15. Kapitel
Hamburg, Freitag, 12. April 1895
»Hier sind die Papiere.« Sie reichte dem Kriminalpolizisten einen Umschlag. »Wenn Sie jetzt bitte aufsperren würden.«
Richard erhob sich von seiner Pritsche, auf der er nun schon fast eine Woche ausgeharrt hatte, und trat an die Gitterstäbe. »Tante Elisabeth?« Die Verwunderung war ihm ins Gesicht geschrieben.
Der Kriminalpolizist hatte die Prüfung der Unterlagen abgeschlossen, die dazu dienten, den Gefangenen vorerst auf freien Fuß zu setzen, bis endgültig entschieden war, ob genug Beweise vorhanden waren, um ihm den Prozess zu machen. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. »Er gehört Ihnen«, meldete er.
»Das steht zu befürchten«, erwiderte Elisabeth sarkastisch und verzog das Gesicht.
»Was machst du eigentlich hier?« Richard konnte noch immer nicht glauben, dass es wirklich seine Tante war, zu der er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, die nun vor ihm stand und offenbar dafür gesorgt hatte, dass er freigelassen wurde.
»Na, einer musste sich ja um dich kümmern. Und nach allem, was vorgefallen ist, gehe ich eher nicht davon aus, dass jemand aus der Familie Hansen das tun wird.«
»Aber warum du?« Er trat langsam durch die Tür.
»Nun, nur weil ich Abstand gewahrt habe, heißt das nicht zwangsläufig, dass ich mich nicht auf dem Laufenden gehalten hätte.«
Sie verließen den Zellentrakt, und der Polizist brachte sie bis zu der nächsten Tür, wo sie ein weiterer Diensthabender in Empfang nahm.
»Hier entlang«, sagte er, und Elisabeth und Richard folgten ihm, bis sie den hinteren Bereich der Kriminalwache erreicht hatten, wo sich die Büros anschlossen und es schließlich ins Freie ging.
»Wenn Sie mir das hier noch unterzeichnen, wäre alles erledigt.« Der Polizist hielt Elisabeth einen Stift hin, und sie kritzelte eilig ihren Namen darauf.
»War’s das?«, fragte Elisabeth knapp.
»Ja. Guten Tag.«
Elisabeth erwiderte den Gruß nicht, sondern ging wortlos hinaus. Richard trottete hinter ihr her. Draußen angekommen, fragte er sofort: »Und jetzt?«
»Als Erstes solltest du ein Bad nehmen«, befand Elisabeth und rümpfte die Nase.
Richard zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wohin.«
»Du kommst natürlich erst einmal mit zu mir.« Sie deutete auf die Kutsche, die bereitstand. »Zunächst werde ich nach dem Schneider schicken und dich neu einkleiden lassen. So kannst du ja schlecht herumlaufen. Und dann werden wir weitersehen.«
»Danke, Tante Elisabeth. Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne dich tun sollte.«
»Mach dir keine Gedanken darum.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und nun lass uns fahren.«
Richard ließ Elisabeth höflich den Vortritt und stieg dann ebenfalls in die Kutsche ein. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt – er wusste wirklich zum ersten Mal in seinem Leben nicht weiter. Wieder und wieder hatte er in den letzten Tagen, während er auf der schmutzigen Pritsche gelegen und an die Decke gestarrt hatte, darüber nachgedacht, wie Luise ihm wohl auf die Schliche gekommen war. Woher hatte sie gewusst oder zumindest geahnt, dass er hinter den Diebstählen steckte? Und weshalb war sie genau zur rechten Zeit im Lager gewesen und hatte die Falle zuschnappen lassen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Elisabeth musterte ihn. »Du hattest schon immer ein Händchen dafür, dich in Schwierigkeiten zu bringen.«
Richard wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr zu widersprechen. Nicht nur, weil sie recht hatte, sondern weil in diesem Fall die Tatsachen so klar und deutlich auf dem Tisch lagen, dass er trotz seiner Begabung, Ausreden und Geschichten aus dem Ärmel zu schütteln, dieses Mal an seine Grenzen stieß. »Das schwarze Schaf der Familie«, urteilte er über sich selbst.
»Einer sehr langweiligen Familie«, fügte Elisabeth hinzu. »Es ist eben nicht jeder von uns dafür gemacht, sich an die Regeln zu halten. Wer wüsste das besser als ich?«
Richard war überrascht, wie unverhohlen seine Tante damit Bezug auf den Ehebruch nahm, den sie sich mit seinem Vater erlaubt hatte. War sie deshalb hier? Hatte sie womöglich ein schlechtes Gewissen, weil durch ihre Affäre mit ihrem Schwager auch seine Zukunft in Mitleidenschaft gezogen worden war? Er sah ihr in die Augen. Nein. Diese Frau hatte kein schlechtes Gewissen. Vermutlich besaß sie überhaupt keines.
»Warum hast du mich da rausgeholt?«, fragte er sie nun direkt.
»Wie ich schon sagte, es hätte wohl sonst niemand getan, und ich kann dich doch nicht einfach auf dieser Polizeiwache verrotten lassen.«
»Ich hatte eigentlich nie das Gefühl, dass ich dir besonders am Herzen liege«, entgegnete Richard. »Insofern finde ich diese Frage berechtigt.«
»Du gehörst zu meiner früheren Familie«, stellte Elisabeth fest. »Und nur, weil du nicht frei von Lastern bist, hast du es mitnichten verdient, in den Dreck getreten zu werden.«
Richard sah sie an. »Du willst irgendwas von mir, richtig?«
»Ein wenig zynisch für einen Mann, der gerade erst wieder die Luft der Freiheit atmet, findest du nicht?«
Richard erwiderte nichts, und nach einer Weile umspielte ein Schmunzeln Elisabeths Lippen. »Selbstverständlich will ich etwas«, gab sie dann freimütig zu.
»Und was?«
»Niemand ist gern allein, Richard. Nicht einmal ich.«
Richard verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
»Mein Mann ist gerade gestorben. Hast du nicht davon gehört?«
»Doch, habe ich. Mein Beileid.«
»Danke«, gab Elisabeth kühl zurück.
»Ich vermute aber hoffentlich richtig, dass du nicht ihn durch mich ersetzen möchtest?«
»Ich bitte dich, Richard! Hol deine Gedanken aus der Gosse und bleib realistisch.« Sie hob arrogant die Augenbrauen. »Ich habe viel über alles, was geschehen ist, nachgedacht, und … nun ja, ich muss zugeben, dass ich noch immer ein wenig gekränkt bin.«
»Gekränkt?«
»Aber ja. Ich bin der Auffassung, dass Robert sich mehr hätte anstrengen müssen, um mich zu halten. Auch dass sich Luise und Martha von mir abgewandt haben, war unverhältnismäßig.«
Richard behielt für sich, dass er Elisabeths Einstellung nicht im Geringsten teilte. Aber es amüsierte ihn, wie dreist sie die Schuld auf andere schob. »Und was erwartest du von mir? Dass ich hingehe und ihnen eins über den Kopf ziehe? – Bei Luise wäre es mir allerdings eine Freude«, fügte er noch hinzu.
»Ich bitte dich, Richard! Ein etwas subtileres Vorgehen würde ich dir durchaus zutrauen.«
»Und ich vermute, du hast auch schon eine Idee?«
»Noch nichts Konkretes. Doch ich verfüge über erhebliche Geldmittel, und mit vereinten Kräften wird uns doch etwas Interessantes einfallen, meinst du nicht?«
Die Kutsche hielt an. Kurz darauf öffnete der Kutscher den Schlag und reichte Elisabeth seine helfende Hand zum Aussteigen. Richard folgte. Er pfiff durch die Zähne, als er an der prächtigen Villa hinaufsah, vor der sie standen. »Alle Achtung! Das nenne ich mal ein Häuschen.«
»Mein verstorbener Gatte hatte einen exquisiten Geschmack«, bemerkte Elisabeth spitz. »Komm.«
Zusammen gingen sie zum Haus, dessen Tür soeben geöffnet wurde. Ein Diener trat heraus, der Elisabeth mit einer tiefen Verbeugung begrüßte. »Guten Tag, gnädige Frau.«
»Uwe, das ist mein Neffe Richard Hansen. Richte ihm ein Gästezimmer her.«
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Richard, Uwe war der persönliche Diener meines Mannes. Und jetzt ist er mir ebenso treu ergeben«, sagte Elisabeth. »Ist es nicht so, Uwe?«
»Wie gnädige Frau meinen«, gab dieser zurück.
Sie gingen ins Haus, wo Elisabeth den teuren Mantel, den sie trug, einfach von ihren Schultern gleiten und achtlos zu Boden fallen ließ. Mit zwei schnellen Schritten war Uwe zur Stelle und hob das luxuriöse Stück auf.
»Komm, Richard. Setzen wir uns, bevor du dich frisch
machst.« Richard folgte ihr ins Wohnzimmer, das fast doppelt so groß war wie das in der Hansen-Villa. Uwe kam ebenfalls hinterher und wartete an der Tür weitere Befehle seiner Herrschaft ab.
»Uwe, gib dem Personal Bescheid, dass für meinen Neffen ein Bad eingelassen wird. Und lass den Schneider meines Mannes kommen. Ich erwarte, dass er innerhalb der nächsten zwei Stunden hier eintrifft. Sag ihm das.«
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Gut.« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie ihn verscheuchen. »Nun geh schon, oder glaubst du, die Aufträge erledigen sich von selbst?«
»Wie Sie wünschen, gnädige Frau.« Er verbeugte sich tief und schloss dann die Tür von außen.
»Er hasst mich«, stellte Elisabeth mit einem maliziösen Lächeln fest. »Er hat mehr als zwanzig Jahre meinem Mann gedient, und der hat in seinem Testament verfügt, dass Uwe eine Anstellung auf Lebenszeit bei demjenigen haben soll, der ihn beerbt. Und das bin eben ich.«
»Gibt es keine Möglichkeit, ihn dennoch zu entlassen? Beispielsweise mit einer Abfindung?«
»Aber nein, warum sollte ich denn so etwas tun? Er ist pünktlich, fleißig und über jeden Zweifel erhaben im Anleiten des Personals. Weshalb sollte ich ihm kündigen wollen?«
»Sagtest du nicht eben, dass er dich hasst?«
»Allerdings.« Sie lachte laut. »Aber ich störe mich durchaus nicht daran. Ganz abgesehen davon«, sie hob den Zeigefinger, »wenn Uwe selbst es ist, der kündigt, wäre die letztwillige Verfügung hinfällig. Ich kann also nur gewinnen. Schön, nicht wahr?«
Es klopfte.
»Herein«, sagte Elisabeth.
Ein Dienstmädchen, Richard schätzte sie nicht älter als
achtzehn oder neunzehn Jahre, trat ein und knickste. Sie trug ein Tablett in der Hand, auf dem ein einzelnes gefülltes Glas stand. »Ihr Champagner, gnädige Frau.« Sie ging auf Elisabeth zu und wartete, bis diese das Glas vom Tablett genommen hatte.
»Danke, Lotte. Der junge Mann dort ist mein Neffe, Richard Hansen.«
Das Dienstmädchen wandte sich Richard zu und knickste erneut. »Guten Tag, gnädiger Herr.«
»Guten Tag, Lotte.«
Das Mädchen lächelte schüchtern.
»Was möchtest du trinken, Richard? Ich bevorzuge Champagner. Es ist Lottes wichtigste Aufgabe, stets dafür zu sorgen, dass ich ein eiskaltes Glas Champagner bekomme, sobald ich nach Hause komme.«
»Dann nehme ich auch eines.«
»Sehr wohl, gnädiger Herr.« Noch einmal knickste Lotte und ging wieder hinaus.
»Hübsches Ding«, urteilte Richard.
»Nimm sie dir. Aber nur, wenn sie es auch will. Ich habe gewisse Prinzipien.«
»Danke, aber ich bin verheiratet.«
»Ach ja, richtig. Mit dieser Elsa, nicht wahr? Und eure Tochter heißt Marie.« Elisabeth trank einen Schluck und sah Richard über den Rand des Champagnerglases an. »Und wo ist deine Angetraute jetzt?«
Die Frage versetzte Richard einen Stich. Er hatte tatsächlich nicht einen einzigen Moment darüber nachgedacht, wie es wohl Elsa und Marie seit seiner Verhaftung ergangen war. Waren die beiden, weil er schließlich ihr Ehemann und Vater war, von Luise vor die Tür gesetzt worden? Eigentlich konnte er es sich nicht vorstellen, denn Luise und Elsa hatten sich immer gut verstanden. Fast schon zu gut für seinen Geschmack, da Luise seiner Frau immer wieder Flausen in den Kopf setzte mit
ihrem Gefasel, wie wichtig es auch für Frauen sei, zu arbeiten, und derlei Unfug.
»Ich vermute mal, dass sie noch in der Villa ist«, antwortete er dann auf Elisabeths Frage.
»Du vermutest?«
»Ich hatte seit meiner Verhaftung keine Gelegenheit, mit Elsa zu sprechen.«
»Sie hat dich also nicht ein einziges Mal besucht?« Elisabeth verzog den Mund. Es war schwer zu deuten, ob sie versuchte, ein Schmunzeln zu unterdrücken.
»Ganz so einfach ist es sicher nicht, in eine Kriminalpolizeiwache zu spazieren und einen Gefangenen sprechen zu wollen.«
»Da irrst du, mein Lieber. Für die Ehefrau ist es ein Leichtes, glaub mir. Könnte es womöglich sein, dass sie dich gar nicht besuchen
wollte?
«
Es klopfte, und auf Elisabeths Weisung betrat Lotte erneut den Raum. Wie schon vorhin hielt sie ein Tablett mit einem einzigen gefüllten Champagnerglas in der Hand, nur dass sie dieses Mal vor Richard knickste und wartete, bis er sich das Glas nahm.
»Danke, Lotte.«
»Bitte, gnädiger Herr.«
Sein Blick haftete noch auf ihrem Hinterteil, als sie das Wohnzimmer wieder verließ.
Richard überlegte einen Moment, dann fragte er: »Wenn ich hier wohnen kann, wie verhält es sich mit meiner Familie? Ich trage schließlich die Verantwortung für Elsa und Marie.«
»Ach, wenn deine Mutter dich doch jetzt hören könnte! Sie wäre gewiss sehr stolz auf dich«, amüsierte sich Elisabeth. »Aber ich will es dir nicht schwer machen. Du kannst die Kutsche nehmen und die beiden holen.«
»Gestattest du, dass ich vorher mein Bad nehme?«
»Ich würde dir sogar dazu raten.« Sie ging zu ihm hinüber, griff nach dem Revers seines Anzugs, schnupperte daran und verzog das Gesicht. »Es wäre reichlich dumm, sich so in der Villa Hansen sehen zu lassen.« Sie ging zur Tür. »Uwe!«, rief sie laut.
»Ja, gnädige Frau?«
»Mein Neffe wünscht nun sein Bad zu nehmen.«
»Sehr wohl, gnädige Frau.«
Richard trat aus dem Wohnzimmer in den Flur.
»Wenn der gnädige Herr mir bitte folgen wollen. Das Badezimmer befindet sich oben.«
»Danke sehr.« Richard ging zur Treppe.
»Ach, Uwe, gib meinem Neffen zunächst etwas von meinem verstorbenen Gatten zum Anziehen. Und verbrenn das Zeug, das er anhatte. Das ist ja widerlich.«
»Sehr wohl, gnädige Frau.«
Damit gingen Richard und Uwe nach oben, und Elisabeth rief nach Lotte, die ihr noch ein Glas Champagner bringen sollte. Ja, ihr war wahrlich zum Feiern zumute.
Richard und sie waren sich sehr ähnlich, wie sie meinte. Es tat gut, jemanden um sich zu haben, vor dem sie sich nicht zu verstellen brauchte. Und gewiss würde es der Stimmung im Haus guttun, wenn Elsa mit der Tochter Marie hier ebenfalls eine Bleibe fände. Obwohl Elisabeth nicht behaupten konnte, dass sie es früher besonders genossen hätte, als ihre eigenen Mädchen noch klein gewesen waren und oftmals reichlich Lärm im Haus verursacht hatten. Aber nun ja, zumindest war sie jetzt nicht mehr allein und konnte endlich an ihren Zukunftsplänen arbeiten. Vor allem aber würde sie der Familie Hansen einen empfindlichen Schlag versetzen, indem sie Richard, der das Kontor bestohlen hatte, bei sich aufnahm.
Dabei fiel ihr ein, dass sie den Mann, den sie zu Beobachtungszwecken in der Erdgeschosswohnung gegenüber vom Kontor eingemietet hatte, nun getrost abziehen konnte.
Sie hatte alles über Richard erfahren, was sie erfahren wollte. Noch wusste sie nicht, ob sie ihm sagen würde, dass sie ihn hatte beschatten lassen. Womöglich hätte sie Richard warnen können, dass man ihm auf die Schliche gekommen war, denn ihr Angestellter hatte ja mitbekommen, dass Luise nur so getan hatte, als würde sie sich über das Ausspionieren durch ihren Mann echauffieren. Aber das war Schnee von gestern und jetzt ohnehin nicht mehr zu ändern, obwohl die Ereignisse, die zu Richards Verhaftung geführt hatten, Elisabeths Pläne tatsächlich ein wenig überholt hatten.
Es dauerte eine volle Stunde, bis Richard nach Elisabeths Dafürhalten so weit war, um zu den Hansens fahren zu können. Die größte Schwierigkeit hatte darin bestanden, eine passende Hose zu finden, da Elisabeths verstorbener Ehemann August um einen guten Kopf kleiner war als Richard, was sich in der Hosenlänge entsprechend bemerkbar machte.
Schließlich hatten sie Paul, einen Bediensteten aus der Küche, genötigt, seine Ausgehhose zu holen und Richard diese leihweise zu überlassen. Richard bekam noch ein passendes Hemd, und auch die Weste war kein Problem. Als Sakko wählte er eines von Augusts Freizeitjacketts, das etwas legerer saß und so seinen Zweck erfüllte.
Schließlich stieg Richard in die Kutsche. Elisabeth hatte darauf verzichtet, mitzufahren, und Richard darüber hinaus mit auf den Weg gegeben, ihren Namen vorerst ungenannt zu lassen. So genau wusste sie noch nicht, wie sie künftig vorgehen wollte. Nur dass es nicht klug wäre, den Hansens bereits jetzt zu offenbaren, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten. Das würden sie schon früh genug herausfinden und zu spüren bekommen, dafür würde Elisabeth Sorge tragen.
Richard war tatsächlich nervös und rieb sich mehrfach die feuchten Hände an der Hose ab. Luise war um diese
Zeit vermutlich bereits zu Hause und ihr Mann ebenfalls. Es war schon mit Luise nicht zu spaßen, doch Richard hatte schmerzhaft herausfinden müssen, dass ihr Ehemann eine verdammt harte Rechte schlug und es gewiss wieder täte, sollte ihm Richards Besuch nicht gefallen. Kurz fragte er sich, ob er wohl auf die Unterstützung von Elisabeths Kutscher zählen konnte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Er durfte es nicht so weit kommen lassen. Denn nach den Tagen in der Gefängniszelle hatte er einfach nicht mehr die Kraft für eine solche Auseinandersetzung.
Jetzt erst fragte er sich, wie es mit der Anzeige, die gegen ihn gestellt wurde, wohl weiterginge. Elisabeth hatte ihn aus der Untersuchungshaft freibekommen, das ja. Doch gewiss würde das Verfahren gegen ihn weiterbetrieben werden, und er würde sich vor einem Richter für den Diebstahl und die Unterschlagung verantworten müssen.
Es war eine verdammte Misere! Und schuld an all dem waren nur die verdammten Pokerrunden, bei denen er todsicher betrogen worden war, davon war er inzwischen überzeugt. Bestimmt steckten die anderen unter einer Decke, hatten ihn an der Nase herumgeführt und Stück für Stück ausgenommen. Das würden ihm diese Kerle noch büßen, so viel stand fest. Doch erst einmal musste er seine eigene Haut retten und versuchen, so unbeschadet wie möglich aus dieser unseligen Geschichte wieder herauszukommen.
Während der Zeit im Gefängnis hatte er überlegt, welche Optionen er hatte. Viele waren es nicht, genau genommen waren ihm nur zwei eingefallen: Er könnte sich an Kröger, dem er die gestohlenen Bohnen verkauft hatte, wenden und ihn um eine Anstellung bitten. Irgendetwas, mit dem er sich erst einmal über Wasser halten könnte. Oder aber sich nach Wien durchschlagen und seine Eltern um Hilfe bitten. Zweifellos konnte er ihnen nicht die Wahrheit darüber sagen, was geschehen war.
Aber er könnte jemand anders beschuldigen, ihm die Taten untergeschoben zu haben, und behaupten, Luise hätte die Chance genutzt, um ihn, der das Kontor so erfolgreich zu führen wusste, aus der Firma zu drängen. Schließlich war es Robert gewesen, der ihm die Anstellung gegeben hatte, und es war kein Geheimnis, dass Luise sich eher unwillig in die Entscheidung des Vaters, Richard eine Chance zu geben, gefügt hatte.
Nun jedoch, mit Elisabeths Hilfe und weil sie eigene Pläne im Hinblick auf die Hansens hatte, boten sich völlig neue Möglichkeiten. Zwar war seine Tante bisher nicht konkret geworden, was sie eigentlich vorhatte. Doch das lag daran, dass sie es selbst noch nicht genau wusste, wie sie ihm vorhin gestanden hatte. Und das glaubte er ihr auch.
Der Kutscher verlangsamte das Tempo und hielt schließlich vor der Hansen-Villa an. Noch bevor er vom Kutschbock heruntersteigen konnte, öffnete Richard den Schlag und stieg aus.
Er atmete tief durch, als er die Stufen zur Villa hinaufstieg. Kurz überlegte er, ob er anklopfen sollte, ließ es dann aber bleiben und drückte die Klinke herunter. Die Tür war jedoch verschlossen. Ungewöhnlich, denn normalerweise sperrte das Personal erst zu wesentlich späterer Stunde ab. Also zog er seinen Schlüssel hervor und schob ihn ins Schloss, drehen ließ er sich jedoch nicht. Er versuchte es abermals vergeblich, dann zog er den Schlüssel wütend wieder heraus und klopfte energisch an.
»Einen Moment«, hörte er Annas Stimme. Gleich darauf wurde von innen ein Schlüssel umgedreht und die Tür geöffnet. Anna machte erschrocken einen Schritt rückwärts, als sie Richard vor sich stehen sah. »Guten Tag, gnädiger … äh, Herr Hansen.«
Allein diese Anrede der Haushälterin, die ihm ihre deutliche Abneigung, ja Geringschätzung signalisierte, entfachte seine Wut noch mehr. Ohne zu zögern, trat er ein.
»Verzeihen Sie, aber Sie können nicht einfach … also, Sie dürfen nicht …«
»Lass nur, Anna. Ich werde das erledigen.« Hans war, vom Lärm alarmiert, aus dem Wohnzimmer in den Flur getreten. Luise mit Viktoria auf dem Arm folgte ihm. Direkt dahinter schloss sich Elsa zögerlich an.
»Wer hat dich denn rausgelassen?«, fragte Luise voller Abscheu. Dann ging sie zu Anna hinüber und gab ihr Viktoria in den Arm. »Wärst du so nett, mit ihr und Marie nach oben zu gehen?«
Die Haushälterin nickte ängstlich. »Jawohl, gnädige Frau.« Sie übernahm Viktoria und hielt Marie, die sich hinter dem Rock ihrer Mutter versteckte, die Hand hin. »Komm, Marie, Liebes.«
Die Kleine zögerte. Elsa nahm sie an die Hand und führte sie zu Anna. Dann trottete das Mädchen folgsam mit Anna die Stufen hinauf.
»Also«, fragte Hans, als Anna mit den Kindern oben angekommen war, »was willst du hier?«
»Keine Sorge, ihr seid mich gleich wieder los.«
»Wieso bist du überhaupt auf freiem Fuß?«, wollte Luise wissen.
»Nun, offenbar wiegt mein vermeintliches Verbrechen nicht so schwer, wie du denkst.« Er hob den Kopf.
»Das waren noch Zeiten, als man Dieben die Hände abhackte!«, gab Luise bissig zurück.
»Bitte, Luise.« Hans warf ihr einen kurzen Blick zu. »Er soll sagen, was ihn herführt, und dann wieder verschwinden.«
Luise nickte. Sie musste sich zusammenreißen, um Richard nicht noch weitere Beschimpfungen an den Kopf zu werfen.
Hans wandte sich wieder Richard zu und wiederholte: »Also?«
»Ich wollte mich vergewissern, dass es Elsa und Marie gut geht, und sie mitnehmen.«
»Mitnehmen? Ins Gefängnis?«
»Ich bin nicht mehr im Gefängnis, wie du siehst.«
»Sondern?«
»Das geht dich gar nichts an, du Hexe.«
Luise wollte auffahren, doch eine Geste von Hans mahnte sie zur Ruhe.
»Luise hat dich etwas gefragt. Oder meinst du nicht, dass zumindest deine Frau ein Recht hat, zu erfahren, wo du sie hinbringen willst?«
»Nun, genau genommen, in eine Villa. Und zwar eine sehr viel größere und schönere als diese hier.« Er sah zu Elsa und streckte ihr die Hand entgegen. »Pack das Nötigste, und dann kommen du und Marie mit mir.« Er lächelte sie an.
Elsa zögerte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Hast du es getan?«, flüsterte sie mit gesenktem Blick.
Richard räusperte sich. »Wir können später darüber reden. Dann erkläre ich dir alles in Ruhe.«
Elsa schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will das hier und jetzt klären, solange Luise und Hans dabei sind.« Sie hob den Blick und sah ihrem Mann jetzt in die Augen. »Sie haben mir erzählt, was geschehen ist, doch ich konnte es zuerst gar nicht glauben.« Sie machte einen Schritt auf ihren Mann zu. »Haben sie gelogen, Richard? Haben sie gelogen, als sie sagten, du wärst es gewesen, der das Kontor bestohlen hat?«
»Es ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst«, wollte sich Richard herauswinden.
Elsa schluckte schwer und räusperte sich. Sie atmete tief durch. »Doch, Richard, es ist so einfach«, sagte sie nun mit festerer Stimme. »Sag mir: Hast du mit zwei anderen Männern Säcke mit Bohnen gegen solche mit Sand ausgetauscht, die Bohnen auf eigene Rechnung verkauft und damit das Kontor bestohlen? Dir bleibt jetzt nichts als die Wahrheit.«
Richards Miene wurde ernst. »Das Geld, das ich mir damit
hinzuverdient habe, brauchte ich, um für uns ein gutes Leben aufzubauen.« Richard machte einen Schritt auf Elsa zu und fasste sie an den Schultern. »Ich verdiene nicht genug, damit wir uns all das leisten können, was uns zusteht. Es liegt nicht an mir, dass ich meines Erbes beraubt wurde. Das musst du doch einsehen.«
Elsa atmete nochmals tief durch. »Und dieser Mann, den du damals fristlos entlassen hast – hatte der etwas damit zu tun?«
Richard sah zu Boden. »Nein.« Er schüttelte den Kopf und sah auch nicht auf, als er weitersprach. »Er war ein Bauernopfer.«
Elsa nickte. »Wenigstens bist du jetzt ehrlich und beleidigst mich nicht, indem du weiter lügst.« Sie legte einen Zeigefinger unter sein Kinn und hob seinen Kopf an, sodass er ihr direkt in die Augen blicken musste. »Dann habe ich nur noch eine letzte Frage an dich: Hast du damals die Säcke auf Luise herabgeworfen, die sie fast getötet hätten?«
Richard suchte nach Worten. »Was soll das hier werden? Ein Verhör? Willst du mir ein Geständnis entlocken?«
»Ich muss es wissen. Ich muss einfach!« Es klang fast flehend.
»Genug damit«, entschied Richard. »Marie und du, ihr kommt jetzt mit mir, und wir können ein andermal über all das sprechen, was du noch wissen willst.«
»Also hast du es getan«, erkannte Elsa. »Und wie so oft hattest du nicht den Mut, zu deinen Taten zu stehen. Du wirst dich also niemals ändern.«
»Ich will jetzt nicht mehr darüber reden«, stellte Richard ärgerlich klar.
»Gut. Ich auch nicht.« Elsa trat einige Schritte zurück. »Ich werde nicht mit dir kommen, Richard. Ich bleibe hier und Marie auch.«
»Ich bin dein Mann, und ich entscheide für dich, Elsa. Und ich sage, dass du mit mir mitkommst!«
»Du hast sie doch gehört«, mischte sich Luise ein. »Wenn Elsa hierbleiben möchte, dann kann sie das. Sie gehört zur Familie, du nicht mehr.«
»Halt dein dreckiges Maul und misch dich hier nicht ein!«, fuhr Richard Luise an.
»Das reicht jetzt!«, ging Hans dazwischen. »Wag es nicht noch einmal, so mit meiner Frau zu sprechen, sonst wirst du es bereuen!«
»Das Recht ist auf meiner Seite. Elsa und Marie kommen mit mir.«
»
Das Recht
«
,
Hans hob den Zeigefinger, »wird gewiss keine Ehefrau zwingen, mit ihrem kriminellen Ehemann zu gehen. Abgesehen davon ist es schon fast komisch, dass ausgerechnet du auf das Recht pochst.« Er trat näher an Richard heran. »Und jetzt ist alles gesagt. Du hast die Familie bestohlen und sogar versucht, meine Frau zu töten. Was auch immer du vorhast, um Elsa zu dir zu holen – wir werden es zu verhindern wissen. Sie steht unter dem Schutz der Familie. Und zur Familie zähle ich auch jeden einzelnen Mitarbeiter im Kontor und alle, die für die Familie Petersen arbeiten. Glaub mir, Richard, bei aller Wut, die in dir schwelt, solltest du dein bisschen Verstand zusammennehmen und dich einfach davonmachen. Wenn du Elsa nur ein einziges Mal noch belästigst, gibt es keinen noch so kleinen Winkel in Hamburg, in dem du dich verstecken kannst, ohne dass wir dich finden.«
»Die Denkweise deiner Frau hat schon zu sehr auf dich abgefärbt«, sagte Richard höhnisch und machte einen Schritt rückwärts. »Von dir, Hans, hätte ich mehr erwartet. Doch ich werde mich zurückziehen, um die Situation für Elsa nicht noch schlimmer zu machen, als sie es schon ist. Doch ich sage euch, ihr werdet mich wiedersehen, und zwar unter ganz anderen
Umständen, als ihr euch vorstellen könnt. Ihr habt Feinde, mächtige Feinde, und ich werde ihnen dabei helfen, euch zu zerstören.« Ein gefährliches Lächeln spielte um seine Lippen. »Und das schon bald. Verlasst euch darauf!« Damit machte er kehrt und verließ im Eilschritt die Villa.
Er würde wiederkommen, dessen war er sich sicher.