Miss Rosys Geschichte

„Ich glaube, am besten gehen wir raus in den Garten“, fuhr Miss Rosy mit schwacher Stimme fort. „Damit auch die anderen hören, was ich getan habe. Ich muss endlich reinen Tisch machen.“

Bevor Violet noch etwas sagen konnte, marschierte Miss Rosy schon mit großen Schritten an ihr vorbei und auf die Terrasse, wo sie Grandpa Anthony und Granny Kate weinend erklärte, dass sie ihnen etwas Schlimmes gestehen müsse.

Die beiden waren natürlich sehr erstaunt. Aber dann holte der Grandpa schnell noch einen Stuhl und Miss Rosy setzte sich und begann zu erzählen.

„An jenem Wochenende, als Charly Lilly zum ersten Mal mit nach Hause brachte, ging es mir wirklich schlecht“, sagte sie. „Ich hatte schreckliche Migräne. Aber noch schlimmer als die Kopfschmerzen war meine Verbitterung. Ich wollte und konnte es einfach nicht akzeptieren, dass Charly seine Verlobung mit Leonor aufgelöst hatte. Die beiden waren das perfekte Paar und wie füreinander gemacht. Und nun hatte er sich für diese Lilly entschieden. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie nicht zu mögen. Doch das schaffte ich nicht. Sie war zu bezaubernd.“

Miss Rosy wischte sich eine Träne ab.

„Ich war aber auch misstrauisch. Lilly war … seltsam. Anders als die Leute hier im Dorf. Und deshalb …“, sie räusperte sich betreten, „hab ich mir heimlich ihre Sachen angeguckt.“

„Rosy!“, rief Granny Kate vorwurfsvoll.

Miss Rosy zuckte mit den Schultern. „Lilly hatte so ein komisches gelbes Buch dabei.“

Violets Herz, das ohnehin schon schnell schlug, begann jetzt wie verrückt zu galoppieren.

„Was für ein Buch?“, fragte Grandpa Anthony.

„Es war voller … Rezepte.“

„Ein Kochbuch?“

„Nein“, flüsterte Miss Rosy. „Es waren keine normalen Rezepte. Es war ein Hexenbuch. Die Zutaten, die da beschrieben wurden, die gibt es gar nicht.“

Violet und die Zwillinge wechselten einen schnellen Blick. Aber natürlich klärte keiner von ihnen Miss Rosy darüber auf, dass es die magischen Pflanzen sehr wohl gab – nämlich in Tante Abigails Hexengarten in Rivenhoe.

„Und was passierte danach?“, fragte Violet mit heiserer Stimme.

„Nachdem ich das Buch gesehen hatte, wurden meine Kopfschmerzen unerträglich. Ich bin sehr früh schlafen gegangen. Tja, und da klopfte Lilly an meine Tür und brachte mir einen Tee. Der wird Ihnen helfen, sagte sie.

Ich nahm zuerst nur einen winzigen Schluck, weil ich so skeptisch war.“

„Und?“, fragte Granny Kate.

„Der Tee schmeckte köstlich“, sagte Rosy. „Nach Vanille und gebrannten Mandeln.“

„Die Lächelnde Lilie“, murmelte Violet. Die getrockneten Blütenblätter rochen nach Vanille und gebrannten Mandeln und wirkten hervorragend gegen Kopfweh. Das hatte sie im Zauberunterricht gelernt.

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„Was?“, fragte Miss Rosy irritiert.

„Nichts“, sagte Violet hastig.

„Erzählen Sie weiter“, bat Zack.

„Ich konnte nicht widerstehen und hab den ganzen Tee ausgetrunken. Und was soll ich sagen: Meine Kopfschmerzen waren weg. Ganz plötzlich. Wie durch Zauberei.“

„Aber das war doch wunderbar“, fand Grandpa Anthony.

„Ich fand es nicht wunderbar, sondern zutiefst beunruhigend. Ich hab die ganze Nacht wach gelegen, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich musste Charly vor dieser seltsamen jungen Frau schützen, das war mir klar. Und am nächsten Morgen wusste ich auch, wie ich das machen würde. Als Charly kurz unten im Bootshaus war, hab ich mir Lilly vorgeknöpft. Sie wurde schrecklich nervös, als ich sie auf das Buch ansprach. Und auf den Zaubertee. Da hat sie mir gestanden, dass sie – na ja, wie soll ich es sagen? – eine Art Hexe ist. Eine Blumenhexe.“

„Na also.“ Grandpa Anthony lachte. „Das ist ja wohl Blödsinn.“

„Es war die einzige logische Erklärung für das Buch und die Rezepte und den Tee. Ich war furchtbar erschrocken. Und dann hab ich Lilly ins Gewissen geredet.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte Jack.

„Ich hab sie gefragt, ob Charly weiß, worauf er sich da einlässt. Natürlich hatte er keine Ahnung, Lilly hatte ihm kein Wort verraten. Daraufhin hab ich ihr klargemacht, dass sie nicht die Richtige für ihn ist. Dass er ein nettes, normales Mädchen verdient hätte, das ihn glücklich macht, und keine Hexe.“

„Das war total gemein von Ihnen!“, rief Violet empört. „Meine arme Mama!“

„Ich hab es für Charly und Leonor getan“, flüsterte Miss Rosy. „Die beiden waren doch füreinander bestimmt.“

„Wie hat Lilly reagiert, als du ihr das gesagt hast?“, erkundigte sich Granny Kate.

„Sie hat schrecklich geweint“, sagte Miss Rosy zerknirscht. „Als Charly wieder zurückkam, ist sie sofort abgereist. Und danach hat sie sich von ihm getrennt.“

„Oh Rosy“, sagte Grandpa Anthony. „Wie konntest du nur? Hat dir das Ganze denn nicht leidgetan, als du gesehen hast, wie Charly gelitten hat? Und als du gemerkt hast, dass er nicht im Traum daran dachte, zu Leonor zurückzukehren?“

„Doch.“ Miss Rosy nickte. „Ich wollte es auch wiedergutmachen. Ich hab versucht, Lilly zu kontaktieren. Aber es ging nicht. Sie hatte ihre Telefonnummer geändert und war umgezogen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.“

„Wieso hast du Charly denn nicht wenigstens gesagt, was du getan hast?“, fragte Granny Kate.

„Am Anfang hab ich mich nicht getraut“, sagte Miss Rosy. „Ich wollte nicht, dass er mich hasst.“

„Und dann?“ Der eine Dackel lag immer noch schlafend auf Zacks Schoß. Violet schnappte sich den anderen. Es war so unglaublich beruhigend, das weiche, warme Fell unter ihren Händen zu spüren. Und sie musste sich dringend beruhigen, damit ihr Herz nicht zersprang.

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„Dann hab ich mir eingeredet, dass ohnehin alles zu spät ist. Und dass Lilly längst einen anderen hat.“ Miss Rosy legte die Hände vors Gesicht und begann, bitterlich zu weinen. „Und kurz darauf ist Charly ertrunken.“ Sie schluchzte laut auf.

„Schade“, sagte Violet. „Ich hätte meinen Papa so gern kennengelernt.“

„Wir hätten dich auch gerne früher kennengelernt, Violet.“ Granny Kate seufzte tief. „Ich bin so froh, dass du uns gefunden hast.“

Und das war Violet auch.

„Ich habe dein Leben ruiniert, Violet“, jammerte Miss Rosy.

„Du hast vor allem dein eigenes Leben zerstört, Rosy“, sagte Grandpa Anthony. „Du warst so entsetzlich traurig in den letzten Jahren.“

Im selben Moment stieß Zack einen Schrei aus. Er hatte gerade einen Blick auf seine Uhr geworfen.

„Es ist gleich fünf!“, rief er erschrocken. „Und um sechs macht das Freibad zu.“

„Wollt ihr jetzt noch zum Schwimmen?“, fragte Granny Kate verständnislos.

„Nein“, sagte Jack. „Aber wir müssen schleunigst heim.“

„Nach Rivenhoe?“, fragte Grandpa Anthony. „Da wollte ich schon immer mal hin.“ Er erhob sich. „Auf geht’s, Kate! Wir fahren unsere Enkelin nach Hause.“

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