Eine kleine Überraschung

image/022_01_C40419.jpg

ich war heute den ganzen Tag mit meinem Boot draußen auf dem Meer. Das Wetter war so herrlich, die Sonne schien, ein leichter Wind blies und das Wasser war so grün wie deine Augen. Aber perfekt war das Ganze trotzdem nicht, weil du mir so fehlst. Ich kann es kaum erwarten, bis wir uns am Wochenende endlich wiedersehen.

Am besten, du nimmst am Samstag den Zug, der um 10:39 Uhr in Hobnob losfährt (Gleis 3). Dann bist du mittags hier und wir können im Hotel Zum brüllenden Wildschwein zu Mittag essen. Mr Poodle kocht wirklich fantastisch. Und seine Pfannkuchen zum Nachtisch sind ein Gedicht.

Danach fahren wir zu meinen Eltern. Sie freuen sich schon sehr darauf, dich kennenzulernen.

Wenn es doch schon Samstag wäre!

Ich umarme dich ganz zärtlich, liebste Lilly, und gebe dir einen Kuss. Spürst du es?

Voller Sehnsucht grüßt dich

image/023_01_C40419.jpg

PS: Ich bin schon gespannt auf die kleine Überraschung, die du mir versprochen hast. Du darfst sie auf keinen Fall vergessen!

 

Auch nachdem sie zu Ende gelesen hatte, starrte Violet wie gebannt auf den Brief. Neben seine Unterschrift hatte Charly einen kleinen Wal gemalt, der aus seinem Luftloch Herzchen pustete. Wie süß!

Dein Charly.

Das ist mein Papa, dachte Violet.

Tante Abigail hatte ihr nie etwas von ihm erzählt. Obwohl sie ihn doch gekannt haben musste, sie war ja schließlich Lillys Schwester. Aber immer, wenn Violet nach ihrem Vater gefragt hatte, hatte ihre Tante nur mit den Schultern gezuckt. Dabei hatte sie all die Jahre diesen Brief gehabt, sie wusste also ganz genau, wer er war.

Vielleicht weiß Abigail ja sogar, wo mein Papa heute wohnt. Der Gedanke ließ Violets Herz wie verrückt schlagen. So laut, dass sie nicht hörte, wie die Wohnungstür aufging, und erschrocken zusammenfuhr, als jemand „Hallo! Ich bin wieder da!“ rief.

„Halli-hallöchen!“, jubelte Lady Madonna in der Küche. „Plitschi-platsch!“

image/024_01_C40419.jpg

Einen winzigen Moment lang überlegte Violet, ob sie den Brief wieder in der Veilchenschachtel verschwinden lassen sollte und so tun, als hätte sie ihn nie gesehen. Aber dann entschied sie sich dagegen.

„Jetzt wird geredet“, flüsterte sie leise. „Ich will alles wissen.“

„Hier bist du!“ Nun kam Tante Abigail ins Wohnzimmer. „Guck mal, wie schön ich aussehe. Mr Bell hat wirklich sein Bestes gegeben.“ Sie drehte ihren Kopf hin und her. Ihre sonst so wilden roten Locken waren ein ganzes Stück kürzer. Sie wirkten erstaunlich ordentlich und sprangen nicht wie sonst in alle Richtungen.

Violet hatte genau die gleichen Locken, überhaupt war sie ihrer Tante wie aus dem Gesicht geschnitten. Als Abigail damals in Rivenhoe aufgetaucht war und plötzlich vor der Tür der Berrys gestanden hatte, hatte sie keinen Pass und kein Familienstammbuch gebraucht, um zu beweisen, dass sie Violets richtige Tante war. Das sah man nämlich auf den ersten Blick.

Tante Abigails Frisur war Violet im Moment aber schnurzpiepegal. Und Abigail hörte sofort damit auf, ihren Kopf hin und her zu drehen, und auch das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, als sie hinter Violet trat und sah, was diese in der Hand hielt.

„Das ist doch …“ Sie verstummte mitten im Satz und Violet erwartete, dass sie ihr jetzt eine Moralpredigt darüber halten würde, dass man nicht in anderer Leute Sachen rumschnüffeln durfte. Aber das passierte nicht.

Tante Abigail sagte keinen Ton mehr und als Violet zu ihr hochblickte, bemerkte sie, dass sie recht bleich geworden war. Nun ging sie in die Knie und hockte sich neben Violet.

„Ist der Brief von meinem Papa?“, fragte Violet mit zitternder Stimme.

Tante Abigail zögerte kurz. Dann nickte sie.

image/026_01_C40419.jpg

Danach hatte Violet so viele Fragen, dass sie gar nicht wusste, welche sie zuerst stellen sollte.

„Wieso hast du mir den Brief nie gezeigt?“, brachte sie schließlich hervor.

Tante Abigail nagte an ihrer Unterlippe. „Ich hatte ihn ganz vergessen“, sagte sie schließlich.

„Vergessen?“ Violet glaubte ihrer Tante kein Wort. Abigail war nämlich auf einmal nicht mehr blass, sondern knallrot. Auch im Lügen waren sie und Violet sich ähnlich, sie waren beide total schlecht darin.

„Kanntest du Papa gut?“, fragte Violet. „Weißt du, wo er jetzt ist?“

„Nein, natürlich nicht.“ Das schien zu stimmen, denn die Röte wich wieder aus ihren Wangen. „Ich habe deinen Vater nie getroffen. Ich hab nur mal ein Foto von ihm gesehen, das war’s.“

„Und wie sah er aus?“

„Gut. Er hatte dunkle Haare und braune Augen. Und Lilly hat immer gesagt, dass er das gleiche Lächeln hatte wie du.“

„Und sonst?“, rief Violet. „Wie heißt er mit Nachnamen?“

„Das weiß ich nicht.“ Tante Abigail fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und machte in Sekunden alles zunichte, was Mr Bell mühevoll zurechtgebürstet und in Form geföhnt hatte. Ihre Locken dehnten und reckten sich wie Sprungfedern und hüpften begeistert in alle Himmelsrichtungen. „Damals wohnte er irgendwo am Meer. Keine Ahnung, wie der Ort hieß.“

Na toll. Das mit dem Meer hatte Violet auch schon aus dem Brief erfahren.

„Mehr weiß ich wirklich nicht, Violet“, sagte ihre Tante. „Wie schon gesagt, ich kannte deinen Papa kaum. Lilly und er waren gar nicht so lange zusammen.“

„Warum haben sie sich überhaupt getrennt?“, fragte Violet. „In dem Brief war Papa noch total verliebt in Mama.“ Wie zum Beweis wedelte sie mit dem Blatt in der Luft herum. „Was ist schiefgegangen?“

„Auch das kann ich dir nicht sagen.“ Tante Abigail lächelte bedauernd. „Lilly hat nie darüber gesprochen.“

Violet seufzte.

„Ich hab den Brief in den Sachen deiner Mama gefunden, nachdem sie gestorben war“, sagte Tante Abigail.

„Und was ist mit dem Foto von Papa?“

„Das war nicht mehr da.“

image/029_02_C40419.jpg

„Willkommen, liebe Sonne!“, zwitscherte Lady Madonna in der Küche. Und da merkten sie, dass der Regen aufgehört hatte und die Sonne durchs Fenster schien. Ihre Strahlen kitzelten Lord Nelson an der Nase, der gähnend vom Sofa sprang.

„Kann ich den Brief bitte behalten?“, fragte Violet.

Tante Abigail nickte. „Klar. Aber, Violet …“ Ihre strahlend grünen Augen sahen sie eindringlich an. „Vergiss ihn.“

„Wieso? Und was soll ich denn vergessen?“, fragte Violet. „Ich weiß ja überhaupt nichts über ihn.“

„Damit hast du auch wieder recht.“ Tante Abigail bückte sich und nahm Lord Nelson auf den Arm, der um ihre Beine gestrichen war. „Was hältst du davon, wenn wir jetzt in die Küche gehen und Kirschtee trinken? Vielleicht finde ich auch noch ein paar von meinen leckeren Vanillekeksen. Und nebenbei erzählst du mir alles, was du über die Knallerbsen weißt.“

image/029_01_C40419.jpg

„Ich werde Papa nicht vergessen“, erklärte Violet mit fester Stimme. „Im Gegenteil. Ich werde ihn suchen und finden. Und wenn er in Timbuktu lebt.“

„Wo ist denn Timbuktu?“, fragte Jack und baumelte mit ihren langen Beinen. Sie saßen nämlich gerade zu dritt auf der großen Kätzchenweide, die ihre dicken Äste über den Bach streckte.

image/031_01_C40419.jpg

„In Afrika“, sagte Jacks Bruder Zack. „Warum glaubst du denn, dass er ausgerechnet dort ist?“

„Glaub ich ja gar nicht. Ich sag nur, falls er dort ist, werde ich ihn finden.“

„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Jack. „Du weißt doch nichts über ihn.“

„Ich kenn seinen Vornamen“, sagte Violet.

„Charly.“ Zack runzelte die Stirn. „Der Name ist leider nicht gerade selten.“

„Und ich weiß, dass er mal am Meer gewohnt hat.“

„Der Ortsname wäre hilfreich“, sagte Jack. Dann stieß sie sich vom Ast ab und sprang nach unten in den Bach. Obwohl sie gar keine Badesachen anhatte, sondern eine lange Hose und ein Shirt trug.

Das Wasser spritzte bis zu Violet und Zack empor.

„Bist du verrückt!“ Violet hatte im letzten Moment den Brief in die Höhe gerissen, sonst wäre er nass geworden. Puh, das hätte noch gefehlt, dass sie den einzigen Hinweis vernichteten, den sie überhaupt hatte.

„Sorry!“ Jack schüttelte ihre kurzen blonden Haare, dass die Tropfen in alle Richtungen flogen, und winkte zu ihnen hoch. „Aber das Wasser war einfach zu verlockend. Kommt runter, es ist herrlich hier drin!“

„Später“, sagte ihr Bruder.

„Wann später?“

„Wenn wir fertig sind mit Nachdenken!“

Zack und Jack Dumpling waren Zwillinge und Violets beste Freunde. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Allerdings hieß Jack in Wirklichkeit Jacqueline und war ein Mädchen, aber das hatten fast alle in Rivenhoe vergessen, einschließlich Jack selbst. Sie trug niemals Kleider oder Röcke und war die beste Stürmerin in der Jungenmannschaft der Stadt.

Ihr Bruder Zack war bei Weitem nicht so sportversessen. Er las lieber oder löste kniffelige Rätsel. Violet tobte gern mit Jack und spielte Memory oder Fang-den-Hut mit Zack, doch am liebsten war sie mit beiden Freunden zusammen – wie heute.

Weil es Samstag war, hatten sie keine Schule. Deshalb hatten sie sich gleich nach dem Frühstück am Bach getroffen. Das Wetter war nämlich herrlich.

Violet hatte den Brief mitgebracht und vorgelesen. Während Jack unten im Wasser herumkraulte, studierte ihr Bruder das Schreiben noch mal ganz genau.

„Das Hotel Zum brüllenden Wildschwein“, sagte er jetzt.

„Was ist damit?“, fragte Violet.

„Das könnte uns weiterbringen. Es gibt bestimmt nicht viele Hotels in England mit diesem Namen.“

„Du hast recht!“ Violet strahlte ihren Freund an. „Dass ich da nicht selbst draufgekommen bin! Schade, dass wir kein Handy mit Internet haben.“

„Zu Hause haben wir Internet“, sagte Zack. „Sollen wir los?“

„Ihr wollt nach Hause?“ Seine Schwester war inzwischen aus dem Bach gestiegen, hatte die Weide wieder erklommen und seine letzten Worte gehört. „Jetzt schon? Ohne mich. Wenn ich mich daheim blicken lasse, fängt Mum sofort wieder an, mich mit Mathe zu quälen.“

Weil Jacks Mathenoten so schlecht waren, hatten ihre Eltern angeordnet, dass sie jeden Tag eine halbe Stunde Mathe üben sollte. Auch am Wochenende. Seitdem ließ sich Jack nur noch zu den Mahlzeiten zu Hause blicken, wenn sie nicht irgendwoanders zum Essen eingeladen wurde. Sie hasste Mathe.

„Wir müssen was im Internet suchen“, sagte Violet und hielt den Brief ein Stück zur Seite, damit Jack nicht drauftropfte.

„Und was?“, fragte Jack.

„Ein Hotel, das Zum brüllenden Wildschwein heißt“, erklärte ihr Bruder. „Vielleicht kennt ja dort jemand einen Charly, der einmal eine Lilly heiraten wollte. Oder so.“

„Gar keine schlechte Idee“, gab Jack widerwillig zu. Normalerweise machte sie nämlich immer alles nieder, was von ihrem Bruder kam. „Mir ist beim Schwimmen noch was anderes eingefallen. Aber das ist vielleicht nicht so schön.“

„Was denn?“, fragte Violet.

„Das PS unter dem Brief. Da stand doch was von einer kleinen Überraschung.“

„Und?“ Violet kapierte immer noch nichts.

Aber Zack ging ein Licht auf. „Du meinst …?“

„Genau.“ Jack nickte.

„Hallo? Könnt ihr mal Klartext reden? Was soll das für eine Überraschung gewesen sein?“, fragte Violet.

„Du“, sagte Jack.

image/035_01_C40419.jpg