömen geflossen, und irgendwann waren sie sich in die Arme gesunken, und Frederike hatte sich ihm hingegeben. Es war das erste Mal gewesen, denn eigentlich hatte Frederike damit bis nach der Hochzeit warten wollen. Doch es waren nur noch drei Monate, bis sie Antons Frau würde, und in der ausgelassenen Stimmung des gestrigen Abends hatte es sich einfach richtig angefühlt.
Am nächsten Morgen jedoch direkt wieder ins normale Alltagsleben zu tauchen und mit den Schwierigkeiten ihrer Eltern konfrontiert zu sein, machte es ihr schwer, dem Gefühl noch nachzuspüren. Aber so war es nun einmal.
»Komm, lassen wir ihn in Frieden«, entschied Frederike. »Wir gehen lieber in die Küche, bis der Arzt kommt. Hier können wir im Moment ohnehin nichts tun.«
Vera nickte wortlos, warf aber noch einen letzten Blick auf Georg. Kam es ihr nur so vor, oder war ihr Mann innerhalb eines Tages um Jahre gealtert?
Mit sorgenvoller Miene folgte sie Frederike, die bereits Wasser in den Kessel füllte und ihn auf die Gasflamme stellte. »Ist denn gestern Abend etwas vorgefallen, als er nach Hause kam?«, fragte sie ihre Mutter. »Ich meine, habt ihr euch gestritten oder irgendetwas in der Art?«
Sie setzten sich zusammen an den Tisch, während das Wasser im Kessel langsam heiß wurde.
»Ich habe ihn ja nicht mal zu Gesicht bekommen«, erklärte Vera. »Ich habe mir tatsächlich Sorgen gemacht, weil er nicht wie gewohnt aus dem Kontor nach Hause gekommen ist, dachte dann aber, dass er womöglich dort aufgehalten wurde, und bin irgendwann einfach zu Bett gegangen.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Ich habe gestern Abend noch die Gardinen zur Terrasse zugezogen. Womöglich hat er da schon in seinem Stuhl gesessen, und ich habe ihn einfach übersehen.«
»Wahrscheinlich war er noch gar nicht da. Mach dir keine Vorwürfe.«
Der Kessel begann zu pfeifen, und Frederike nahm ihn von der Flamme und ließ das kochende Wasser durchs Teesieb in die Porzellankanne laufen.
»Hoffentlich bin ich nicht schuld daran«, sagte Vera.
»Wieso du? Was hast du denn getan?«
»Nun ja, wir haben uns vorgestern Abend, nachdem du und ich den wunderbaren Spaziergang gemacht haben, zusammengesetzt und das erste Mal seit vielen Wochen richtig miteinander gesprochen. Und dabei haben wir festgestellt, dass wir wohl beide nicht mehr glücklich sind.«
»Was soll das heißen?«
»Dein Vater hat mir gestanden, dass er in der letzten Zeit sein Leben immer mehr hinterfragt hat. Ich glaube, er kämpft mit sich wegen der Fehler, die er begangen hat. Doch ich habe ihm gesagt, dass er sich deshalb nicht mehr grämen soll, denn wir tragen beide unseren Anteil an den Fehlern in der Vergangenheit. Und weißt du, das erste Mal seit langer Zeit hatte ich wieder das Gefühl, deinen Vater zu verstehen.«
Frederike schluckte schwer. Das, was ihre Mutter sagte, klang anders als das, was sie am gestrigen Tag von ihrem Vater gehört hatte. »Aber was verstehst du denn?«
»Er ist sehr unglücklich, Frederike, doch das habe ich wegen meines eigenen Kummers und meiner Wut gar nicht erkennen können. Nun jedoch, als wir uns ausgesprochen haben, wurde mir und wohl auch ihm klar, dass wir beide in dieser Ehe verharren, die uns nicht guttut.« Sie räusperte sich. »Es ist mein Wunsch, nach Hamburg zurückzugehen. Du kennst deinen Vater. Er ist ein Ehrenmann und würde nicht zulassen, mich unversorgt zu wissen. Vielleicht wäre es wirklich am besten so.« Sie lächelte liebevoll in der Erinnerung an das Gespräch. »Ich glaube, ich habe die ganze Zeit eine solche Angst davor gehabt, wieder von ihm verlassen zu werden, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass eine Trennung in Wirklichkeit das Einzige war, was ich selbst wollte.«
Frederike räusperte sich. »Ich habe Vater gestern Morgen, bevor ich selbst zur Arbeit ging, im Kontor besucht«, erzählte sie. »Da hat er mir gesagt, dass ihr miteinander gesprochen habt und er in Erwägung zieht, dich zu verlassen.«
Vera lächelte milde. »Er ist ein wahrer Gentleman. Wahrscheinlich wollte er es auf sich nehmen, damit ich besser dastehe und nicht als eine Frau, die ihren Mann im Stich lässt. Eigenartig«, sagte sie nachdenklich. »Wenn ich jetzt so in mich hineinspüre, dann ist da doch noch sehr viel Gefühl für ihn. Womöglich musste erst alles so kommen, damit ich das wieder spüren kann.«
Frederike wurde ganz übel. All die Gemeinheiten, die sie ihrem Vater an den Kopf geworfen, und die Beleidigungen, die sie ihm entgegengeschleudert hatte! Sie versuchte sich zu erinnern, was genau sie gestern gesagt hatte, doch ihre Gedanken kreisten zu wild in ihrem Kopf, als dass sie einen zu fassen bekam.
Aus dem Eingangsbereich waren Geräusche zu hören. Kurz darauf rief Käthe: »Gnädige Frau? Der Arzt ist da!«
Vera und Frederike sprangen auf und verließen eilig die Küche.
»Doktor Vogler.« Vera ging auf ihn zu. »Haben Sie vielen Dank, dass Sie so rasch gekommen sind.«
»Guten Tag, Frau Hansen.« Er reichte Vera die Hand und nickte Frederike zu. »Wo ist Ihr Mann?«
»Dort drin.« Vera deutete zum Wohnzimmer.
Ohne zu zögern, ging der Arzt hinüber, verlangsamte dann aber seinen Schritt, als er Georg sah, und trat behutsam an ihn heran. »Herr Hansen, guten Tag. Können Sie mich hören?«
Georg starrte weiter vor sich hin, ohne auf die Ansprache des Arztes zu reagieren.
»Hat er ein Medikament genommen?«, fragte Dr. Vogler und drehte sich zu Vera um.
»Nicht, dass ich wüsste. Ich dachte gestern, dass er noch länger im Kontor wäre, und bin irgendwann ins Bett gegangen. Als ich dann heute Morgen die Vorhänge aufzog, sah ich ihn auf der Terrasse sitzen. In demselben Zustand wie jetzt.«
»Hm«, machte Dr. Vogler, klappte seine Tasche auf und zog ein Stethoskop hervor, um Georg abzuhören. Er öffnete Georgs Weste und knöpfte das Hemd im Brustbereich ein wenig auf.
Vera, Frederike und Käthe wagten fast nicht zu atmen. Gebannt warteten sie auf eine Reaktion des Arztes, der sich jedoch Zeit ließ.
Dr. Vogler legte das Stethoskop beiseite, fasste Georgs Handgelenk und prüfte den Puls. Dann stellte er sich wieder aufrecht hin.
»Körperlich scheint auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein.« Er bückte sich, zog Georgs Hosenbeine bis zu den Knien hoch und ließ sie nach einigen prüfenden Blicken wieder herunter. Dann öffnete er das Hemd noch ein wenig weiter und betrachtete den Bauch. »Soweit ich feststellen kann, ohne dass ich ihn entkleidet habe, hat er keine äußeren Verletzungen.«
»Aber warum hört er uns denn dann gar nicht?«
»Was hat Ihr Mann gemacht, bevor er in diesen Zustand fiel?«
Vera zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ich weiß nicht einmal genau, wann er nach Hause gekommen ist. Als er gestern Morgen zur Arbeit ging, war noch alles in Ordnung.«
»Ich hatte gestern einen Streit mit ihm«, brachte sich Frederike ein. »Könnte das der Grund sein?«
»Nun, ein einfacher Streit dürfte wohl kaum ausreichen, um einen solchen Zustand hervorzurufen«, meinte Dr. Vogler. »Ich bin kein Facharzt für Neurologie. Doch es scheint vieles auf einen Nervenzusammenbruch hinzudeuten. War er in letzter Zeit ungewöhnlich großer Belastung ausgesetzt?«
Vera zuckte die Schultern. »Er hat zwar viel im Kontor zu tun, aber ob es mehr ist als sonst, kann ich beim besten Willen nicht beurteilen.«
Dr. Vogler schien zu überlegen. »Bitte, meine Damen, helfen Sie mir, ihn dort drüben hinzulegen.« Er deutete zur Couch.
Dr. Vogler trat neben Georgs Stuhl, legte sich dessen Arm um die Schulter, während Frederike auf die andere Seite ging und ihn am Arm unterhakte. »Bei drei. Eins, zwei, drei.« Mit einem Ruck zogen sie Georg hoch, wobei die größte Last der Arzt trug. Georgs Füße bewegten sich zwar, schlurften aber in kleinen Schritten über den Teppich. Langsam ließen sie ihn auf die Couch sinken, und Dr. Vogler nahm Georgs Beine und legte sie hoch.
Vera zog ihrem Mann die Schuhe aus, und Käthe holte eine Decke, die sie über ihn ausbreitete.
Dr. Vogler öffnete abermals seine Tasche und holte eine Spritze hervor, mit der er aus einem kleinen Fläschchen etwas Flüssigkeit aufzog.
Vera hob Georg noch einmal an, um ihm das Jackett auszuziehen, wobei Frederike ihr zur Hand ging. Dann krempelte sie den Hemdsärmel auf.
»Ich werde ihm jetzt etwas zur Entspannung geben, dann wird er eine Weile schlafen«, kündigte Dr. Vogler an. »Wenn er wieder zu sich kommt und sich keine Besserung einstellt, werden wir ihn ins Hospital bringen müssen.«
Der Arzt setzte die Spritze und drückte langsam die klare Flüssigkeit in Georgs Vene. Vera drehte den Kopf weg.
Als er fertig war, erhob sich Dr. Vogler. »Ich werde morgen wiederkommen, um nach ihm zu sehen«, sagte er.
»Am Sonntag?«, vergewisserte sich Vera verwundert. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Herr Doktor. Haben Sie vielen Dank.«
Dr. Vogler nickte, warf noch einen letzten Blick auf Georg, der die Augen nun geschlossen hatte. Offenbar zeigte die Spritze bereits Wirkung. Der Arzt hatte schon von Fällen gehört, in denen Patienten von einem Tag auf den anderen überhaupt nichts mehr wahrgenommen hatten.
Es blieb zu hoffen, dass dies hier nicht der Fall war und Körper und Geist einfach nur Ruhe brauchten, um danach ihren Dienst wieder aufzunehmen. Wenn nicht, gäbe es nicht allzu viel, was man für Georg Hansen tun könnte. Doch das musste die Zeit zeigen.