„Ich?“, rief Violet entgeistert. Aber im selben Augenblick machte es endlich auch bei ihr Klick. „Glaubt ihr, Mama wollte Charly sagen, dass sie ein Baby bekommt?“
„Könnte doch sein“, sagte Jack. „Du warst klein und eine Überraschung war es auf jeden Fall.“
„Und wieso ist das nicht so schön?“, fragte Violet.
„Na ja.“ Jack zögerte einen Moment und blickte Hilfe suchend zu ihrem Bruder, was echt nicht oft vorkam. Und Zack schielte auf den Brief in Violets Hand, als ob dort die Antwort auf ihre Frage stünde.
„Vielleicht fand dein Papa die Überraschung ja nicht so super“, erklärte Jack schließlich.
„Du meinst, er war geschockt?“ Violet blickte ebenfalls auf das Blatt. Womöglich war das ja die Antwort, die sie die ganze Zeit gesucht hatte. Als Charly erfahren hatte, dass Violet unterwegs war, war er abgehauen. Weil in seinem Leben kein Platz war für ein kleines rothaariges Mädchen.
Vergiss ihn, hörte sie Tante Abigail plötzlich wieder sagen.
Violets Augen standen voller Tränen. Dann löste sich eine und wäre fast auf den Brief getropft. Im letzten Moment konnte sie das Blatt wegziehen. Aber eigentlich war es ihr jetzt egal, ob das Papier nass wurde oder nicht. Violet fand den Brief nämlich auf einmal gar nicht mehr schön.
„Hey, nicht weinen“, sagte Jack. „Wir wissen doch überhaupt nicht, ob das stimmt. Vielleicht hatte deine Mum eine ganz andere Überraschung.“
„Außerdem war Daddy auch zuerst geschockt, als er hörte, dass Mum Zwillinge kriegt“, erklärte Zack. „Und dann hat er sich doch gefreut.“
„Jedenfalls so lange, bis wir auf der Welt waren und die ganze Zeit nur rumgebrüllt haben“, sagte Jack.
Violet faltete den Brief zusammen, einmal und dann noch einmal. Es war ihr total egal, ob er dabei schmutzig wurde. „Ist auch schnurz, was mein Papa gedacht hat. Ich kenn ihn ja gar nicht. Und ich will ihn auch nicht mehr kennenlernen.“
„Und jetzt?“, fragte Zack.
„Vergesse ich das Ganze. So wie Tante Abigail gesagt hat.“
„Das glaub ich dir nicht“, sagte Jack. „Das schaffst du nicht.“
„Oh doch!“ Violet stopfte den Brief in ihre Hosentasche.
„Jack hat recht …“, begann Zack, aber weiter kam er nicht. Weil Violet nun nämlich richtig wütend wurde.
„Lasst mich doch in Ruhe!“, schimpfte sie. „Ihr habt ja keine Ahnung, wie das ist. Euer Daddy ist zu Hause und schmiert euch jeden Morgen die Butterbrote für die Schule und macht Quatsch mit euch. Und hat euch immer lieb, auch wenn Jack wieder mal die Mathearbeit verhaut. Aber meiner wollte mich nicht einmal angucken, als ich geboren wurde. Und es kümmert ihn überhaupt nicht, wie ich in Mathe bin.“
Nun begannen ihre Tränen wirklich zu fließen. Mathe war nämlich zufälligerweise ihr Lieblingsfach und Violet schrieb immer richtig gute Noten darin. Ihr Papa hätte allen Grund gehabt, stolz auf sie zu sein, aber das interessierte ihn alles nicht!
Wütend wischte sie sich mit den Handrücken übers Gesicht. Das nützte jedoch nichts, es kamen ja immer neue Tränen nach.
Sie kletterte einen Ast nach unten und dann sprang sie einfach auf den Boden, obwohl sie noch recht weit oben war.
„Warte doch mal, Violet!“ Neben ihr hopste Zack vom Baum, gefolgt von seiner Schwester. „Nicht weglaufen! Vielleicht war dieser Charly wirklich ein mieser Typ und hat deine Mama sitzen lassen. Aber vielleicht gibt es auch andere Gründe, warum er sich nicht um euch gekümmert hat.“
„Ach ja?“, fragte Violet. „Und was sollen das für Gründe sein?“
„Das müssen wir eben rausfinden“, erwiderte Jack.
Violet holte tief Luft. „Also gut“, sagte sie dann. „Wir können ja einfach mal gucken, ob wir dieses Wildschwein-Hotel im Internet entdecken.“
Jacks Befürchtung stellte sich leider als richtig heraus. Sobald sie die Haustür aufmachten, kam Mrs Dumpling schon auf ihre Tochter zugeschossen und kassierte sie ein.
„Komm mal schön mit ins Wohnzimmer“, sagte sie. „Deine Mathesachen warten bereits.“
Jack warf ihrem Bruder und Violet einen verzweifelten Blick zu.
„Ist doch nur eine halbe Stunde“, sagte Violet.
„Anderthalb Stunden“, korrigierte Mrs Dumpling sie. „Gestern und vorgestern ist das Üben nämlich ausgefallen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, oder, Jack?“
Jack antwortete nicht, sie zog nur eine Grimasse.
„Die Arme“, flüsterte Violet Zack zu.
„Keine Panik“, raunte Zack zurück. „Ein bisschen Mathe ist ganz gut für Jack. Und nach einer halben Stunde hat Mum eh genug von der Nachhilfe und lässt sie wieder laufen.“ Dann verschwand er im Arbeitszimmer seines Vaters und kam mit dessen Tablet zurück.
Er legte den Finger auf die Lippen und Violet nickte. Sie wusste, dass die Zwillinge das Tablet nur mit Erlaubnis ihrer Eltern verwenden durften.
„Aber wir wollen Mum ja jetzt nicht stören“, sagte Zack, nachdem sie die Tür des Kinderzimmers hinter sich geschlossen hatten. „Je schneller sie mit der Nachhilfe anfangen, desto schneller hat Jack es hinter sich.“
Er aktivierte das Display und tippte Hotel Zum brüllenden Wildschwein in die Suchleiste.
Hoffentlich gab es nicht allzu viele Hotels mit diesem Namen, dachte Violet. Aber die Sorge war überflüssig. Es kam nämlich kein einziges Ergebnis.
Na so was! Daraufhin versuchte Zack es mit Hotel Zum Wildschwein, aber auch das brachte nichts. Es gab einige Hotels mit dem Namen Zum wilden Schwein, aber das war ja wohl etwas anderes.
„Und jetzt?“, fragte Violet.
„Mal nachdenken.“ Zack runzelte die Stirn. Dann stöhnte er laut auf, weil er nämlich hörte, wie die Haustür aufging und sein Vater in den Flur trat.
„Hallo, alle zusammen!“, rief Mr Dumpling laut. Und kurz darauf: „Wo ist mein Tablet? Zack?“
„Er riecht es geradezu, wenn ich mir sein Pad mal eben ausleihe“, schimpfte Zack. Er schob das Tablet weg und stand auf. „Komm, wir gehen zurück an den Bach. Aber diesmal mit Badesachen. Vielleicht fällt uns ja im Wasser was ein.“
Aber obwohl sie den ganzen Nachmittag schwammen und tauchten, kam ihnen nicht die Spur einer Idee, wie sie Violets Vater finden könnten. Das lag auch daran, dass Olli und ein paar andere Jungs aus Jacks Fußballmannschaft zum Bach kamen und eine gigantische Wasserschlacht veranstalteten, sodass Violet den Brief und ihren unbekannten Papa zwischendurch ganz vergaß.
Erst als sie mit Tante June, Onkel Nick und Rudy am Abendbrottisch saß, fiel ihr beides wieder ein.
„Was ist denn los mit dir, Violet?“, fragte Tante June besorgt und strich ihr übers Haar. „Du bist heute so still.“
„Dadad!“ Rudy patschte mit einem Plastiklöffel in seinen Bananenbrei, dass es spritzte.
Onkel Nick hatte einen zweiten Löffel, und immer wenn Rudy den Mund aufmachte, schob er ihn blitzschnell hinein. „Dab.“ Jetzt zum Beispiel.
„Ich denke nach“, sagte Violet.
„Und worüber?“, fragte Tante June. „Über etwas Schönes oder etwas Trauriges?“
„Kommt darauf an“, sagte Violet.
„Dadaaa!“ Rudy hatte geschluckt und krähte wie ein kleiner Vogel. Schwupp!, schob ihm Onkel Nick den nächsten Löffel Brei in den Schnabel. Aber diesmal kam er postwendend wieder zurück und landete zum Teil auf Rudys Lätzchen und zum Teil auf Onkel Nicks Stirn.
„Pfui Teufel!“ Onkel Nick stand auf und stellte das noch halb volle Schälchen in die Spüle. „Basta!“
„Aber der Junge hat doch so gut wie gar nichts gegessen“, protestierte Tante June.
„Rudy hat ganz offensichtlich keinen Hunger.“ Onkel Nick wischte sich den Brei von der Stirn. „Wir sollten ihn zur Spuckweltmeisterschaft anmelden.“
„Warst du damals eigentlich erschrocken, als du gehört hast, dass ich zu euch komme, Onkel Nick?“, fragte Violet.
„Erschrocken?“ Er sah sie entgeistert an. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na ja, ihr kanntet mich doch gar nicht“, sagte Violet. „Und wahrscheinlich hattet ihr nicht mal Windeln im Haus. Und was man sonst so für ein Kleinkind braucht.“
„Das haben wir einfach gekauft“, sagte Onkel Nick. „Aber vorher haben wir was anderes gemacht.“
„Was denn?“, fragte Violet.
„Getanzt“, sagte Onkel Nick. „Und zwar Walzer. Hier in der Küche um den Tisch herum.“
„Vor lauter Freude“, sagte Tante June.
„Ich kann es heute noch nicht fassen, dass wir so ein tolles Geschenk bekommen haben.“ Jetzt trat Onkel Nick hinter Violet und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Warum fragst du das?“
„Ich wollte es eben wissen“, sagte Violet.