I ch glaube an das Schicksal. Und dass ich im Januar 2021 mehr oder weniger zufällig zu dieser Geschichte gekommen bin, hat sicherlich etwas damit zu tun. Zu diesem Zeitpunkt brauchte ich eine Aufgabe. Nicht nur dienstplantechnisch gesehen.
Im Herbst 2020 stehe ich vor der Entscheidung, die Mediengruppe RTL nach fünf Jahren zu verlassen und mich einem neuen Projekt zu widmen. Es zieht mich weg aus Leipzig, wo ich zwei Jahre lang Korrespondentin für RTL/n-tv gewesen bin. Mein Ziel: Berlin. Der Vertrag beim größten Mitbewerber von RTL liegt unterschrieben in meiner Wohnung, doch ich zögere ihn abzuschicken.
Mitte Oktober 2020 fasse ich mir dann ein Herz und teile der RTL-Chefredaktion mit, dass ich den Sender verlassen werde. Doch ein Mitglied der RTL-Chefredaktion »interveniert«, eine junge Frau. Sie will, dass ich bleibe und künftig für sie in der Primetime arbeite. Sie bietet mir an, ich könne dort zukünftig an großen, abendfüllenden Dokus arbeiten und in Berlin leben. Eine junge Frau als Chefin und Berlin als Wohnort – damit war die Entscheidung für mich gefallen.
Nicht so richtig klar war mir damals aber, was solche Themen sein könnten. Das RTL-Programm in der Primetime bestand, wie ich es zu diesem Zeitpunkt empfand, hauptsächlich aus Formaten wie »Wer wird Millionär?« und »Bauer sucht Frau«. Mein erklärtes Ziel waren Recherchen in Kriegs- und Krisengebieten sowie Hotspots weltweit. Aber wir würden sicherlich gemeinsam eine Lösung finden.
Zufrieden mit meiner Entscheidung ziehe ich vor Weihnachten 2020 erst mal von Leipzig nach Berlin und richte mich in meinem neuen Zuhause ein. Anfang Januar 2021 ruft mich meine Chefin dann an: »Es geht um diesen verschollenen Milliardär, der vielleicht in Russland lebt. Mach dich auf die Suche nach Karl-Erivan Haub und seiner russischen Geliebten.« Ich habe noch keine Ahnung, wer dieser Mann sein soll, und sprühe daher auch nicht vor Begeisterung.
Dass diese Recherche aber d i e Geschichte meines Lebens werden würde, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nie gedacht. Dass ich noch Jahre später nachts auf dem Sofa in meiner Wohnung digitale Spuren in Russland überprüfen würde, weil mich diese Geschichte nicht mehr loslässt: In jenem Moment lag nichts ferner als das.
Weder von Karl-Erivan Haub noch vom Rest seiner Familie habe ich bis dato gehört. Doch ich erinnere mich dunkel daran, dass einige Jahre zuvor von einer großen Such- und Rettungsaktion in Zermatt berichtet wurde. Bilder von Hubschraubern, die vor der Matterhorn-Kulisse starten und landen, kommen mir wieder in den Sinn. Dass es sich bei dem vermissten Skifahrer von damals um den Tengelmann-Chef handelte, hatte ich schon wieder vergessen.
So richtig begeistert bin ich von der neuen Aufgabe nicht. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich durch Moskau stapfen und auf der Suche nach der vermeintlichen Geliebten an fremden Türen läuten.
Doch es hilft ja nichts, meinen ersten Auftrag im neuen Job kann ich schließlich nicht sofort verweigern. In den ersten Januartagen lese ich mich also erst mal in die Familiengeschichte der Haubs ein und gewinne einen Überblick über die Geschäftsstruktur. Schnell wird mir klar: Hinter der Fassade der sympathischen Milliardärsfamilie muss sich noch eine andere Realität verbergen. Allem Anschein nach gibt es erhebliche Missstimmungen zwischen den drei Brüdern Karl-Erivan, Georg und Christian Haub. Karl-Erivan soll seinen Bruder Georg für mehrere Millionen Euro beschatten lassen haben. Jedenfalls steht es so in der Presse. Ich kann mir das Ganze zwar nur schwer vorstellen, doch so langsam ist meine Neugierde geweckt.
Im Laufe der darauf folgenden zwei Jahre sammeln meine Kollegen und ich genügend Fakten und Indizien, die einen ungeheuerlichen Verdacht erhärten: Der aktuelle Aufenthaltsort von Karl-Erivan Haub in Russland ist im Umfeld der Familie (zeitweise) bekannt und es wird alles unternommen, um ihn vor der Öffentlichkeit und vor den Institutionen und Behörden zu verschleiern. Dieses Buch lässt tief eintauchen in eine Welt aus Gier und Verrat, aus Lügen und verletzten Eitelkeiten, Verstrickungen zu verschiedenen Geheimdiensten, Beziehungen bis in die höchsten Kreise der Macht, die Machenschaften dubioser Geschäftspartner, darunter Geldwäsche. Das alles liest sich wie ein Krimi und macht auch deutlich: Es geht um viel mehr als um eine reiche Familie, ihr Unternehmen und die dunklen Seiten ihres Privatlebens. Nicht nur einmal werden wir Journalisten Ziel von Überwachungsmaßnahmen und von verschiedenen Seiten gewarnt, nicht zu viele Fragen zu stellen. Und als wir uns mit Hinweisen an die deutschen Behörden wenden, reagieren sie nicht.
Viele haben ein großes Interesse daran, die Umstände des mysteriösen Verschwindens des Tengelmann-Milliardärs Karl-Erivan Haub verdeckt zu halten. Doch die Geschichte ist so groß und umfangreich und sie weist so viele Bezüge zu Skandalen auf, dass es mir sehr am Herzen liegt, sie zu veröffentlichen. Ich habe nicht aufgehört zu recherchieren, und nach zwei weiteren Jahren gelingt nochmals ein spektakulärer Durchbruch. Nach wie vor und sogar jetzt erst recht besteht ein öffentliches Interesse daran, den Fall aufzuklären. Nicht zuletzt hoffe ich, mein Buch wird die Behörden endlich dazu veranlassen, in diesem Fall zu ermitteln.