Die Wundersame Wünschelrute

Sie hatten gerade noch genug Geld für drei Bustickets, allerdings nur für den Hinweg.

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„Hoffentlich leiht uns dein Dad das Geld für den Rückweg, sonst sind wir ganz schön angeschmiert“, sagte Jack.

„Dafür müssen wir ihn erst mal finden“, erwiderte Violet.

„Wenn du deine Kohle nicht immer so zum Fenster rauschmeißen würdest, hätten wir überhaupt kein Problem, Jack“, schimpfte Zack.

„Ich geb euch doch alles wieder“, beteuerte Jack. „Sobald ich das nächste Mal Taschengeld kriege. Und meine Schulden bei Olli und Liam bezahlt habe.“

Zack seufzte schwer. „Haben wir noch Sandwiches?“, erkundigte er sich dann. „Ich hab vielleicht einen Kohldampf.“

Violet wollte gerade ihre Tasche aufmachen, in dem ihr Proviant steckte, als sie zusammenfuhr. Die Wünschelrute, die auf dem Sitz neben ihr lag, hatte nämlich einen kleinen Satz in die Luft gemacht und war auf den Gang gefallen. Einfach so, ohne dass der Bus um eine Kurve gefahren wäre oder gebremst hätte.

„Das gibt’s doch nicht“, flüsterte Jack.

„Hier.“ Zack bückte sich nach der Rute und reichte sie Violet.

Sie hielt sie mit beiden Händen fest und spürte, wie der lange dünne Zweig vibrierte. Und dann fingen ihre Beine an zu kribbeln. Sie begann, nervös mit den Füßen zu trippeln.

„Was ist denn jetzt?“, fragte Jack.

„Das ist die Rute“, flüsterte sie. „Sie will, dass ich losgehe.“

„Es wirkt!“ Jack klatschte fasziniert in die Hände.

„Wohin zieht es dich?“, fragte Zack. „Nach links oder nach rechts?“

„Nach vorn“, sagte Violet.

„Das ist gut“, sagte Zack. „Das bedeutet, dass wir im richtigen Bus sitzen.“

Aber es war alles andere als gut. Violet konnte nämlich nicht mehr sitzen. Die Rute zwang sie dazu, aufzustehen und im Mittelgang des Busses nach vorn zu laufen.

Als Violet den Busfahrer fast erreicht hatte, musste sie ihre ganze Kraft aufbieten, um sich umzudrehen und zu Jack und Zack zurückzugehen, die in einem Vierersitz ziemlich weit hinten saßen. Sie stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Wünschelrute, die sie nach vorn drängte und schob.

Dieses Hin-und-her-Gehampel bekam auch der Busfahrer mit, sie waren nämlich die einzigen Fahrgäste.

„Während der Fahrt sitzen bleiben!“, rief er, wobei er einen genervten Blick in den Rückspiegel warf.

„Okay!“, rief Violet zurück, die gerade wieder bei Jack und Zack angekommen war. „Ihr müsst mich festhalten“, raunte sie ihren Freunden zu.

Bevor die Rute Violet wieder wegtreiben konnte, stürzten sich die Zwillinge auf sie und rangen sie zurück auf die Sitzbank.

Zack nahm ihr die Rute ab. Aber nun war er es, der in den Mittelgang katapultiert wurde.

„Ich glaub, es hackt!“, schrie der Busfahrer, der sie durch den Rückspiegel beobachtete. „Hab ich nicht eben gesagt, dass ihr euch hinsetzen sollt? Wer sich nicht hinsetzt, fliegt raus!“

Zack ließ die Rute fallen und wollte zu Violet und Jack zurück. Aber die Zauberrute blieb leider nicht liegen, sondern hüpfte weiter durch den Gang. Sie schlug wie verrückt auf den Boden und peitschte um sich.

„Jetzt reicht’s!“ Der Busfahrer trat so abrupt auf die Bremse, dass sie fast von den Sitzen flogen. Der Bus kam am Straßenrand zum Stehen. Zischend öffneten sich die Türen. „Aussteigen – und zwar plötzlich! Und nehmt euer verdammtes Spielzeug mit.“

Violet wollte widersprechen, aber Jack und Zack waren schon aufgesprungen.

„Wir sind fast da“, sagte Zack, während er mit dem Kopf auf das Ortsschild deutete, das vor dem Busfenster zu sehen war. Greenstone stand da.

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Violet schnappte sich die zappelnde Rute und rannte zum Ausgang.

„Auf Wiedersehen!“, rief sie dem Busfahrer zu.

„Hoffentlich nicht“, hörte sie ihn noch knurren.

Zuerst war es eine Erleichterung, dass Violet sich nun nicht mehr gegen die Rute wehren musste, sondern einfach losrennen konnte.

Nachdem sie allerdings wie ein Torpedo am Ortsschild vorbeigeschossen war und die Dorfstraße entlangraste, kamen ihr Zweifel. Lange würde sie dieses irrsinnige Tempo nicht aushalten.

Neben ihr keuchte Jack, die eine superschnelle Läuferin war und Violet normalerweise immer abhängte. Zack hatten sie bereits weit hinter sich gelassen.

Gut, dass keine alten Leute oder Kleinkinder auf dem Bürgersteig unterwegs waren, Violet hätte sie nämlich umgerannt.

„Wenn wir nicht bald ankommen, fallen mir die Beine ab!“, schrie Violet.

Jack antwortete nicht, sie brauchte ihre ganze Kraft zum Rennen. Da beschloss Violet, die Rute fallen zu lassen und eine kleine Atempause einzulegen. Aber es ging nicht. Der Zweig klebte an ihren Fingern, sie konnte ihn nicht loslassen.

Jack war jetzt nicht mehr neben ihr, sie war ein Stück zurückgefallen. Doch sosehr Violet sich auch bemühte, langsamer zu werden, die Rute zerrte sie voran.

Nun zog sie Violet nach rechts, durch eine schmale Gasse, die auf einen großen Platz führte. Um den Platz herum standen viele bunte Häuser und in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen. Genau darauf steuerte die Rute zu.

Zu Violets Entsetzen drehte sie jetzt richtig auf. Sie riss so an Violets Arm, dass diese fast den Boden unter den Füßen verlor und durch die Luft flog. Mit angstgeweiteten Augen raste sie auf den Brunnen zu. Gleich würde sie gegen die Umrandung knallen. Oder erwartete die Rute etwa von ihr, dass sie in den Brunnen reinsprang?

Wenige Sekunden bevor Violet den Rand erreicht hatte, gab die Rute auf. Sie verlor plötzlich die Spannung und baumelte kraftlos nach unten.

Nun konnte Violet sie auch loslassen. Diesmal hüpfte der Zweig nicht wild auf dem Boden herum, sondern blieb einfach liegen.

Violet trat vorsichtshalber dennoch einen Schritt zurück. Nicht dass die Rute sie plötzlich ansprang.

Ihre Beine wackelten vor Erschöpfung, sie musste sich gegen den Brunnenrand lehnen und erst mal tief durchatmen. Dabei fiel ihr Blick auf Jack, die am Ende der schmalen Gasse aufgetaucht war und sich suchend umsah.

„Ich bin hier, Jack!“, rief Violet und winkte ihr zu.

Jack rannte zu ihr. „Puh, ein Glück, dass du endlich angehalten hast!“, keuchte sie, als sie sie schließlich erreicht hatte. „Diese Rute ist der Hammer!“

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„Die hätte mir fast den Arm ausgerissen“, sagte Violet. „Aber jetzt ist es vorbei.“

„Du meinst, wir sind am Ziel?“ Jack musterte den Springbrunnen, der wirklich hübsch war. In der Mitte des Beckens befand sich ein großer Wal aus Marmor, aus dessen Blasloch eine Wasserfontäne plätscherte.

Der Wal erinnerte Violet an etwas, aber sie wusste nicht genau, woran.

„Vielleicht wohnt Daddy ja in einem der Häuser“, überlegte sie laut und zeigte auf die bunt gestrichenen Gebäude, die um den Platz herumstanden.

„Aber warum hat dich die Rute dann nicht gleich zur richtigen Tür gebracht?“, fragte Jack.

„Keine Ahnung.“ Violet zuckte mit den Schultern.

„Guck mal, da kommt Zack!“ Auch Jacks Bruder war nun endlich auf dem Platz angekommen.

„Und? Was ist jetzt?“, fragte er, als er sie erreicht hatte.

„Nichts“, sagte seine Schwester. „Die Rute hat aufgegeben. Aber hier ist nur ein Brunnen. Der kann es ja wohl nicht sein.“

„Wir sollten uns mal die Häuser vornehmen. Oder vielmehr die Klingelschilder“, schlug Violet vor. „Vielleicht wohnt hier irgendwo ein Charly.“

Zack hörte jedoch gar nicht richtig zu. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das große goldene Schild, das oben an der Brunnenumrandung angebracht war. Und auf die Inschrift, die dort zu lesen war.

„Hammer!“, flüsterte er.