21. Kapitel
Kamerun/Wien/Hamburg, Mittwoch, 17. April 1895
Das Telegramm erreichte Robert und Georg fast zeitgleich, obwohl sie Tausende Kilometer voneinander entfernt und auf verschiedenen Kontinenten waren. Und die Reaktionen darauf fielen ebenfalls gleich aus: Sowohl Robert als auch Georg sprachen mit ihren Frauen und entschieden, umgehend nach Hamburg zu reisen, um Luise beizustehen und gemeinsam gegen Elisabeth und Richard vorzugehen.
»Es tut mir leid«, sagte Robert zu Therese, »aber wir werden die Hochzeit verschieben müssen.«
»Das steht doch außer Frage«, erwiderte sie. »Wann legt das nächste Schiff ab?«
»Übermorgen. Wir haben also nicht mehr viel Zeit.«
»Ich verstehe. Ich werde gleich anfangen, die Koffer zu packen.«
»Ja, bitte. Und ich werde sofort Hamza Bescheid geben.«
»Was willst du tun, wenn wir in Hamburg sind?«, fragte Therese.
»Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber ich habe die gesamte Überfahrt Zeit, mir etwas einfallen zu lassen.«
»Ich liebe dich.« Sie drückte sich an ihn. »Ich verstehe Menschen nicht, die so sind wie Richard und Elisabeth.«
»Ich auch nicht. Doch ich werde sie bekämpfen mit allem, was mir zur Verfügung steht. Ich dachte, die Sache mit Elisabeth sei ausgestanden. Aber da habe ich mich offenbar getäuscht.«
»Könnte sie es schaffen? Ich meine, könnte sie es schaffen, das Kontor in den Ruin zu treiben?«
»Niemals.« Es klang jedoch längst nicht so selbstsicher, wie Robert es sich gewünscht hätte. »Ich muss jetzt mit Hamza sprechen. Es wird den anderen Deutschen hier nicht gefallen, doch ich werde ihm die Verwaltung der Plantage während unserer Abwesenheit übertragen.«
»Lass die anderen reden, was sie wollen. Hamza ist der beste Mann für die Aufgabe, und es ist deine Plantage, nicht ihre.«
Robert nickte. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Und du bereitest hier schon mal alles vor.«
»Ja, Robert.« Mehr sagte sie nicht, denn er war schon zur Tür hinaus. Es würde die erste Bewährungsprobe für ihre Beziehung sein. Doch Therese war sicher, sie würden sie meistern.
»Wenn das stimmt, ist Richard für mich gestorben«, verkündete Vera. »Die Diebstähle waren schon fast mehr, als man ertragen konnte. Doch wenn er sich wirklich mit dieser Hexe verbündet hat, ist er nicht mehr mein Sohn.«
Georg nahm Veras Hand und sah sie ernst an. »Ändert es etwas zwischen uns?«
»Was meinst du?«
»Ich habe dein Gesicht gesehen, als ich dir das Telegramm vorlas. Du brauchst nur Elisabeths Namen zu hören und bist nicht mehr du selbst.«
»Es tut noch immer weh«, gestand Vera ein. »Doch ich bin stärker als früher. Ich werde das durchstehen. Wir«, sie betonte das Wort, »werden das durchstehen.«
»Hätte wir das Telegramm früher bekommen, hätten wir zusammen mit Frederike reisen können.«
»Dass so etwas geschieht, konnte nun wirklich niemand ahnen«, erwiderte Vera. »Kannst du Felix das Kontor guten Gewissens überlassen?«
»Für die Zeit, die wir in Hamburg sind, auf jeden Fall. Wir haben ja nicht vor, dortzubleiben. Oder?«
»Hast du Sorge, dass ich nicht wieder mit dir zurückgehe?«
»Na ja, diese ganze Sache hat uns doch ziemlich aus dem Konzept gebracht, und ich möchte nicht, dass es wieder so wird wie früher.«
»Das liegt nur an uns allein. Wir werden das meistern, Georg. Wir
müssen.
«
»Wir nehmen morgen den Abendzug nach Hamburg. Frederike wird staunen, wie rasch wir uns wiedersehen.«
Georg machte sich auf den Weg ins Kontor, um dort mit Felix alles zu besprechen und die Listen durchzugehen und das, was schon ausgeliefert werden konnte, bis morgen zu erledigen.
Zu Hause gingen die Vorbereitungen für die Reise sehr schweigsam vor sich, was die Anspannung verriet, unter der Vera und Georg standen. Es war ein wenig so, als braute sich eine dunkle Wolke über ihnen zusammen, und keiner von ihnen wagte es, nach oben zu blicken.
Sie stieg aus der Kutsche, die sie am Bahnhof genommen hatte, und ließ sich ihre Koffer herunterreichen. Sie bezahlte den Kutscher, der sich sogleich auf den Rückweg machte, ohne ihr die Koffer zur Tür zu tragen.
Frederike nahm es hin, stand einen Moment lang einfach nur da und betrachtete die Villa, in der sie aufgewachsen war und die sich in all den Jahren nicht verändert hatte. Oder war die Fassade neu gestrichen worden? Das Gelb wirkte kräftiger, als sie es in Erinnerung hatte.
Die Tür wurde geöffnet, und Anna spähte heraus. Offenbar hatte sie die Kutsche gehört. »Fräulein Frederike?«, sagte sie ungläubig.
»Guten Tag, Anna.«
»Du lieber Himmel!« Die Haushälterin drückte die Hände an ihre Wangen. »Ich glaube es ja nicht«, freute sie sich. Sie drehte sich um. »Fräulein Frederike ist da, Fräulein Frederike ist da!«, rief sie laut. Dann kam sie die Treppe heruntergeeilt und nahm einen der Koffer. »Willkommen zu Hause, Fräulein Frederike!«
»Danke, Anna. Es ist schön, wieder hier zu sein. Sind die anderen im Haus?«
»Nur Frau Elsa ist mit der kleinen Marie hier. Und sie kümmert sich im Moment auch um Viktoria.« Sie beugte sich vor. »Seit diese Katastrophe losgebrochen ist, verbringt die gnädige Frau Petersen ja jede Sekunde im Kontor.«
»Du weißt also vom Diebstahl meines Bruders?«
»Ja, und auch das andere.«
»Welches andere?«
»Wissen Sie das noch gar nicht? Ihr Bruder und Frau Elisabeth versuchen, die Hansens aus dem Geschäft zu drängen.«
»Wie das?«, fragte Frederike entgeistert nach.
Bevor Anna antworten konnte, kam Elsa aus der Villa gelaufen. »Frederike!«, rief sie und eilte die Stufen hinab. Die
beiden Frauen umarmten sich herzlich. »Es ist so schön, dass du da bist.« Elsa drückte Frederike nochmals an sich.
»Ich habe gehört, was geschehen ist. Wie geht es dir?«
»Lass uns erst mal ins Haus gehen. Dann können wir alles in Ruhe besprechen«, erwiderte Elsa und nahm den zweiten Koffer, den Frederike dabeihatte. Kaum dass sie die Villa betreten hatten, stolperte Marie in den Flur.
Frederike ging in die Hocke. »Das kann doch unmöglich die kleine Marie sein!« Sie öffnete die Arme. »Erkennst du mich noch, meine Süße?«
Marie war ein wenig schüchtern. Offenbar hatte sie tatsächlich keine Erinnerung mehr an Frederike.
»In diesem Alter vergessen sie schnell«, sagte Elsa.
Frederike erhob sich etwas enttäuscht. »Wir werden uns schon wieder anfreunden.« Sie sah sich um. »Und wo ist Viktoria?«
»In ihrem Laufstall. Ich habe sie hineingesetzt, als ich Anna rufen hörte.«
Frederike ging ins Wohnzimmer und hob Viktoria ganz selbstverständlich hoch. »Guten Tag, kleine Viktoria«, sagte sie. Viktoria starrte die fremde Frau an, machte aber keine Anstalten, von deren Arm herunterzuwollen.
»Setz dich erst mal«, sagte Elsa.
»Was kann ich Ihnen zu trinken bringen?«, fragte Anna.
»Haben wir Limonade da?«
»Ja, ich bringe gleich welche.« Die Haushälterin eilte hinaus.
Elsa setzte sich in einen Sessel, und Frederike nahm mit Viktoria auf der Couch gegenüber Platz.
»Möchtest du auch zu uns herkommen?«, fragte Frederike die kleine Marie, die etwas unschlüssig dastand.
Marie nickte und krabbelte dann auf Elsas Schoß.
»Ich habe gehört, was Richard getan hat«, sagte Frederike. »Er ist ein Mistkerl. Wie geht es dir denn?«
Elsa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ehrlich gesagt, kann ich das alles noch gar nicht richtig fassen. Ich hätte ihn niemals für einen Dieb gehalten. Und dann noch das, was er jetzt offenbar im Schilde führt.« Elsa schüttelte den Kopf. »Ich kenne diesen Mann gar nicht richtig, Frederike.«
»Ich glaube, das tut niemand.«
»Denkst du, du würdest zu ihm durchdringen, wenn du mit ihm sprichst?«
»Ich?« Frederike lachte freudlos auf. »Auf gar keinen Fall. Wir hatten nie ein besonders gutes Verhältnis zueinander. Und das wird jetzt nicht anders sein. Wenn überhaupt, würde er eher noch auf dich hören. Doch ehrlich gesagt, glaube ich auch das nicht. Richard ist Richard. Er interessiert sich nur für sich selbst, und das wird sich wohl auch sein Leben lang nicht mehr ändern.«
»Es ist scheußlich, was er da versucht.« Elsa wirkte verzweifelt.
»Kann Luise ihm Einhalt gebieten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Richard ist nicht der einzige Grund, weshalb ich hier bin«, sagte Frederike. »Genau genommen, hatte ich den Entschluss bereits gefasst, bevor ich von all dem hier erfahren habe.« Sie atmete tief durch. »Anton und ich werden nicht heiraten.«
»Was ist geschehen?«
»Er wurde befördert und hat sich von dem Tage an vollkommen verändert.« Frederike erzählte Elsa alles – bis auf die Tatsache, dass sie selbst für die Beförderung gesorgt hatte. »Er war dann noch einmal bei mir, um sich mit mir auszusprechen, als ich bereits auf dem Weg zu meinen Eltern war. Doch weißt du, da habe ich bereits gespürt, dass es kein Zurück gab. Es waren einfach keine Gefühle mehr für ihn da.«
»Du konntest ihn von heute auf morgen aus deinem Herzen verbannen?«
Frederike dachte nach. »Eigenartig, oder? Ich glaube fast, ich habe mir bei ihm etwas vorgemacht. Vielleicht war da nie wirklich Liebe zwischen uns. Ich weiß es nicht.«
»Es tut mir so leid.« Elsa hatte Tränen in den Augen.
»Ach, Elsa, wir beide haben wohl in der Liebe einfach kein Glück.« Sie sahen sich an und wussten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten.
Sie blieben noch eine Weile sitzen und plauderten miteinander. Als eine Kutsche vorfuhr, sprang Frederike auf, lief zur Haustür und öffnete sie.
Luise stieg soeben aus, hielt dann einen Moment inne. »Frederike?«, entfuhr es ihr überrascht.
»Luise!« Nun war es Frederike, die die Stufen heruntereilte. Die Frauen herzten und drückten sich, hielten sich minutenlang fest.
»Es ist so schön, dass du gekommen bist.«
»Ich habe inzwischen schon alles erfahren. Was auch immer du vorhast, um Richard das Handwerk zu legen, ich bin auf deiner Seite.«
»Ich danke dir, das bedeutet mir viel.«
Sie gingen zusammen ins Haus, und Luise freute sich, nach dem langen Tag endlich wieder mit Viktoria zusammen zu sein. Doch die Anspannung wollte noch nicht von ihr weichen.
Etwa eine Stunde später traf dann auch Hans ein, und die vier sprachen nach dem Essen noch stundenlang miteinander. Es wurde spät an diesem Abend, doch zu einem Ergebnis, wie sie weiter vorgehen sollten, kamen sie nicht.
Luise setzte die anderen davon in Kenntnis, dass sie sowohl Georg als auch Robert mittels eines Telegramms darüber informiert hatte, was Elisabeth und Richard planten. Georg hatte nur eine Stunde später zurücktelegrafiert, dass Vera und er baldmöglichst nach Hamburg kämen. Von Robert war am Nachmittag
ein Telegramm eingetroffen, in dem er mitteilte, dass am Freitag das nächste Schiff nach Hamburg ablegen würde und Therese, die Kinder und er selbst an Bord sein würden.
Bis zum heutigen Tag hatte sie mehr als die Hälfte ihrer Kunden verloren, und selbst wenn sonst niemand mehr zu Elisabeth und Richard wechselte, würden die Reserven des Kontors spätestens in einem Vierteljahr aufgebraucht sein. Dann müsste sie die ersten Angestellten entlassen.
Luise wollte es keinesfalls so weit kommen lassen und hatte sich auch bereits etwas überlegt, um zumindest Zweifel zu säen, was die Integrität und Zuverlässigkeit des Hauses August Frederiksen anging. Sie wusste, dass dies nicht genügen würde, um das Kontor vor dem Ruin zu bewahren. Doch womöglich würde sie sich dadurch etwas mehr Zeit verschaffen. Aus diesem Grund hatte sie am Nachmittag drei Stunden mit einem Zeitungsredakteur verbracht und diesen mit Informationen gefüttert, die für Unruhe sorgen würden.
Richard und Elisabeth hatten ihr den Kampf angesagt, und Luise war bereit, den Fehdehandschuh aufzunehmen.
Entgegen ihrer Gewohnheit griff sie am nächsten Morgen gleich nach der Zeitung, die in die Villa geliefert wurde, und wartete nicht erst, bis sie im Kontor war. Das, was sie interessierte, fand sie direkt auf der zweiten Seite als großen Aufmacher. In riesigen Druckbuchstaben sprang ihr die Überschrift des Artikels entgegen, der die Hamburger Geschäftswelt ordentlich durchrütteln würde.
Zu gern hätte sie Elisabeths Gesicht gesehen, wenn sie die Zeilen las. Ihres und auch Richards. Die beiden hatten den Hansens den Krieg erklärt, und Luise war bereit, den Kampf aufzunehmen. Sie lächelte, schob Hans den Artikel hin und tippte auf die Überschrift. »Es geht los.«
Mehr brauchte sie nicht zu sagen.