18. Kapitel
Wien, Dienstag, 16. April 1895
Felix staunte nicht schlecht, als er das Kontor betrat und nicht nur von Georg, sondern auch von Vera begrüßt wurde.
»Vielen Dank, Felix, dass du dich in der letzten Woche um alles gekümmert hast.«
»Sehr gern geschehen, Herr Hansen. Geht es Ihnen denn jetzt wieder besser?«
»Mir geht es sogar ausgezeichnet. Ich habe mich nie besser gefühlt«, gab Georg euphorisch zurück. Er legte seine Hand auf Veras Arm. »Und wir werden künftig Unterstützung von meiner Frau erhalten.«
Felix wusste nicht, was er davon halten sollte. Bisher waren immer nur er und sein Chef im Kontor gewesen, erst Karl und nun dessen Bruder Georg Hansen. Er fragte sich, ob er bald überflüssig würde.
»Keine Sorge, Felix!« Vera schien seine Gedanken zu ahnen. »Ich habe nicht vor, dir deinen Posten streitig zu machen«, sagte sie freundlich. »Wir haben nur beschlossen, künftig mehr Zeit
miteinander
zu verbringen statt nebeneinander.«
»Ja, gut« war alles, was Felix dazu einfiel. »Werde ich dann in Zukunft irgendwelche anderen Aufgaben haben?«
»Nein, Felix, es bleibt alles beim Alten. Vera wird uns zur Hand gehen und aushelfen. Und es kann durchaus sein, dass wir dir das Kontor öfter mal, wenn nicht zu viel zu tun ist, allein überlassen und einen Spaziergang machen oder in Thereses Kaffeehaus etwas trinken gehen.«
Felix verstand langsam, in welche Richtung es ging. »Das klingt wirklich sehr gut«, befand er. »Ich gebe zu, einen kleinen Moment befürchtete ich, bald keine Anstellung mehr zu haben.«
»Nein, Felix, genau das Gegenteil ist der Fall«, versicherte Vera und griff nach einem Lappen. »Ich werde heute als Erstes die Regale abwischen«, erklärte sie.
»Sie, gnädige Frau? Aber das kann ich doch machen.«
»Nein, Felix, du musst verkaufen und dich zusammen mit meinem Mann ums Lager kümmern. Keine Sorge. Auch wenn ich es bisher in meinem Leben kaum getan habe, kann ich einen Lappen halten und auch damit umgehen.«
Felix wusste darauf zunächst nichts zu erwidern und sagte schließlich: »Na, dann gehe ich mir wohl am besten meine Schürze holen.«
»Mach das«, sagte Vera und lächelte ihn offen an. Es war so unglaublich schön, dass man sie aus ihrer Lethargie gerissen hatte. Allein der Gedanke daran, mit einer Häkelarbeit zu Hause zu sitzen und vor sich hin zu starren, verursachte ihr Gänsehaut.
So arbeiteten die drei in stillem Einvernehmen bis zum Mittag. Dann kündigten Vera und Georg an, einen kleinen Spaziergang zu machen und anschließend kurz essen zu gehen. Felix’ Anspannung hatte längst nachgelassen, und er wünschte ihnen gut gelaunt eine schöne Mittagspause.
Dann verließ Vera an Georgs Arm das Kontor und sie schlugen den Weg zu Thereses Kaffeehaus ein.
»Und? Hat dir das Arbeiten heute gefallen?«, fragte Georg.
»Es ist wirklich unglaublich.« Vera schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Freude an niederen Arbeiten haben könnte, doch genau so ist es. Es hat mir nicht das Geringste ausgemacht, die Regale zu putzen, ganz im Gegenteil.«
»Das Gefühl kenne ich. Weißt du, wann es mir so geht?«
»Nein.«
»Beim Säckestapeln.«
Vera lachte. »Beim Säckestapeln?«, echote sie.
»Ja, verrückt, oder? Du weißt doch, wie bemüht Felix immer ist. Was glaubst du, wie er mich ansah, wenn ich ihn anwies, in sauberer Kleidung vorn im Verkaufsraum zu stehen und die Kunden zu bedienen, während ich – sein Chef – hinten im Lager die schmutzigen Säcke in die Regale hievte.«
Vera lachte erneut auf. »Ja, ich kann mir sein entsetztes Gesicht bildlich vorstellen.«
»Ist es nicht eigenartig, wie wir uns verändert haben? Du, eine Dame der besten Gesellschaft, die sich immer für alles zu fein war, und ich, der steife Hanseat, dem nichts wichtiger war als sein Ansehen.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Und nun sieh uns an. Nach über fünfundzwanzig Jahren Ehe gehen wir hier nebeneinander wie beste Freunde, plaudern und scherzen und kümmern uns nicht darum, was die anderen denken. Das ist doch verrückt, oder?«
»Aber schön verrückt«, betonte Vera.
Sie bogen um die nächste Ecke und erreichten das Kaffeehaus. Als sie eintraten, eilte Judith an ihnen vorbei.
»Guten Tag, die Herrschaften«, grüßte sie. »Einen kleinen Moment bitte.« Sie hastete in die Küche und kam mit zwei Gedecken zurück, die sie Vroni, einer Serviererin, übergab, die soeben aus dem Gastraum kam. »Tisch vier«, wies Judith sie an und wandte sich dann den neuen Gästen zu. »Ach, das ist ja
eine Überraschung! Guten Tag, Frau Hansen … Herr Hansen«, sie reichte den beiden nacheinander die Hand. »Wie schön, Sie einmal hier begrüßen zu dürfen!«
»Sie haben ja alle Hände voll zu tun, wie wir sehen«, bemerkte Georg. »Hätten Sie denn überhaupt noch ein Plätzchen für uns?«
»Für Sie beide immer«, gab Judith gut gelaunt zurück. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Sie ging voraus, steuerte auf einen von zwei freien Tischen zu und zog den Stuhl für Vera zurück. »Wäre es Ihnen hier angenehm?«
»Der Tisch ist sehr schön, vielen Dank.« Vera nahm Platz, und Georg setzte sich ihr gegenüber.
»Wissen Sie schon, was ich Ihnen bringen darf, oder möchten Sie einen Blick in die Karte werfen?«
»Wir würden gern etwas essen«, sagte Georg. »Aber nur eine Kleinigkeit.«
»Wie wäre es denn mit einem Omelett?«, schlug Judith vor.
Vera und Georg tauschten einen Blick. »Das wäre genau das Richtige«, fand Vera.
»Gut. Dann bitte zweimal das Omelett«, bestellte Georg, »und ich trinke dazu eine Tasse Kaffee.«
»Ich ebenfalls.« Vera lächelte Judith zu.
»Sehr wohl. Zweimal Omelett und herrlich duftenden Kaffee. Kommt sofort.«
»Eine reizende Person«, befand Vera. »Sie hat hier so viel zu tun, aber man meint, wenn man sie sieht, dass es ihr eine reine Freude ist, diese Arbeit zu machen.«
Georg blickte seine Frau an. »Fällt dir eigentlich auf, dass du seit Kurzem überall das Gute und Schöne wahrnimmst? Es ist sehr angenehm, mit dir zusammen zu sein.«
»Danke schön. Dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben.« Vera sah sich um. »Therese hat das alles wirklich überaus geschmackvoll eingerichtet, findest du nicht?«
»Allerdings. Ich weiß noch, wie ich mich beim ersten Mal, als ich hier war, wunderte, dass die Tische alle unterschiedlich aussahen und auch die Stühle nicht zusammenpassten. Dann erst wurde mir klar, dass es das Lokal so besonders macht.«
»Ja, es ist anders als jedes Kaffeehaus, das ich bisher gesehen habe.« Sie beugte sich mit verschwörerischer Miene zu ihm hinüber und zwinkerte mit einem Auge. »Wobei ich zugeben muss, dass es so viele gar nicht waren. Ich finde, wir sollten viel öfter ausgehen, vielleicht in ein gutes Speiselokal oder sogar zum Tanzen.«
»Bitte nicht tanzen!« Georg verzog gequält das Gesicht.
»Wenn ich tanzen möchte, dann tanzen wir«, entgegnete Vera streng, wobei sie jedoch schmunzelte. »Bewegung wäre wahrhaftig besser für mich als Essen.«
Georg lachte auf. »Du bist herrlich, Vera. Wo hast du nur diesen Witz all die Jahre versteckt? Ich kann mich nicht entsinnen, dass du dich je selbst so wenig ernst genommen hast.«
»Wahrscheinlich liegt genau darin das Geheimnis. Ich habe einfach alles viel zu ernst genommen.«
Judith kam mit zwei Tassen Kaffee an den Tisch und stellte sie ab. »So, bitte schön. Die Omeletts kommen sofort.«
»Danke sehr, Judith.«
»Ach, sagen Sie bitte, hat sich Therese vielleicht bei Ihnen gemeldet, wie es ihr so geht?«
Georg nickte. »Sie hat tatsächlich ein Telegramm ans Kontor gesandt, dass sie und die Kinder wohlbehalten angekommen sind.«
»Diese Nachricht hat sie hierher auch geschickt. Sonst jedoch noch nichts.«
»Bedenken Sie bitte, wie lange es dauert, bis ein Brief aus dem fernen Kamerun Wien erreicht, Judith. Selbst wenn sie ihn gleich am ersten Tag geschrieben hätte, wäre er frühestens übernächste Woche hier.«
Judith schüttelte den Kopf. »Aber natürlich. Irgendwie habe ich gar nicht richtig darüber nachgedacht.« Sie sah kurz zum Eingang, wo Vroni die Hand hob. »Ah, ich denke, Ihre Omeletts sind fertig. Ich bin gleich zurück.« Kurz darauf kam sie mit den Omeletts wieder an den Tisch. »Ganz frisch und wunderbar leicht. Einen guten Appetit, die Herrschaften.«
»Vielen Dank.« Vera schnupperte. »Die riechen ja herrlich. Einen guten Appetit, Georg.«
»Danke, dir auch.«
Sie nahmen die ersten Bissen und schwiegen eine Weile, dann fragte Georg: »Wärst du für mich nach Kamerun gereist, so wie Therese es für Robert getan hat?«
Vera überlegte. »Ich bin mit dir nach Wien gegangen.«
»Nun ja, zwischen Wien und Kamerun gibt es dann doch einen ziemlichen Unterschied, findest du nicht?«
»Ich will ganz offen sein, Georg, denn ich denke, das haben wir uns in den letzten Tagen erarbeitet: Im Nachhinein betrachtet, bin ich sogar überrascht, dass ich dich hierherbegleitet habe. Und um deine Frage zu beantworten: Mit dem Georg, mit dem ich nach Wien gekommen bin, wäre ich keinesfalls nach Kamerun gegangen. Mit dem Mann, der du jetzt bist, würde ich jedoch überallhin gehen. Ganz gleich, wohin.«
Georg griff über den Tisch nach ihrer Hand. Kurz überlegte er, ob er ihr gestehen sollte, dass er Gefühle für Therese entwickelt hatte. Oder es zumindest geglaubt hatte. Doch er befürchtete, damit all das zu zerstören, was sie die letzten Tage mühsam aufgebaut hatten. Und vor allem fand er, wenn er jetzt in sich hineinhorchte, nicht mehr das geringste romantische Gefühl für Therese. Was er sich ersehnt hatte, war wohl weniger Therese selbst, sondern vielmehr ihr Lächeln und ihre optimistische Art, also genau das, was er nun auch in Veras Gesicht ablesen konnte. Nein, er würde ihr nichts über Therese sagen. Es würde sie vollkommen unnötig verletzen.
Sie aßen, plauderten, dann machten sie sich auf den Rückweg zum Kontor. Dort arbeiteten sie zusammen noch bis etwa fünf Uhr am Nachmittag und begaben sich dann auf den Weg nach Hause. Als sie dort ankamen und Georg seiner Frau die Tür öffnete, strömte ihnen herrlicher Essensduft entgegen.
»Bis eben hatte ich noch keinen Hunger«, bemerkte Georg trocken. »Jetzt aber schon.«
Vera lächelte. »Käthe, wir sind zu Hause!«, rief sie und ging dann zur Küche, aus der Käthe gerade herauskam.
»Ah, die gnädigen Herrschaften. Hatten Sie einen angenehmen Tag?«
»Einen ganz wunderbaren, danke, Käthe.«
»Auf dem kleinen Schränkchen liegt ein Brief für Sie. Er ist aus Hamburg!«, strahlte sie.
»Von der Familie, wie schön!« Vera ging hinüber und nahm das Kuvert. Als Absender stand dort Luise Petersen. »Luise hat uns geschrieben, sieh nur.«
»Ach, das ist ja reizend.«
Vera öffnete den Umschlag und zog den Brief hervor. Dann setzten sie und Georg sich auf das Sofa, um ihn gemeinsam zu lesen.
Hamburg, Mittwoch, 10. April 1895
Liebe Tante Vera, lieber Onkel Georg!
Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie schwer es mir fällt, diesen Brief zu schreiben, denn ich muss Euch etwas mitteilen, das Euch gewiss zutiefst schockieren wird.
Es gab seit einiger Zeit Unregelmäßigkeiten im Kontor. Bereits vor Weihnachten stieß ich darauf, dass die Mengen des Einkaufs und des Verkaufs im Verhältnis zu den Einnahmen, die in die Kasse flossen, nicht übereinstimmten. Erinnert Ihr Euch an meinen Unfall? Das war der Tag, als ich der Sache damals auf den Grund
gehen wollte. Dazu bin ich an jenem Tag ins Kontor gefahren. Hierzu jedoch später mehr.
Nach meinen Entdeckungen und dem Unfall teilte Euer Sohn Richard mir mit, dass ich offenbar richtiglag mit meinem Verdacht, dass ein Dieb am Werk sein müsste. Er hat daraufhin einen unserer langjährigen Mitarbeiter, sein Name ist Gerhard Dietke, fristlos entlassen, den er seinen Angaben nach als den Schuldigen ausgemacht hatte.
Wie Ihr ja wisst, war ich nach dem Unfall mehrere Wochen lang nicht in der Lage, das Bett zu verlassen, geschweige denn meine Arbeit im Kontor wieder aufzunehmen. Daher war ich Richard aufrichtig dankbar, dass er mir so vieles abgenommen hat.
Nun bin ich jedoch in den vergangenen Wochen darauf gestoßen, dass erneut etwas mit den Einkäufen, Verkäufen und Einnahmen nicht stimmte, und bin der Sache wiederum auf den Grund gegangen. Ich möchte Euch nicht die ganzen Details in diesem Brief mitteilen. Dies sollten wir anlässlich eines Besuchs Eurerseits oder auch in Wien, falls wir Euch einmal besuchen kommen, besprechen.
Jedoch muss ich Euch – und ich bitte Euch, mir zu verzeihen, dies tun zu müssen – leider davon berichten, dass nicht Gerhard Dietke der Dieb war, sondern Euer Sohn. Wir haben Richard am vergangenen Samstag auf frischer Tat ertappt, wie er mithilfe zweier Kumpane die Bohnensäcke gegen Sandsäcke getauscht hat und diese in die Regale zurücklegen wollte. Es gab eine ganz und gar fürchterliche Auseinandersetzung, in der Richard mir ins Gesicht schrie, dass er sich nur genommen hat, was ihm seiner Meinung nach zusteht. Ja, er warf mir vor, nur einen Hungerlohn im Kontor zu erhalten. Doch das ist nicht wahr. Richard verdient mehr als jeder andere Angestellte, und tatsächlich hat mein Vater ihm seinerzeit das gleiche Gehalt bezahlt wie mir. Und so ist es bis zum Schluss geblieben. Ich kann Euch Abschriften der Buchhaltung zukommen lassen, falls Ihr mir nicht glauben solltet.
Einen Grund für den Diebstahl vermuten wir darin, dass Richard offenbar eine fatale Leidenschaft für das Glücksspiel entwickelt hat und einigen Leuten hohe Summen schuldet. Mehr weiß ich hierzu jedoch nicht zu sagen.
Liebe Tante, lieber Onkel, mir ist schwer ums Herz, Euch so schrecklich wehtun zu müssen mit diesem Brief. Aber ich denke, es wäre falsch, Euch in dem Glauben zu lassen, dass hier alles in Ordnung ist.
Ich habe Herrn Dietke seine alte Stelle wiedergegeben, was ihn überglücklich machte, doch war dies das einzig Gute an der ganzen unseligen Geschichte.
Richard und seine Kumpane wurden zur Polizeiwache abgeführt. Wie es nun weitergeht, weiß ich beim besten Willen nicht zu sagen. Allerdings hat er mir – unter Zeugen – indirekt gestanden, nicht nur für die Diebstähle damals verantwortlich gewesen zu sein, sondern auch für meinen beinahe tödlichen Sturz von der Leiter. Dies habe ich nicht zur Anzeige gebracht, jedoch ist für mich eine Wiedergutmachung und eine Versöhnung mit Richard vollkommen ausgeschlossen.
Um Elsa und Marie müsst Ihr Euch nicht sorgen. Sie haben damit nichts zu tun und werden weiterhin hier in der Villa bei der Familie wohnen. Ich werde Elsa im Kontor einige Aufgaben übertragen, sodass sie sich ein wenig Geld verdienen und so für ein Auskommen sorgen kann.
Ich hoffe inständig, dass Ihr mir nicht zürnt, denn ich bin mir natürlich bewusst, dass Euer erster Impuls sein wird, keinesfalls glauben zu wollen, dass Euer Sohn derartige Taten begangen hat. Und doch ist es so, und ich lüge oder übertreibe in keinster Weise. Das bitte ich Euch, mir zu glauben.
Nun schließe ich und warte von dem Moment, da ich diese Zeilen beim Postamt aufgebe, auf ein Zeichen von Euch.
Eure ergebene Nichte
Luise
Vera ließ den Brief mit zitternden Fingern sinken. Das konnte nicht sein, das
durfte
nicht sein!
Georg lehnte sich zurück, er wirkte fast benommen.
Einen Moment schwiegen sie. Dann wandte sich Vera zu ihrem Mann. »Glaubst du, Luise übertreibt?«
»Nein.« Georg schüttelte langsam den Kopf. »Leider glaube ich ihr jedes Wort.«
Vera schluckte schwer. »Ich leider ebenfalls.«