Charly

Das stand auf dem goldenen Schild:

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„Charles Robert Sunshine“, sagte Zack. „Wir haben deinen Daddy gefunden!“

„Er ist ein Held“, erklärte seine Schwester.

„Er war ein Held.“ Violet spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Und im selben Moment wusste sie auch wieder, woran sie der Wal im Brunnen erinnert hatte. An den kleinen Wal, den ihr Papa auf den Brief an Lilly gemalt hatte. „Wir sind zu spät gekommen!“

Ihr Papa war tot. Genau wie ihre Mama.

Die Zwillinge schwiegen einen Augenblick lang betreten.

„Na ja, immerhin weißt du jetzt Bescheid, Violet“, meinte Jack dann mit belegter Stimme. „Das ist doch auch schon was.“

Violet fand jedoch, dass das überhaupt nichts war. Alle ihre Freunde hatten zwei Eltern, aber ihre Mama und ihr Papa waren beide tot und sie hatte keinen von ihnen kennengelernt. Das war so verdammt ungerecht. Die Tränen in ihren Augen lösten sich und rannen über ihre Wangen.

Jack legte einen Arm um sie. „Arme Violet.“

Zack runzelte die Stirn. „Ich frag mich, was damals genau passiert ist. Warum Charly sein Leben für die Wale gegeben hat.“

Violet wischte mit dem Handrücken ihre Tränen ab. „Das frage ich mich auch“, murmelte sie.

„Der Bürgermeister von Greenstone könnte es uns bestimmt erklären“, sagte Jack.

„Vielleicht weiß die Frau dort drüben ja was.“ Zack zeigte auf eine kleine rundliche Frau mit blonden Locken, die aus einem der Häuser getreten war und die Blumenkübel vor der Tür goss. „Ich frag sie einfach mal.“ Er flitzte zu ihr hinüber.

Jack und Violet konnten nicht hören, was Zack zu der Frau sagte, sie sahen nur, wie er auf den Brunnen deutete und die Frau ihm etwas erklärte. Und nun winkte Zack ihnen zu.

„Ich weiß, wo wir hinmüssen!“, rief er laut. „Kommt schnell!“

Zack rannte die Hauptstraße des Dorfes entlang, dann bog er in eine kleine Gasse ein, an deren Ende das Meer auftauchte. Es war so blau wie Tante Junes kornblumenfarbenes Lieblingskleid und glänzte in der Sonne. Die Straße ging jetzt leicht bergab und erst am allerletzten Haus blieb Zack stehen.

Das Haus lag genau vor dem Meer, hatte dicke weiße Wände und ein Dach aus Stroh. Im Vorgarten wucherten bunter Strandflieder und Rosen und an der Tür baumelte ein Schild, auf dem Willkommen! stand.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Violet.

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„Klar.“ Zack zeigte auf das Klingelschild.

Sunshine stand da. Der Name ihres Vaters. Vielleicht hätte Violet auch so geheißen, wenn ihre Eltern geheiratet hätten. Violet Sunshine.

Zack klingelte und im Haus erklang wildes Hundegebell. Kurz danach wurde die Tür geöffnet und zwei Dackel schossen mit ohrenbetäubendem Gekläffe nach draußen.

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„Jupiter! Wotan!“, rief eine Frauenstimme. „Aus! Bei Fuß!“

Die Hunde dachten gar nicht daran zu folgen. Sie rannten schwanzwedelnd auf Violet und die Zwillinge zu und sprangen an ihnen hoch. Nun trat eine Frau in die offene Tür.

„Ihr müsst keine Angst haben“, sagte sie. „Die tun nichts.“ Die Frau hatte ein schmales, ziemlich faltiges Gesicht und graue Haare. Falls das Mrs Sunshine war, passte der Name überhaupt nicht zu ihr. Sie sah nämlich kein bisschen sonnig aus, sondern sehr ernst.

„Hallo“, sagte Zack, während er einen der Dackel streichelte, der sofort aufhörte zu kläffen und sich stattdessen auf den Rücken fallen ließ, damit Zack seinen Bauch kraulen konnte. „Sind Sie die Mutter von Charles Sunshine?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich bin Miss Rosy, die Haushälterin. Was gibt’s denn?“

Zack und Jack guckten beide Violet an. Miss Rosy richtete ihre braunen Augen nun ebenfalls auf sie. Violets Mund wurde trocken vor Nervosität.

„Wer ist denn da, Rosy?“, drang im selben Moment eine Männerstimme aus dem Haus.

„Ein paar Kinder!“, rief die Haushälterin zurück. „Kennen wir uns?“, fragte sie Violet dann. „Du kommst mir so vertraut vor.“

„Ja“, sagte Violet, aber dann schüttelte sie hastig den Kopf. „Ich meine, nein. Ich bin Violet.“ Ihre Stimme klang ganz fremd, weil sie so aufgeregt war. „Ich bin Charlys Tochter.“