Kapitel 2

Whistleblower oder gerissener »Zuflüsterer«?

W ährend ich im Januar 2021 gerade erst beginne, mich in die Welt der Familie Haub einzulesen, tobt bereits seit rund zwei Jahren ein erbitterter Kampf um das Erbe. Katrin Haub und ihre Kinder weigern sich vehement, Karl-Erivan Haub für tot erklären zu lassen. Und die fehlende Todeserklärung stellte für Christian Haub ein Problem dar. Solange »Charlies« Schicksal nicht offiziell geklärt ist, kommt er nicht an das Drittel der Unternehmensanteile heran, das sein Bruder innehat. Die fehlende Todeserklärung blockiert alle Entscheidungen. 186

Ich lese alle Artikel, die ich über die Familie finden kann. Wegen Corona müssen wir von zu Hause aus arbeiten, doch eines der Fenster in meiner neuen Wohnung schließt nicht richtig, und durch den Zehn-Zentimeter-Spalt kommt Luft von draußen. Es ist fürchterlich kalt und wirklich ungemütlich. Und so bedrückt mich alles, was ich lese, noch mehr. Ich frage mich, ob es wirklich sein kann, dass ein Familienvater, Ehemann und Chef eines so großen Familienunternehmens seine ganze Verantwortung über Bord wirft und mit einer jungen Russin durchbrennt? »Nur« um ein neues Leben in Moskau oder St. Petersburg zu beginnen? Oder ist das innerfamiliäre Zerwürfnis noch schlimmer als gedacht? Es fühlt sich irgendwie für mich nicht stimmig an. Doch dass durch die Familie eine riesige Kluft geht und dass diese Frau im Leben von Karl-Erivan Haub existiert, daran scheint es keine Zweifel zu geben.

Seit dem Moment des mysteriösen Verschwindens in Zermatt im April 2018 hatten die Medien ausführlich über die Tragödie berichtet. Doch irgendwann im Jahr 2020 kippte die Berichterstattung hin zum Skandalösen: Es soll eine Russin im Leben von Karl-Erivan Haub gegeben haben, eine geheime Geliebte. Ist der Milliardär heimlich abgetaucht, um ein neues Leben in Russland zu beginnen? Von diesem Zeitpunkt an hat die Geschichte alles, was ein gutes Komplott braucht: viel Geld, schöne Frauen und Betrug. Es ist eine Geschichte, wie sie sich Hollywood nicht besser hätte ausdenken können.

Wer lässt meinen Kollegen, die über den Fall bis dahin berichtet haben, eigentlich diese höchst privaten Informationen zukommen? Es muss jemand aus dem engsten Umfeld der Familie sein, da sich die Familie selbst so gut wie gar nicht öffentlich äußert. Die Informationen müssen in irgendeiner Form überprüfbar und nachweisbar sein, denn sonst hätte die Familie bestimmt ein Heer von Anwälten geschickt, um die Veröffentlichungen zu unterbinden. Gerade schmeichelhaft sind sie für die Familie ja nun wirklich nicht. Als Journalistin weiß ich, wie hoch die Hürden sind, bevor eine reißerische Geschichte gedruckt oder gesendet werden kann: Die Angst vor Klagen ist in den Redaktionen groß. Bei solchen Storys sitzt die hauseigene Rechtsabteilung immer mit am Tisch. Die Haubs sind Milliardäre, sie könnten mit ihren unbegrenzten finanziellen Mitteln die Verlage in den Ruin treiben. So etwas riskiert eine Chefredaktion nur, wenn die Beweislage eindeutig ist.

Was also wissen Haubs Ehefrau Katrin und die Zwillinge über »Charlies« Verbleib? Geht es wirklich nur um die Erbschaftssteuer oder wähnen sie ihn am Ende selbst in Russland? Ist das der Grund, warum sie ihn partout nicht für tot erklären lassen wollen? Seit seinem mysteriösen Verschwinden hat seine Ehefrau die Rolle der sogenannten Abwesenheitspflegerin übernommen. Das heißt, für die Dauer seiner Abwesenheit kontrolliert sie das Vermögen und die Geschäfte ihres Mannes. Im Moment ist sie die Herrin über ein Drittel der Firmenanteile von Tengelmann.

Während der Recherche fällt mir auf, dass gut informierte Personen aus dem Umfeld von Christian Haub sehr häufig zitiert werden, das Umfeld von Katrin Haub jedoch fast gar nicht. Es scheint logisch, denn Christian Haubs Seite hat ein größeres Interesse, etwas an der aktuellen Situation zu ändern, als die Seite von Katrin Haub.

Ich muss irgendwie an diese Menschen herankommen. Am liebsten würde ich natürlich direkt mit den beteiligten Parteien Christian und Katrin Haub sprechen. Am 12. Januar 2021 kontaktiere ich daher zunächst eine Person, von der ich ausgehe, dass sie einen sehr guten Draht zu Christian Haub hat und die zu einer unserer wichtigsten Quellen werden und uns viele Türen öffnen wird. Nach einer kurzen Recherche ist mir klar: Der Mann spielt im Unternehmen eine sehr große Rolle und hat eine machtvolle Position inne, auch wenn er nicht direkt bei Tengelmann angestellt ist. Er scheint Christian Haub jedoch nicht nur sehr gut zu kennen, er darf sich auch offenbar (wahrscheinlich nach Absprache) in dessen Namen äußern. Außerdem nimmt der Mann im gerade stattfindenden Erbschaftsstreit eine wichtige Funktion ein. Leider bleibt es mir an dieser Stelle aus Gründen des Schutzes der Persönlichkeit verwehrt, diese Person beim Namen zu nennen. Ich bedauere dies zutiefst, denn bei dieser Person handelt es sich meiner Wahrnehmung nach um einen der skrupellosesten Akteure der ganzen Geschichte.

Dass ich über diesen machtvollen »Zuflüsterer« von Christian Haub überhaupt jemals schreiben werden würde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Damals, im Januar 2021, hoffe ich lediglich, dass zumindest er zu einem Hintergrundgespräch bereit ist.

»Sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Liv von Boetticher, ich bin Journalistin im Investigativbereich der Mediengruppe RTL.

Ich recherchiere zum Verschwinden von Herrn Karl-Erivan Haub und möchte daher gerne ein Hintergrundgespräch mit (…) anfragen.

Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung!

Mit freundlichen Grüßen,

Liv von Boetticher« 187

Etwa drei Stunden später klingelt mein Telefon und der Mann ist am Apparat. Meine Handynummer steht zwar in der Signatur der E-Mail, trotzdem bin ich über seinen Anruf ziemlich überrascht. Es passiert eher selten, dass so hochrangige Personen aus dem direkten Umfeld der Geschäftsleitung freiwillig den Kontakt zur Presse suchen. Dieser Mann ist da jedoch offensichtlich anders gestrickt. Am Telefon erscheint er mir wie ein fröhlicher, sehr von sich selbst überzeugter Mensch. Mehrfach betont er, dass er glücklicherweise auf der »richtigen« Haub-Seite steht, nämlich der, die am Ende als Gewinner vom Feld ziehen würde. 188 Wie ich der Presse bereits entnommen hatte, strebt die Seite von Christian Haub an, die Anteile von Katrin Haub zum bestmöglichen Kaufpreis zu übernehmen. 189

Doch um den Verkauf anvisieren zu können, muss der Verschollene ja erst für tot erklärt werden. Und das, so mein Gesprächspartner am Telefon, sei nur noch eine Frage der Zeit. Er scheint sich seiner Sache sehr, sehr sicher zu sein. Zu meiner allergrößten Überraschung aber nicht, weil die Familie inzwischen davon ausgeht, dass Karl-Erivan Haub tatsächlich einen tragischen Unfall in den Alpen hatte, sondern ganz im Gegenteil: Jetzt, so erzählte es der Mann, lägen genug Hinweise vor, dass Karl-Erivan Haub sein Verschwinden bewusst herbeigeführt habe und sich wahrscheinlich in Russland aufhalte. Diese Hinweise seien so gewichtig, dass man nun anstreben könne, ihn als Gesellschafter der Firma Tengelmann auszuschließen. Während der Mann mit mir spricht und ohne Scheu die intimsten Informationen über die Familie Haub ausbreitet, frage ich mich, warum er das macht. Ist er ein Whistleblower , der aus einer inneren Überzeugung heraus handelt? Oder teilt er diese belastenden Informationen eher, weil er der Presse etwas »zuflüstern« soll – damit sich das Blatt im Erbschaftsstreit zugunsten von Christian Haub wendet? Ich beschließe, bei ihm vorsichtig zu bleiben. Sein Motiv ist mir in diesem Moment nicht klar.

Doch die Sache mit dem Gesellschafterausschluss ist interessant. Während meine Quelle mit mir spricht, krame ich in meinen Erinnerungen: Das Ganze kommt mir bekannt vor. Ich hatte über einen möglichen Ausschluss »wegen gesellschaftsschädigenden Verhaltens« 190 bereits in einem Artikel gelesen. Doch damals hatte ich nicht verstanden, auf welcher Grundlage man diesen gravierenden Schritt und das durchaus komplizierte gesellschaftsrechtliche Verfahren herbeiführen könnte. Offenbar stehen die Chancen für einen Ausschluss von Karl-Erivan Haub und seiner gesamten Familie jedoch sehr gut. Und bevor das geschehe, so die hochrangige Quelle, würde Katrin Haub einer Todeserklärung bestimmt zustimmen, denn dies sei für sie lukrativer.

Um jemanden als Gesellschafter auszuschließen, so erklärt mir der Mann, müsse man der Person ein Fehlverhalten nachweisen, das schädlich für das Unternehmen sei. Außerdem müsse man herausarbeiten, dass die Person ihren Verpflichtungen als Gesellschafter nicht nachgekommen sei. Und ein Ausschluss von Karl-Erivan Haub als Gesellschafter würde dann in Folge dazu führen, dass man sein Drittel der Unternehmensanteile für eine im Gesellschaftervertrag festgesetzte Summe ablösen könne: ein für Katrin Haub höchst unattraktiver Deal, denn das Unternehmen dürfte deutlich höher bewertet sein als die Summe, die im Gesellschaftervertrag genannt ist.

Katrin Haub, so die Quelle, würde daher schon bald der Todeserklärung zustimmen, da die Hinweise, dass ihr Mann noch am Leben sei, so erdrückend seien, dass sie aus Sorge vor dem finanziellen Schaden eines Gesellschafterausschlusses diesen Weg wählen »müsse« .

Ich kann es kaum glauben: Erzählt mir dieser enge Vertraute von Christian Haub gerade ernsthaft, Karl-Erivan Haub habe sein Verschwinden absichtlich herbeigeführt und sei möglicherweise in kriminelle Machenschaften verstrickt? Und wenn das alles stimmt: Warum sollte mir der Mann das erzählen? Einer Pressevertreterin? Einfach so, ohne Hintergedanken?

Mein Gesprächspartner stellt mir in Aussicht, mir noch viel mehr Informationen zu Karl-Erivan Haubs mysteriösem Verschwinden liefern zu können. Dafür müsse ich aber persönlich zu ihm kommen, denn das, was er mir zu sagen habe, sei zu delikat, um darüber am Telefon zu sprechen.

Christian Haubs Vertrauter residiert im Winter zeitweise in seinem Anwesen im Luxus-Skiort Sankt Moritz in der Schweiz. Dort sei er im Moment, und dorthin könne ich kommen. 191

Nach dem etwa einstündigen Telefonat rufe ich meine Chefin an. Ich erzähle ihr von diesem außergewöhnlich offenen Gespräch. Uns beiden ist klar, dass es einen guten Grund geben muss, warum diese wichtige Person aus Christian Haubs direktem Umfeld solche äußerst brisanten Informationen mit der Presse teilt und darüber hinaus anbietet, bei einem persönlichen Treffen noch mehr Informationen preiszugeben. Meine Kollegin und ich sind uns sehr sicher, dass er kein Whistleblower mit ehrvollem Antrieb ist, sondern eher jemand, der die Presse für seine Zwecke benutzen will, und wir vermuten, dass dadurch der Druck auf Katrin Haub im Erbschaftskrieg erhöht werden soll.

Aber wie dem auch sei: Über mögliche Hintergründe können wir uns später Gedanken machen. Für den Moment nehmen wir es, wie es ist: Der Mann ist ein möglicher Informant. Wenn das, was er mir am Telefon erzählt hat, auch nur ansatzweise stimmt, dann ist es eine unglaubliche Geschichte. Ich muss zu ihm nach Sankt Moritz und meine Chefin stimmt der Fahrt zu.

Besuch in Sankt Moritz

Die Reise in die Schweiz findet in der letzten Januarwoche statt. Zusammen mit einem Kameramann möchte ich zuerst nach Sankt Moritz fahren und dann von dort aus weiter nach Zermatt reisen. In den Wochen zuvor habe ich schon versucht, mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Bergrettern in Zermatt in Kontakt zu kommen, bin jedoch auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Niemand, wirklich niemand, will mit mir über den verschollenen Milliardär sprechen. Warum nur? In Deutschland würde man in so einem Fall an einen Pressesprecher verwiesen werden, der einem im schlimmsten Fall sagt, dass er nichts sagen kann. Aber man hätte zumindest diese Aussage. Da ich selbst an der Schweizer Grenze aufgewachsen bin, wundere ich mich sehr, dass die Schweizer offenbar ein völlig anderes Verständnis von der Zusammenarbeit mit der Presse haben. Irgendwie kommt mir das alles komisch vor.

Am 25. Januar machen mein Kameramann und ich uns mit dem Auto auf den Weg nach Sankt Moritz. Die Schweizer Alpen um uns herum liegen unter einer dicken Schneedecke, der Winter hat zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt erreicht. Es ist bitterkalt. Mit unserem ganzen Kamera-Equipment fahren wir über den Julierpass. Wir folgen blind dem Navi, im Nachhinein wirklich eine unkluge Idee, denn trotz Allradantrieb ist es eine einzige Rutschpartie. Wir kriechen mit dem Audi bei starkem Schneefall im Schritttempo die Serpentinen hoch und werden nur ab und an von Einheimischen in bergfesten Geländewagen überholt. Spät in der Nacht kommen wir endlich in Sankt Moritz an.

Das Treffen mit dem Informanten ist für den nächsten Tag gegen 14 Uhr geplant. 192

Die Stimmung in Sankt Moritz ist in diesem Januar 2021 ganz eigenartig. Aus früheren Jahren kenne ich den kleinen Ort als vibrierende Mini-Metropole der Schönen und Reichen. Privatjets landen mehrfach täglich auf dem nahen Engadin Airport. Frauen in langen Pelzmänteln flanieren an den Boutiquen und Juweliergeschäften vorbei. Doch jetzt beherrscht die Corona-Pandemie auch die Schweiz. Es sind fast nur Einheimische in dem Alpendorf, die Straßen liegen wie ausgestorben in der verschneiten Landschaft. Eigentlich eine herrliche Ruhe.

Der Mann hat ein Apartment in der Nähe des weltberühmten Badrutt’s Palace Hotels, einem imposanten Gebäude mit Türmchen und Blick über den zugefrorenen Sankt Moritzersee. Eine bessere und teurere Adresse gibt es wohl in der Schweiz nur an der Goldküste des Züricher Sees. Über WhatsApp gibt er mir die genaue Adresse sowie Anweisungen durch, wie ich den Eingang am besten finden könne. 193 Gegen 14 Uhr soll ich noch mal kurz anrufen, damit er mir aufmachen kann.

Den Vormittag des 26. Januars verbringen mein Kameramann und ich damit, Bilder von Sankt Moritz, den Bergen und dem See zu drehen. 194 Ich bin sehr gespannt auf das Treffen, doch die Vormittagsstunden vergehen quälend langsam. Was werde ich gleich erfahren? Die ganze Geschichte klingt viel zu verrückt, um wahr zu sein. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, mich in eine Schlangengrube zu begeben. Mir ist der Mann nicht geheuer und es ist klar, dass er uns benutzen will. Ich muss bei ihm höllisch aufpassen.

Zur vereinbarten Zeit mache ich mich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung. Die Straßen sind äußerst rutschig und es ist bitterkalt. Normalerweise würde ich zu einem solchen Treffen ein Jackett, eine Bluse und ordentliche Schuhe tragen, doch in diesem Fall stapfe ich in schweren Winterschuhen, einer Skihose, warmer Unterwäsche, zwei Pullis und einer dicken Jacke zum Treffpunkt. Die Wohnung liegt in Hanglage in einem Wohngebäude mit mehreren Einheiten.

Pünktlich auf die Minute bin ich vor der Tür. Christian Haubs Vertrauter erwartet mich schon.

Vor mir steht ein sonnengebräunter, nicht besonders großer Mann. Sein Blick ist äußerst wach und etwas lauernd. In seinen Augen liegt ein undurchdringliches Funkeln. Während ich in voller Wintermontur vor ihm stehe, trägt er nur eine Jeans und ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und aufgeknöpftem Kragen. Am Handgelenk trägt er eine große Rolex. Für mich ist er alles in allem der Typ »Aufschneider«, vor dem ich mich (generell) in Acht nehmen würde.

Er führt mich in den wunderschönen Wohn-/Essbereich des Apartments. Die Einrichtung ist sehr stilvoll im Engadiner Design gehalten. Der Blick aus dem Wohnbereich reicht unverbaut bis auf die andere Seite des Sankt Moritzersees. Eine wirklich wunderschöne Wohnung.

Doch wegen der tollen Aussicht bin ich nicht gekommen. Ich will von Christian Haubs Vertrautem hören, was er mir am Telefon aus Sicherheitsgründen nicht erzählen wollte. Nur aus diesem Grund bin ich einmal quer durch Deutschland bis in die Schweiz gereist.

Er erzählt mir, dass sich alle seine Informationen im Wesentlichen auf die Arbeit von zwei internen Ermittlern von Tengelmann stützen, die er vor Kurzem bei einem Treffen in Stuttgart persönlich kennengelernt habe. Bei einem mehrstündigen Termin hätten die beiden Männer ihm erklärt, wie sich ihre Ermittlungsarbeit in den vergangenen zweieinhalb Jahren aufgebaut habe und welchen Kenntnisstand sie aktuell hätten.

Mein Gegenüber holt das Protokoll, das einer seiner Mitarbeiter angefertigt hat. Wir gehen es Zeile für Zeile durch. Was ich in den folgenden vier Stunden zu hören bekomme, ist so unglaublich und gewährt so tiefe Einblicke in das Leben von Karl-Erivan Haub, dass es mir schwerfällt, alles zu glauben.

Im Anschluss an unser persönliches Gespräch bekomme ich das Protokoll. Für die beiden internen Ermittler gilt auch heute noch mein mit ihnen vereinbarter Quellenschutz. Ich umschreibe sie deshalb mit Sicherheitschef von Tengelmann bzw. Leiter der internen Ermittlungen und Tengelmann-Berater oder Krisenmanager. 195 Beide Männer sind keine »Privatdetektive« oder Ähnliches. Der Tengelmann-Sicherheitschef ist ein direkter Mitarbeiter von Tengelmann, sein Berater hingegen war zum damaligen Zeitpunkt Geschäftsführer einer auf Krisenmanagement spezialisierten Firma, die als Subunternehmen für Tengelmann tätig ist.

Das Protokoll der internen Ermittler

Das Protokoll umfasst zehn Seiten zu verschiedenen Themen und enthält mehrere Abkürzungen:

KEH

Karl-Erivan Haub

KH

Katrin Haub

GH

Georg Haub

In dem mir von Christian Haubs Vertrautem überlassenen Protokoll gibt es einige inhaltliche Fehler. Vermutlich Flüchtigkeitsfehler, die aufgrund der Fülle an Informationen versehentlich beim Mitschreiben des Gesprächs mit den internen Ermittlern passiert sind. Ich habe sie markiert.

Es folgt ein Auszug 196 der spannendsten Abschnitte. Er beginnt auf Seite 2 mit Abschnitt II. Verschollenheitsgesetz-Komplex :

Zunächst geht es um den Krisenmanager und seine Tätigkeit für Tengelmann. Offenbar ist dieser Mann Christian Haubs engem Vertrauten bisher noch nicht bekannt gewesen, denn laut dem Protokoll wird seine Funktion ausführlich erläutert: Er sei Geschäftsführer einer GmbH 197 , die auf »Mobility Risk Management spezialisiert« sei. Außerdem sei er seit Längerem mit dem Sicherheitschef von Tengelmann befreundet. Der Krisenmanager habe Karl-Erivan Haub persönlich gekannt und ihn »wenige Male« gesehen. Sehr interessant ist, dass diese Person »Tengelmann in der ersten Phase nach dem Verschwinden von KEH« unterstützt habe und als einer der Ersten vor Ort gewesen sei.

Als Nächstes berichten laut dem Protokoll sowohl der Sicherheitschef von Tengelmann als auch sein Berater, der Krisenmanager, über die Suche nach Karl-Erivan Haub in Zermatt. Seltsamerweise gebe es eine »bewusste Diskrepanz zwischen dem Sachstand vor Ort und dem nach außen kommunizierten Geschehen«. Am Tag des Verschwindens sei »sehr gutes Wetter« gewesen. Von der Presse sei jedoch verbreitet worden, dass es »2 Meter Neuschnee in den Tagen nach dem Verschwinden« gegeben habe. Dies sei »falsch«. Es sei sogar genau das Gegenteil der Fall gewesen: Am Vortag des Verschwindens habe es »leichten Neuschnee« gegeben. Mögliche Spuren im Schnee seien »sehr gut ersichtlich« gewesen. Es hätten sogar »perfekte Bedingungen für eine Suche vorgelegen«. Das Wetter sei erst viel später schlechter geworden.

Christian Haubs enger Vertrauter berichtet mir weiter, dass es laut dem Protokoll die »größte Bergrettungsaktion gewesen sei, die jemals am Matterhorn stattgefunden habe«. Es seien nicht nur Polizei und Militärhubschrauber im Einsatz gewesen, sondern auch private Hubschrauber, auf die »die Geräte der Polizei und des Militärs umgebaut wurden, weil die Privathubschrauber höher fliegen konnten«. Bei der Suche in Eis und Schnee habe man sich zunächst auf jene Routen und Pisten konzentriert, bei denen die »höchste Wahrscheinlichkeit« bestanden habe, dass diese »von KEH gewählt worden sein könnten«. Doch nirgends habe man verräterische Spuren in Richtung der Gletscherspalten gefunden. Trotzdem habe man eine Vielzahl von »Gletscherspalten in unmittelbarer Nähe (30–40) auch physisch (d. h. durch Abseilen der Bergretter in die Gletscherspalten)« abgesucht. Alle Versuche seien »erfolglos« geblieben und schließlich habe man sich auch auf »schwerere Routen, die mangels Trainingseffekt eigentlich keinen Sinn ergaben und aufgrund der Kleidung von KEH auch eher unwahrscheinlich waren« konzentriert.

Das Protokoll führt weiter aus, dass auch »Fotos aus sozialen Medien ausgewertet und Zeugen gesucht und befragt« worden seien, da auf solchen schweren Touren eine Einzelperson auffalle, doch auch dies sei »jeweils erfolglos« geblieben. Laut dem Schreiben, dass Christian Haubs enger Vertrauter mit mir durchgeht, sei sich der Krisenmanager »sicher« gewesen, dass, »wenn es tatsächlich ein Unfall gewesen wäre, schon nach zwei Tagen keine Überlebenschance mehr bestanden habe und wenn KEH auf einer Piste oder Route unterwegs gewesen wäre, man ihn auch gefunden hätte«.

Dann kommen wir zum aus meiner Sicht wichtigsten Punkt: den »ungeklärten Fragen und Ungereimtheiten«. Denn davon, so erfahre ich, habe es einige gegeben. Und dies sei auch der Grund, warum sowohl der Tengelmann-Sicherheitschef als auch sein Berater, der Krisenmanager, die Wahrscheinlichkeit für einen Bergunfall »sehr gering« einschätzen.

Zum einen, so erfahre ich, sei Karl-Erivan Haub Mitglied eines Teams gewesen, das aus zwei Bergführern, ihm selbst und einem weiteren Freund bestanden habe. »Trainerin des Teams sei eine Ultra-Marathonläuferin und Triathletin gewesen.« Die Frau habe sich »überraschend« vor Kurzem beim Krisenmanager gemeldet und ihm erklärt, dass sie »nie an einen Bergunfall« geglaubt habe. Sie habe laut eigener Aussage zu Karl-Erivan Haub die »intensivste Beziehung aus dem Team« gehabt. Dem Protokoll zufolge erklärte die Trainerin dem Krisenmanager, dass sich der Milliardär »sehr akribisch an den von ihr aufgestellten Trainingsplan gehalten und hierzu auch immer Rückfragen gehabt habe«. Die Trainerin gibt an, sie habe dem Vermissten die »klare Ansage gemacht, dass er eine Woche vor der ›Patrouille des Glaciers‹ kein Belastungstraining, insbesondere kein Höhentraining, mehr machen solle«. Stattdessen, so das Protokoll, sei eine Ruhephase angesagt gewesen und die Trainerin sei »sehr überrascht« gewesen, dass Karl-Erivan Haub sich offenbar nicht an ihren Plan gehalten habe. Außerdem berichteten sowohl der Tengelmann-Sicherheitschef als auch sein Berater, der Krisenmanager, laut dem Protokoll, dass aufgrund ihrer eigenen Erfahrung »KEH kein ›Draufgänger‹« gewesen sei. Beide Männer können sich daher offenbar nicht vorstellen«, dass der ehemalige Tengelmann-Chef »mit dieser Ausrüstung und alleine eine extreme und zudem von seiner Trainerin untersagte Tour unternommen habe«.

Beide Männer gehen laut dem Protokoll daher davon aus, »dass KEH das Mobiltelefon bewusst ausgeschaltet« habe, denn sein Handy sei »noch am Samstagmorgen um 5 Uhr im Tengelmann-System eingeloggt gewesen« und der Akkustand betrug »zu diesem Zeitpunkt 83 %« 198 . Christian Haubs Vertrauter berichtet mir weiter, dass danach »ausweislich der Einzelverbindungsnachweise keine Telefongespräche mehr geführt« worden seien, »sodass nicht davon auszugehen sei, dass das Mobiltelefon wegen leeren Akkus (z.B. aufgrund der Kälte) ausging«. Außerdem berichten die beiden Männer offenbar, dass innerhalb der Familie Haub bekannt gewesen sei, dass der verschwundene Milliardär »sein Mobiltelefon sonst nie ausschalte und typischerweise noch Fotos vom Gipfel mache«.

Eine weitere Besonderheit sei außerdem, dass sich Karl-Erivan Haub »äußerst kurzfristig« dazu entschlossen habe, nach Zermatt zu fliegen. Im Protokoll steht an dieser Stelle: »Ursprünglich sei ein Flug nach Grenoble und ein Aufenthalt in Les Deux Alpes geplant gewesen. Erst am Freitagmorgen um 1 Uhr habe er seinem Piloten per WhatsApp mitgeteilt, dass er wegen ›schlechten Wetters‹ nach Zermatt fliegen wolle.« Offenbar, so berichtet es auch Christian Haubs Vertrauter, habe Karl-Erivan Haub auch seiner Frau Katrin diese Information gegeben. Auch ein Blick in die Wettervorhersage habe wenig Erhellendes gebracht, denn »tatsächlich sei die Wettervorhersage zu diesem Zeitpunkt für Zermatt schlechter gewesen (als für Les Deux Alpes 199 ).« Auch eine Art Rechtfertigung gegenüber dem Piloten sei »für KEH unüblich«.

Dann wird es aber richtig dubios: Nach dem Verschwinden von Haub am Samstag, den 7. April, seien am Montag »zwei seltsame Gäste im Hotel ›The OMNIA‹ eingetroffen, die bis auf einen einzigen Ausflug auf das Matterhorn ständig den Krisenraum und die Familie beobachtet haben«. Das Pärchen war offenbar so auffällig, dass der Krisenmanager Passkopien der deutschen Personalausweise der beiden erhielt. Im Nachgang habe man aufgrund der »guten Verbindung des Tengelmann-Sicherheitschefs zu verschiedenen Geheimdiensten« herausfinden können, dass es sich bei den beiden Personen um »Mitglieder des FSB« gehandelt habe. Interessant sei laut Protokoll außerdem, dass beide kurz vor ihrer Ankunft »telefonisch Kontakt zu GH aufgenommen haben« (sollen 200 ). Den mittleren Haub-Sohn habe man allerdings bislang auf diesen ungeheuerlichen Vorwurf nicht angesprochen.

In Zermatt stand offenbar schnell fest, dass die Such- und Rettungsmaßnahmen zu keinem Ergebnis führen. Man konzentrierte sich daher auf andere Optionen. Mit Hilfe der Einzelverbindungsnachweise seines Telefons konnte man laut Protokoll feststellen, dass »KEH mit zunehmender Häufigkeit zum Tag des Verschwindens mit seiner (möglichen 201 ) Geliebten, Frau Veronika E., telefoniert habe«, dies jedoch jeweils nur für »ganz kurze Zeit von etwa einer Minute (möglicherweise hat sie dann zurückgerufen)«. Als Besonderheit wird dann aber vermerkt, dass der Milliardär am Tag vor seinem Verschwinden »zwei 202 Telefonate (Frau E. und ein Banker 203 ) nach Russland« tätigte, die zusammen »insgesamt 1,5 Stunden« dauerten. Als Nächstes wird im Protokoll ein Punkt angesprochen, über den ich schon in einem Artikel im Internet etwas gelesen hatte: Karl-Erivan Haub soll einen russischen Pass besessen haben: »KEH hatte einen russischen Pass, dessen Nummer mit 52 beginnt, was auf einen nicht normalen Prozess, sondern auf eine Ausstellung über das Konsulat oder Außenministerium« hindeute. Der Vertraute von Christian Haub erklärt mir an dieser Stelle, dass die beiden internen Ermittler ihm gesagt hätten, dass man eine Kopie des Passes »damals für rund 10.000 Euro« hätte bekommen können, zum damaligen Zeitpunkt habe man aber darauf verzichtet. Das Protokoll gibt an dieser Stelle wieder, dass »allein die ›Passöffnung‹ im System durch einen dortigen Mitarbeiter« in Russland hohe Wellen geschlagen habe, genau wie »die Verfolgung einer Fahrt von Frau E. durch Moskau mittels verschiedener Überwachungskameras (es wurde gezielt nach deren Autokennzeichen gesucht)«. Beides habe zu ziemlich viel Ärger für die betreffenden Beamten geführt.

Die internen Untersuchungen des Tengelmann-Sicherheitschefs und seines Beraters, des Krisenmanagers, hätten außerdem zutage gefördert, dass Karl-Erivan Haub bei seinen Einreisen nach Russland falsche Adressen angegeben habe: Bei jeder Reise nach Russland müsse der Einreisende seine »genauen Aufenthaltsdaten in das Computersystem eintragen« lassen. Hierbei müsse »jedes Feld« ausgefüllt werden, da sonst die Eingabemaske gar nicht geschlossen werden könne. Doch eine Überprüfung der Adressen habe ergeben, dass die angegebenen Adressen »nachweislich falsch« seien, sodass sich sein dortiges Reiseverhalten »nicht nachvollziehen lasse«.

Jede Zeile des Protokolls fördert neue, verstörende Informationen zutage: die junge Russin Veronika E., von der ich schon einiges in der Klatschpresse gelesen hatte, soll nicht nur Karl-Erivan Haubs Geliebte sein – offenbar hat sie »nach den vorliegenden Informationen« der internen Ermittler »für den FSB gearbeitet« und kenne den Milliardär bereits seit 2002. Die junge Frau arbeite in einer Eventagentur, hinter der »typischerweise der FSB stecke«. Auch sei es nicht ungewöhnlich, dass die junge Frau von ihrem »Profil« her »sehr gut zu KEH passte (z. B. ihre Begeisterung für das Bergsteigen und Extremsportarten)«.

Im nächsten Abschnitt wird im Protokoll beschrieben, wie sowohl Katrin als auch Helga Haub nach dem Verschwinden des Ehemanns und Sohnes zunächst »alles Erforderliche ›freigegeben‹« haben, »um KEH tatsächlich zu finden«. Beide Frauen hätten daher auch vom möglichen russischen Pass und der möglichen Geliebten gewusst. Auch die zwei »verdächtigen Personen vor Ort« seien den beiden bekannt gewesen.

Dieser »damalige Stand zu den Russland-Verbindungen«, sei lediglich »Helga Haub, ihrem Personenschützer und der Familie KEH« bekannt gewesen. Da dieses Wissen nun »an die Presse gegangen« sei, gehen der Tengelmann-Sicherheitschef und sein Berater laut dem Protokoll nun davon aus, dass die Informationen »von der Gegenseite ›durchgestochen‹« worden seien.

Unter Punkt III. finden sich im Protokoll alle aktuellen Erkenntnisse zum Stand der Ermittlungen. Aufgrund der bisherigen Recherchen gehen sowohl der Tengelmann-Sicherheitschef als auch sein Berater davon aus, »dass KEH nicht verunglückt, sondern mithilfe des FSB in Russland untergetaucht sei«. Die beiden Männer geben an, dass man »über Kontakte vor Ort« und eine Bezahlung von Hunderttausend Euro »ein Foto von KEH sowie Informationen, wo und wie er lebt und wie er mittlerweile heißt« besorgen könnte.

Die Männer äußern dem Protokoll zufolge den Verdacht, dass »nicht nur seine (mögliche 204 ) Geliebte Frau E., sondern auch KEH für den russischen Geheimdienst FSB tätig gewesen ist«. Zwar glauben der Tengelmann-Sicherheitschef und sein Berater offensichtlich nicht, dass Karl-Erivan Haub als »klassischer Spion« ausgebildet worden sei, sie vermuten viel mehr, dass »die Verbindungen zu KEH vom FSB schleichend aufgebaut« worden sein könnten. In diesem Zusammenhang sei das Verschwinden dann als »Flucht« zu erklären, »weil beispielsweise die US-Geheimdienste von seiner Verbindung zum FSB etwas mitbekommen haben könnten«. Voller Erstaunen höre ich vom Vertrauten von Christian Haub, dass die beiden internen Ermittler im Gespräch mit ihm diese Vermutung wohl durch Indizien untermauert hätten: Zwar sei »KEH nicht vom Verfassungsschutz beobachtet worden«, jedoch möglichweise durch einen der amerikanischen Geheimdienste. Laut dem Protokoll erinnerte sich der Sicherheitschef von Tengelmann an einen Vorfall im Oktober 2017, also rund ein halbes Jahr vor dem mysteriösen Verschwinden. Karl-Erivan Haub sei zu ihm gekommen und habe behauptet, »Informationen zu haben, dass er abgehört werde«. Sein Sicherheitschef habe daraufhin im Unternehmen »umfangreiche Technik aufgebaut« um der Sache auf den Grund zu gehen, doch er habe nichts finden können. 205

Sehr seltsam liest sich auch ein Vorfall, den der Krisenmanager zu Protokoll gegeben hat. Offenbar kam es zwischen ihm und dem amerikanischen Generalkonsul der Frankfurter US-Botschaft zu einem Treffen, dieses soll in Bern stattgefunden haben. Das Treffen habe nach dem Ende der offiziellen Suche nach dem vermissten Milliardär stattgefunden. Da Karl-Erivan Haub auch amerikanischer Staatsbürger sei, habe man »die USA um Unterstützung bei der Suche (auch mit Drohnen)« bitten wollen. Zu seiner Überraschung sei der Krisenmanager dann jedoch »als Einzelner sieben Personen gegenübergesessen (CIA, FBI, Schweizer Kontaktperson zum CIA und Generalkonsul)«. Die Amerikaner hätten ihm dann im Verlauf des Gesprächs klargemacht, dass sie keine eigenen Suchmaßnahmen anstrengen würden. Gleichzeitig, so lese ich es im Protokoll, hätten sie jedoch versucht, »Kenntnisse vom Krisenmanager« abzugreifen. Einige Zeit später habe der Krisenmanager dann aber von seinen Kontakten in Zermatt erfahren, dass FBI- und CIA-Agenten entgegen ihrer ursprünglichen Ansage trotzdem ins Matterhorn-Gebiet gereist seien und dort »mit der Kriminalpolizei, mit der Kantonspolizei und dem Rettungschef Zermatt gesprochen hätten«. Nach Einschätzung des Sicherheitschefs von Tengelmann ließe dies »auf ein besonderes Interesse schließen«.

Nun bleibt die Frage, welche Rolle das Gletschergebiet rund um Zermatt in dieser ganzen Geschichte spielt. Christian Haubs enger Vertrauter erklärt mir, dass ihm der Sicherheitschef von Tengelmann sowie sein Berater, der Krisenmanager, erklärt hätten, dass »sollte KEH tatsächlich Beziehungen zum russischen Geheimdienst FSB gehabt haben«, es »kein besseres Exit-Szenario als in Zermatt« geben würde, da der Milliardär dort ohne Probleme »unerkannt« auf die italienische Seite nach Cervinia habe abfahren können. Aus Sicht der beiden Männer habe Haub dort »untertauchen können, bis er anscheinend heimlich nach Russland gebracht worden sein dürfte«.

Doch für ein Untertauchen muss es ja einen Grund geben, ein Motiv. Warum hätte der angesehene Milliardär und Firmenlenker sein »bisheriges luxuriöses Leben« hinter sich lassen sollen? Aus Sicht der beiden internen Ermittler könnte Karl-Erivan Haub »semi-freiwillig« untergetaucht sein, weil er aufgrund der möglichen FSB-Verbindungen »in der westlichen Welt Probleme hätte befürchten müssen«.

Während Christian Haubs Vertrauter mit mir Zeile für Zeile das Protokoll durchgeht, füllen sich die Seiten meines Schreibblocks. Ich versuche, jedes Detail, jeden Zusammenhang zu notieren, nichts auszulassen oder zu vergessen. Zwar hatte mir mein Gesprächspartner im Vorfeld versprochen, mir das ganze Schriftstück im Anschluss zu überlassen, aber sicher bin ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auch mein Gegenüber hat ein Motiv, sonst würde er diese höchst belastenden Informationen nicht mit mir teilen.

Inzwischen sitzen wir seit mehreren Stunden zusammen und der Mann beantwortet auch viele meiner Nachfragen, sofern er sie beantworten kann. Oft verweist er während des Gesprächs jedoch auf die beiden internen Ermittler: den Sicherheitschef von Tengelmann und seinen Berater, den Krisenmanager. Für mich ist zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass ich mit den beiden Männern ebenfalls ein persönliches Gespräch führen möchte.

Vor dem Fenster hüllt sich die Welt langsam in Dunkelheit, der Sankt Moritzersee verschwindet im Lichte der Dämmerung. Im Protokoll sind nur noch einige Punkte offen.

Der nächste Abschnitt, so erklärt es mir Christian Haubs Vertrauter, sei besonders interessant. Unter Punkt V. wird eine weitere Person detailliert beschrieben: es ist der ehemalige Top-Manager von Tengelmann, in dem Karl-Erivan Haub eine nahezu »väterliche Figur« gesehen haben soll. Trotz einer hohen Position im Unternehmen, sei der Mann »immer in Geldnöten gewesen und habe eine russische Frau gehabt«. Aktuell dürfe er »aufgrund eines Haftbefehls des FSB derzeit nicht nach Russland einreisen«. Zudem sei es wohl trotz der jahrelangen sehr engen und vertrauensvollen Beziehung zwischen dem Top-Manager und Karl-Erivan Haub in den Monaten vor dem Verschwinden zu einem »Bruch« zwischen den beiden gekommen. Weder der Sicherheitschef von Tengelmann noch sein Berater kennen jedoch die Einzelheiten. Immer wieder, so erfahre ich, habe der Mann »eine dubiose Rolle« gespielt: auf der gemeinsam für Erivan Karl und Karl-Erivan Haub abgehaltenen Trauerfeier habe er eine »grenzwertige, wenn nicht sogar grenzüberschreitende« Rede gehalten. Außerdem sei ihm nicht zu trauen, der ehemalige Top-Manager habe einmal »sehr ordentlich mit einer Journalistin 206 ›gebechert‹ und dabei auch nicht beabsichtigte Aussagen getätigt, die dann in die Öffentlichkeit getragen worden seien«. Zudem habe der Mann der Familie »eingeflüstert, dass sie nicht mehr ausreichend Geld habe, und so versucht, über seine Firma Beratungsleistungen (…) abzurechnen«. Der Tengelmann-Sicherheitschef geht davon aus, »sollte KEH in Russland untergetaucht sein, dass der ehemalige Top-Manager davon Kenntnis habe.« Sollte dies der Fall sein, so wird im Protokoll ergänzt, wüssten auch Teile der Familie »Bescheid«.

Zum Schluss werden unter Punkt VI. »Sonstige Themen« behandelt. Wie auch mir durch meine Vorrecherche inzwischen bekannt ist, betont der Sicherheitschef nochmal, dass »KEH sehr ängstlich und deshalb sehr auf Sicherheit bedacht gewesen sei und ihn auch für triviale Sachen beauftragt habe«. Laut seiner Aussage habe er »immer nur das Beste haben wollen«. Die Personenschützer hätten beispielsweise auf das kugelsichere Auto schießen müssen, » um nachzuweisen, dass KEH darin tatsächlich geschützt sei«.

Inzwischen ist es Abend geworden. Die Erzählungen von Christian Haubs Vertrautem haben mich so gefesselt, dass ich in den ganzen vier Stunden in seiner Wohnung nicht einen einzigen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem kleinen Couchtisch vor mir getrunken habe. Meine Wangen glühen und mein Kopf ist übervoll mit Informationen. Das alles klingt so unglaublich, dass es eigentlich nicht wahr sein kann. Und genau deshalb glaube ich es auch nicht. Ich kann mir einfach kein Szenario vorstellen, in dem es Sinn ergeben würde, dass ein enger Vertrauter des aktuellen Konzernlenkers schwer belastende Informationen über dessen Familie mit einer Pressevertreterin teilen würde. Auch die Motivation der internen Ermittler ist mir schleierhaft.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich keinerlei Informationen über die Männer. Ich kenne weder ihre Namen noch ihre Funktionen. Im Gespräch mit Christian Haubs Vertrautem geht es nicht um die Aussagen des Tengelmann-Sicherheitschefs und seines Beraters, sondern ausschließlich um »Ermittler 1« und »Ermittler 2«.

Meine wahrscheinlichste Vermutung ist zu diesem Zeitpunkt, dass die beiden Männer Scharlatane sind, die sehr viel Geld mit ihren »Ermittlungen« verdienen und deshalb der Familie vermeintliche »Geheimdienstinformationen« zuschanzen, die nicht überprüfbar sind. Damit könnten sie Bedrohungsszenarien aufrechterhalten und die Milliardärsfamilie mit immer neuen, teuren Ermittlungen »melken«.

Doch aus dem Protokoll geht auch klar hervor, dass die gesamte Familie von Beginn an über den jeweils aktuellen Kenntnisstand in den vermeintlichen Ermittlungen informiert wurde. »Ermittler 1« (der Sicherheitschef von Tengelmann) sowie »Ermittler 2« (sein Berater), so betont es Christian Haubs Vertrauter gleich mehrfach, seien sich »sehr sicher«, dass sie schon bald den finalen Beweis für das Fortleben von Karl-Erivan Haub hätten. Auf meine Frage, woher er dieses Vertrauen nehme, antwortete er, die beiden Männer hätten eine seriöse Art der Abrechnung gegenüber Christian Haub vorgeschlagen: Die Ermittlungen werden nur bezahlt, wenn ein unabhängig überprüfbarer Beweis erbracht wird, entweder für den Tod oder das Fortleben von Karl-Erivan Haub. Mehrere unabhängige Gutachter müssten in der Lage sein, die vorgetragenen Belege zu bestätigen. Als Belege würden aus Sicht des Vertrauten zum Beispiel Fotos oder Videos, eine aktuelle Passkopie, Kontobewegungen, die klar mit Karl-Erivan Haub in Verbindungen zu bringen sind, oder Ähnliches zählen. Und gerade seien die beiden Männer zusammen mit externen Ermittlungsagenturen dabei, diese finalen Beweise zu beschaffen.

Wenn all diese Behauptungen tatsächlich stimmen, müsste es ja theoretisch Beweise geben. Es steht für mich daher außer Frage, dass ich mit den beiden internen Ermittlern persönlich sprechen muss. Sie sind Dreh- und Angelpunkt sowie Ausgangspunkt für eine weiterführende Recherche. Ich will jede einzelne Behauptung verifizieren und nichts Unüberprüfbares veröffentlichen. Und das sage ich auch unserem Informanten: Meine Voraussetzung für eine Berichterstattung zu dem Thema ist, dass ich mit den beiden internen Ermittlern sprechen kann. Er verspricht mir, ein persönliches Gespräch mit den beiden Männern zu organisieren.

Am Abend schreibe ich eine Mail 207 an meine Chefinnen.

»Liebe Kolleginnen,

anbei bekommt ihr eine Zusammenfassung meines Gesprächs (…). Es gibt vier Möglichkeiten, was mit KE Haub passiert ist:

  1. Unfall

  2. Selbstmord

  3. Freiwilliges Abtauchen

  4. Verbrechen

Christian Haubs Vertrauter ist in Kontakt mit zwei Männern, die aus »Sicherheitskreisen« (Ermittler 1 und Ermittler 2) stammen. Nach dem Gespräch mit ihnen hat er ein sehr detailliertes Protokoll angefertigt, mit allen Hintergründen zu KE Haub. (…) er wird versuchen, mich mit ihnen für ein Hintergrundgespräch zur Verifizierung der Angaben aus dem Protokoll in Kontakt zu bringen. (…)

Nach dem vierstündigen Gespräch kommen eigentlich nur noch zwei Varianten in Betracht:

  1. Freiwilliges Abtauchen

  2. Verbrechen

(…) Am Tag nach dem Verschwinden von KE waren zwei »dubiose« Gestalten im Hotel in Zermatt, in dem auch Haubs Familie war. Später stellte sich laut Protokoll heraus, dass es sich um Mitglieder des russischen Geheimdienstes handelt. (…)

(…) Rund um das Verschwinden am Berg gibt es so viele Ungereimtheiten, dass Ermittler 1 und Ermittler 2 sowie die Personal Trainerin unter keinen Umständen an einen Unfall glauben.

(…) Ermittler 1 und Ermittler 2 (wurden) beauftragt, Bilder von KE in Russland zu bekommen. Die Bezahlung erfolgt laut Christian Haubs Vertrautem in einer Art und Weise, die ihm sagt, dass sich Ermittler 1 und Ermittler 2 sehr sicher sind, diese Bilder auch zu bekommen: Sie ist erfolgsabhängig. Außerdem hat er sie beauftragt, eine Kopie des russischen Passes zu bekommen. (…)

(…) Morgen ist Reisetag nach Zermatt (Fahrtzeit ca. 7–8 Std)

Viele Grüße!

Liv«

Am Abend des 26. Januar 2021 bin ich ziemlich aufgewühlt. Diese Geschichte ist wilder als jeder James-Bond-Film. Während mein Kameramann, der den ganzen Nachmittag auf meine Rückkehr gewartet hat und deshalb auf dem zugefrorenen See spazieren war, und ich beim Abendessen im Hotel sitzen, frage ich mich, was um Himmels willen mit Karl-Erivan Haub passiert ist. In was ist der »ehrbare Kaufmann« da hineingeraten? Und wer in der Familie weiß etwas?

Unser Informant hat mir den Eindruck vermittelt, dass er sich wirklich sehr sicher ist, dass die internen Ermittler seriös sind und keinen Blödsinn erzählen. Während des Gesprächs habe ich ihn mehrfach nach seiner Einschätzung gefragt. Auf mich wirken die beiden Männer wie halbseidene Gestalten vom Typ »Türsteher« oder »Zuhälter«. Doch Christian Haubs Vertrauter sieht das ganz anders. Er weist mich auf die Tatsache hin, dass die Bezahlung in Millionenhöhe erst erfolgen solle, wenn die beiden Männer den finalen Beweis für den aktuellen Aufenthaltsort des Verschollenen erbracht hätten. Finanziell sei die Suche kein Fass ohne Boden, sondern in einem Vertrag klar geregelt.

Beide Männer hätten ihm zudem laut eigener Aussage zugesichert, die Lieferung finaler Beweise stünde unmittelbar bevor. Und warum auch immer: Christian Haubs Vertrauter will mir zeitnah Zugriff auf die kompletten Informationen verschaffen. Ich kann es einfach nicht glauben.

In Zermatt schließen sich alle Türen

Am nächsten Tag fahren mein Kameramann und ich weiter nach Zermatt. Das Navi berechnet für die Fahrt rund fünf Stunden, aber ich ahne schon, es wird deutlich länger dauern. Auch bei guten Wetterbedingungen gestaltet sich die Anreise nach Zermatt schwierig. Der kleine Ort liegt am hintersten Ende des Mattertals und ist offiziell autofrei. Reisende müssen ihr Auto einige Kilometer entfernt in dem kleinen Dorf Täsch am Bahnhof abstellen und vom Matterhorn Terminal Täsch mit dem Zug in das schmale Tal fahren.

Der Informant hat mir in unserem vierstündigen Gespräch viele fast unvorstellbare Details über das Leben von Karl-Erivan Haub genannt. Während ich darauf warte, dass er mir den Kontakt zu den internen Ermittlern herstellt, finde ich es an der Zeit, diese ganzen Informationen einem ersten Faktencheck zu unterziehen. Wenn wir jetzt schon feststellen könnten, dass vieles davon gar nicht stimmt oder unseriös ist, würden wir uns alle eine Menge Arbeit ersparen.

Im Jahr 2016 gründete die Mediengruppe RTL als einer der ersten Sender Deutschlands das Verifizierungsteam. Es ist ein Team von Journalistinnen und Journalisten, das auf Anfrage der Redaktionen Inhalte im Netz mithilfe von Analysetools auf ihre Echtheit überprüft. Darunter fallen zum Beispiel Bilder und Videos, die in einer Breaking-News-Situation über die sozialen Medien eintreffen und bei denen zunächst geprüft werden muss, ob das Bild oder Video tatsächlich das zeigt, was es vorgibt zu zeigen. Vielleicht könnte das Verifizierungsteam einige Informationen rund um die angebliche russische Geliebte Veronika schon bestätigen – oder eben ausschließen.

Während der Autofahrt nach Zermatt schreibe 208 ich meiner Chefin:

»Liebe (…),

wir wissen inzwischen den Namen der Geliebten, Veronika E., sowie die Agentur, für die sie zuletzt gearbeitet hat: Russian Event.

Burak und Sergej aus dem Verifizierungsteam sind extrem gute Rechercheure, mit deiner Zustimmung würde ich sie gerne fragen, die digitalen Footprints von Frau E. zu erstellen.

Ist das ok?

Viele Grüße!

Liv«

Für meine Kollegin ist das natürlich in Ordnung und Burak und Sergej beginnen von Köln aus, sich an die digitalen Spuren von Veronika E. zu heften.

Das Wetter in der Schweiz ist inzwischen noch schlechter als bei unserer Hinfahrt nach Sankt Moritz. Es gibt einen heftigen Schneesturm und die Sichtverhältnisse betragen nur wenige Meter. Aufgrund einer Streckensperrung müssen wir die Route nach Zermatt über die italienische Seite der Alpen wählen. Doch dort ist der Schneesturm noch schlimmer. Wir kämpfen uns im Schritttempo die schmalen Straßen entlang, man sieht fast nichts mehr. Das Matterhorn Terminal Täsch erreichen wir schließlich nach elfstündiger Fahrt. Mit viel Glück erwischen wir einen der letzten Züge nach Zermatt: Ab dem nächsten Tag ist das Alpendorf dann aufgrund von hoher Lawinengefahr erst mal für mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Mein Kameramann und ich hängen an einem Ort fest, wo wir höchst unwillkommen sind – doch das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Mein Plan ist, in Zermatt eine Vor-Ort-Recherche zu filmen. Ich möchte mit den Menschen in Kontakt kommen, die unmittelbar an der Suche nach Karl-Erivan Haub beteiligt waren. Außerdem möchte ich mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft reden und sie auf die neuen Erkenntnisse aus meinem Gespräch mit Christian Haubs Berater ansprechen. Würden mir die Behörden beispielsweise bestätigen, dass sowohl FBI als auch CIA nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub in Zermatt ermittelt haben? Und wenn ja: Was wollten die amerikanischen Behörden überhaupt dort?

Im Protokoll wird außerdem ein dubioses Pärchen 209 erwähnt, das nach Haubs Verschwinden im Hotel The Omnia eincheckte und die Familie und internen Ermittler bei der Koordination der Such- und Rettungsmaßnahmen beobachtete. Dem Protokoll zufolge sei das Pärchen im Hotel aufgefallen, also möchte ich dort mit jemandem sprechen.

Inzwischen ist der 28. Januar. Der Schneesturm vom Vortag ist zwar vorbei, allerdings fallen dicke, nasse Schneeflocken vom Himmel. 210 Die Flocken sind so nass, dass wir nach wenigen Stunden Dreharbeiten bis auf die Unterwäsche durchweicht sind. Um unsere Kameratechnik zu schützen, brechen wir den Dreh ab. Vom Hotelzimmer aus beginne ich, alle Behörden sowie das Rettungsteam von Air Zermatt abzutelefonieren. Ich möchte die verantwortlichen Personen zunächst ohne Kamera treffen und mit ihnen ein ausführliches Hintergrundgespräch führen. So wie ich es auch mit dem engen Vertrauten von Christian Haub getan habe. Wie schon bei meinem ersten Versuch einige Wochen zuvor stoße ich auf eine Mauer des Schweigens. Niemand, wirklich niemand, ist bereit, sich mit mir zu unterhalten. Auch nicht ohne Kamera. Von einer Mitarbeiterin von Air Zermatt erfahre ich, die Familie Haub habe jegliche Kommunikation mit der Presse »verboten« 211 und man halte sich daran. Ich bin ziemlich fassungslos.

Seit wann diktierten Privatpersonen (auch wenn es sich dabei um Milliardäre handelt) Pressestellen von Behörden (in diesem Fall von der Staatsanwaltschaft und der Polizei) und privatwirtschaftlichen Unternehmen (im Fall von Air Zermatt), wie sie sich zu verhalten haben? Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Diese Mauer des Schweigens geht für mein Gefühl deutlich über das übliche Maß des Schutzes der Privatsphäre hinaus. Viele Monate später sollte mein Gefühl bestätigt werden, als mir eine Schweizer Lokaljournalistin erzählte, dass das Verhalten der verantwortlichen Personen tatsächlich von großer Angst geprägt gewesen sei und die Presse in der Schweiz normalerweise die gleichen Zugänge und transparenten Auskünfte erhalte wie in Deutschland.

Seit meinem Besuch bei Christian Haubs Vertrautem in Sankt Moritz sind einige Tage vergangen und ich hänge im eingeschneiten Zermatt fest. Wir kommen einfach nicht weiter, am Telefon werde ich nur abgewimmelt. Der einzige Beteiligte, den ich bisher noch nicht kontaktiert habe, ist ein Mitarbeiter des Boutiquehotels The Omnia . Mein Kameramann und ich entscheiden uns, vorher nicht höflichkeitshalber anzurufen, sondern direkt hinzugehen.

The Omnia liegt auf einer kleinen Anhöhe in Zermatt und gilt als eine der exquisitesten Adressen im Ort. Die Gäste des Hauses können allerlei Annehmlichkeiten genießen, viele Zimmer haben einen wunderschönen Blick auf das Matterhorn. Ein Zimmer in der Hochsaison kann schnell mehrere Tausend Schweizer Franken kosten. 212 Man erreicht das Hotel entweder über einen kleinen gewundenen Weg, der sich zwischen den alten Scheunen im historischen Dorfkern von Zermatt hochwindet, oder über einen Lift, der vom Zentrum Zermatts auf die Anhöhe hinauffährt. Da wir keine Hotelgäste sind und ich auch nicht »mit der Tür ins Haus fallen« möchte, indem ich mit dem Lift hochfahre und plötzlich samt Kameramann in der Lobby stehe, entscheiden wir uns, uns dem Hotel zu Fuß über den kleinen Weg zu nähern.

Als wir oben ankommen, sehe ich einen Hotelmitarbeiter in der Nähe des Eingangs eine Zigarette rauchen. Ich bitte meinen Kollegen, einige Meter entfernt mit der Kamera zu warten. Ich möchte erst mal allein vorgehen, um den Mann nicht sofort zu verschrecken. Wie es der Zufall so will, steht vor mir ein ranghoher Mitarbeiter des Hotels. Er ist dem Protokoll zufolge genau die Person, die ich suche. Das Gespräch mit ihm dauert vielleicht zwei Minuten, denn nachdem ich mich vorgestellt habe und ihm erklärt habe, dass ich mit ihm über die beiden »dubiosen« Gäste von damals sprechen möchte, flüchtet er mehr oder weniger ins Haus und erteilt uns im Vorbeigehen vorsorglich auch noch ein Hausverbot.

Mit so viel Ablehnung auf einmal habe ich wirklich nicht gerechnet. In Zermatt, so scheint es, bleiben die Türen verschlossen. Keiner ist zu einem Gespräch bereit. Ich bin nicht nur ziemlich frustriert, sondern auch echt ratlos. Wie soll ich hier eine Fernsehreportage drehen? Und zu allem Übel sind wir auch immer noch von der Außenwelt abgeschnitten. Der nasse Schneefall der vergangenen Tage hat die Lawinengefahr noch mehr erhöht. Das Wetter ist so schlecht, dass wir das weltberühmte Matterhorn auch an unserem zweiten Tag in Zermatt bisher kein einziges Mal gesehen haben. Eine Abreise ist zu diesem Zeitpunkt nur noch mit dem Helikopter möglich und sehr teuer.

Mein Kameramann und ich bleiben daher erst mal im Hotel und ich überlege, wie diese Recherche nun weitergehen soll.

Der Brief der Alpinisten: Absenderadresse gefälscht

Während unseres Treffens in Sankt Moritz hat mir Christian Haubs Vertrauter von zwei Briefen erzählt, die von angeblichen Alpinisten aus der Schweiz im Oktober 2020 an die Vorsitzenden Richter des Amtsgerichts Köln geschickt worden waren. In den beiden identischen Schreiben äußern die Verfasser unter der Überschrift »Karl-Erivan Haub: unserer Ansicht nach lebt er! Bisherige Ergebnisse aus alpinistischer Sicht nicht nachvollziehbar« ihre Überzeugung, dass Karl-Erivan Haub noch am Leben sein müsse. Die Verfasser, so der Vertraute weiter, hätten Detailwissen über den Tag des Verschwindens und schienen Karl-Erivan Haubs Liebe zu Zermatt und den Alpen sehr gut zu kennen.

Doch wer steckt hinter diesen Briefen? Sind es Freunde oder Wegbegleiter? Warum teilen die Verfasser dem Amtsgericht ihre Bedenken überhaupt mit? Wollen sie so einer möglichen Todeserklärung entgegenwirken? Davon profitieren würde der Kölner Stamm der Familie, da in diesem Fall keine Erbschaftssteuer fällig werden würde. Laut Christian Haubs Vertrautem müsse es sich daher um den Versuch handeln, eine falsche Fährte zu legen, um vor Gericht für Zweifel zu sorgen. Doch das Ganze sei gut und professionell geplant worden: Beide Adressen seien falsch angegeben. Die Absender gebe es laut den internen Tengelmann-Ermittlern nicht.

Ich sitze in meinem Hotelzimmer in Zermatt und grüble vor mich hin. Vor dem Fenster fallen die dicken Flocken schwer zu Boden. Alle Aussagen von Christian Haubs Vertrautem stützen sich auf das angebliche Wissen des Ermittler-Duos. Wenn die beiden unseriöse Scharlatane sind, würde diese unglaubliche Geschichte wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Ich muss die beiden Männer einfach persönlich kennenlernen. Ich möchte unbedingt wissen, wer die beiden überhaupt sind.

Inzwischen ist Donnerstag, der 28. Januar. Wenige Tage zuvor ist mein Gesprächspartner mit mir Zeile für Zeile das streng vertrauliche, interne Protokoll durchgegangen, hat geduldig meine vielen Fragen beantwortet und mich mit seiner Zuversicht beeindruckt, den finalen Beweis bald zu erhalten. Meiner Bitte, mir das streng vertrauliche Dokument zukommen zu lassen, ist er inzwischen nachgekommen. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich ohne einen vorherigen Faktencheck keine Veröffentlichung planen kann. Da mir das Protokoll nun physisch vorliegt, kann ich die Namen der internen Ermittler schwarz auf weiß nachlesen. Beide sind relativ schnell über eine Google-Suche zu finden. Und was mich ganz hoffnungsvoll stimmt: Die Webseiten sind professionell, es gibt ein Impressum und eine Telefonnummer, die man anrufen kann. Zumindest auf den ersten Blick scheint es nicht so, als wollten die Männer ihre Identität verschleiern.

Um 14:30 Uhr schreibe ich eine E-Mail 213 an den Krisenmanager, der im Protokoll zuerst auftaucht:

»Sehr geehrter Krisenmanager,

Christian Haubs enger Berater war so freundlich, mir Ihre Kontaktdaten zu nennen.

Mein Name ist Liv von Boetticher, ich bin Investigativjournalistin bei der Mediengruppe RTL.

Ich recherchiere rund um das Verschwinden von KEH und möchte Sie sehr gerne um ein Hintergrundgespräch bitten. Selbstverständlich streng vertraulich.

Mir geht es in einem ersten Schritt darum, Fakten zu checken und Spuren zu verfolgen / zu verwerfen.

(…)

Ich freue mich sehr auf Ihre Rückmeldung!

Viele Grüße,

Liv von Boetticher«

Ich drücke auf senden und warte. Christian Haubs Vertrauter hatte mir ja zugesichert, dass die Männer mit mir sprechen würden. Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl. Rein objektiv betrachtet, sehe ich keinen Grund, warum es im Interesse der Männer sein sollte, mir ihre Quellen mitzuteilen. Sollten sie unseriöse Typen sein, würde das ja ihr »Geschäftsmodell« gefährden. Und wenn all die Behauptungen Hand und Fuß haben, dann bergen diese internen Ermittlungen eine unglaubliche Sprengkraft und gefährden die Reputation der gesamten Familie Haub und des Milliardenkonzerns Tengelmann.

Um 16.28 Uhr klingelt mein Handy. Es ist eine WhatsApp-Nachricht von Christian Haubs Berater: 214

Berater: »Es gibt leider Schwierigkeiten mit dem Krisenmanager. Ich arbeite dran.«

LvB: »Er möchte nicht mit mir sprechen?«

Berater: »Es ist wie immer kompliziert. Er hat riesige Sicherheitsbedenken, wenn doppelt recherchiert wird. Ich sehe es genau umgekehrt. Doppelrecherchen sind doch viel gefährlicher. Können wir gerade telefonieren? Wie geht es denn in Zermatt voran?«

Ich bin über die Nachricht des Beraters enttäuscht, aber das Ganze wundert mich auch nicht. Ich hatte so etwas in der Art befürchtet. Ehrlich gesagt bin ich mir auch nicht sicher, ob mir Christian Haubs Vertrauter, unser Informant, selbst überhaupt die Wahrheit sagt.

Ich setze mich auf das große Bett in meinem Zermatter Hotelzimmer und rufe ihn an. Er erzählt mir, dass sich der Krisenmanager stark dagegen ausgesprochen habe, Informationen zum Stand der Ermittlungen mit der Presse zu teilen. Aus seiner Sicht würde es angeblich die Personen, die aktuell noch in Russland ermitteln, in große Gefahr bringen. Ich halte das alles für unglaubwürdig. Meiner Meinung nach will uns der Mann davon abhalten, seine Ergebnisse unabhängig zu überprüfen, da sonst ein lukratives »Geschäft« auffliegt. Ich glaube ihm kein Wort und teile das Christian Haubs Vertrautem auch genau so mit. In einer Familie, die über solch ein Vermögen verfügt, gibt es bestimmt überall Nutznießer, die diesen Reichtum ausnutzen wollen.

Inzwischen bin ich ziemlich unruhig. Ich möchte schnellstmöglich alle Behauptungen überprüfen. Am Abend bitte ich daher Haubs Vertrauten nochmal per WhatsApp, mir die Briefe der Alpinisten zukommen zu lassen. Ich möchte die Adressen überprüfen und die Absender suchen. Es wäre der erste Hinweis für mich, ob ich den Ermittlungsergebnissen der beiden internen Ermittler auch nur im Entferntesten Glauben schenken kann.

Inzwischen sind in der Gegend rund um Zermatt mehrere Lawinen abgegangen 215 und es verkehren immer noch keine Züge zwischen Täsch und Zermatt. Mein Kameramann und ich sind also nach wie vor in Zermatt gefangen. Vor meinem Hotelfenster schneit und schneit und schneit es weiter. Ich fühle mich eingesperrt. Doch am Abend des 29. Januar kommt Bewegung in die Sache: Ich bekomme eine E-Mail von einem Mitarbeiter von Christian Haubs Vertrautem. 216 Im Anhang: die beiden Briefe der angeblichen Alpinisten . Der Inhalt des Schreibens ist bei beiden Briefen identisch. Lediglich die Absenderadressen auf dem Briefumschlag sind verschieden.

Gebannt lese ich das Schreiben durch: Der oder die Verfasser scheint sich mit der Causa Haub gut auszukennen. Vor allem aber scheint der- oder diejenige sehr genaue Ortskenntnisse der Zermatter Alpen zu haben. Auch scheint sich die Person gut mit dem Skisport auszukennen und weist darauf hin, dass Bergsportler doch eher zu warm als zu kalt angezogen seien. Doch echtes Insiderwissen haben der oder die Verfasser nicht: Der Inhalt der Briefe geht nicht über das hinaus, was zu diesem Zeitpunkt nicht sowieso schon in der Presse veröffentlich worden war.

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Auszug aus dem Brief der Alpinisten

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Beide Briefe sind nicht unterschrieben. Doch als Absender werden auf der jeweiligen Rückseite ein gewisser Franz Schmidt aus dem Borrweg 55 in Zürich und ein gewisser Dr. Peter Müller aus dem Höfliweg 12 , ebenfalls aus Zürich, angegeben.

Ich bin wie elektrisiert: Sofort suche ich die Adressen auf Google. Sowohl den Borrweg als auch den Höfliweg gibt es in Zürich. Mit diesen genauen Angaben sollte es also nicht schwer sein, die Adressen zu finden und die Absender aufzusuchen.

Am 30. Januar wird die Bahnstrecke endlich wieder freigegeben. 217 Mein Kameramann und ich machen uns sofort auf den Weg nach Zürich. Das Wetter ist inzwischen deutlich wärmer, es regnet jetzt nur noch in Strömen. Für die Fahrt brauchen wir etwa fünf Stunden. Als Erstes steuern wir den Borrweg an.

Die Nachbarschaft besteht aus recht bescheidenen 1950er-Jahre-Bauten und größeren Wohnblocks. Es ist eine eher einfache Gegend. Haben hier die Menschen das nötige Kleingeld, um als Alpinisten viel Zeit in den Bergen zu verbringen? Ich schaue mir die Menschen auf der Straße an und mir kommen Zweifel. Allein ein Ein-Tages-Skipass kostet in Zermatt mehr als 80 Franken, 218 hinzu kommen Übernachtung und Verpflegung vor Ort. Viel Geld für die Menschen in dieser Gegend. Ich laufe die Straße im Regen auf und ab. Es scheint wie verhext zu sein: Es gibt im Borrweg alle Hausnummern – nur eben nicht die Nummer 55. Sie wird bei Google zwar angezeigt, aber da, wo sie sein sollte, ist sie nicht: Da ist einfach nur eine Lücke. Ich laufe auf und ab, klingle an Türen und frage die Nachbarn. Das Haus existiert einfach nicht und einen Franz Schmidt kennt hier auch niemand.

Mein Kameramann und ich fahren weiter in den Höfliweg . Als wir in die Straße einbiegen und vor der Hausnummer 12 stehen, beschleicht mich das Gefühl, dass auch hier die Suche erfolglos bleiben wird. Vor uns ragen riesige Wohnblocks mit Sozialwohnungen auf. Einen Dr. Peter Müller suche ich zwischen den bosnischen, serbischen, kroatischen und marokkanischen Namen vergeblich auf den Klingelschildern.

Christian Haubs Vertrauter hat also recht gehabt: Die Absenderadressen sind gefälscht.

Ermittlungsergebnis zu den Briefen der Alpinisten

Einen Tag später, am 31. Januar, erhalte ich endlich den internen Ermittlungsbericht 219 zu den Briefen der Alpinisten . Er ist auf den 28. Dezember 2020 datiert und damit einen knappen Monat alt. Der Bericht ist als geheim und streng vertraulich eingestuft. Inhaltlich stimmt er zu 100 Prozent mit meiner Vor-Ort-Recherche überein.

Der Bericht fasst kurz und knapp das zusammen, wovon ich mich mit meinen eigenen Augen überzeugen konnte: Die beiden Adressen der angeblichen Alpinisten gibt es nicht.

Unser erster Kontakt zu den internen Ermittlern

Inzwischen sind drei Tage vergangen und nach wie vor habe ich vom Krisenmanager keine Antwort auf meine Anfrage vom 28. Januar erhalten. Nachdem die internen Rechercheergebnisse bei den Briefen der Alpinisten deckungsgleich mit meinen eigenen sind, möchte ich umso dringender mit den Männern sprechen. Durch ihre gute Recherche bei den Alpinisten haben sie bei mir inzwischen einen kleinen Vertrauensvorschuss.

Christian Haubs Vertrauter hat sich inzwischen dafür eingesetzt, dass die Männer mit mir sprechen sollen. Ich weiß das, weil der Mann mich, aus welchem Grund auch immer, in einer ganzen Reihe von E-Mails, sowohl an das Ermittler-Duo als auch an Christian Haub, in Blindkopie nimmt oder mir die interne Kommunikation weiterleitet.

Einerseits bin ich entsetzt, weil das aus meiner Sicht ein ziemlicher Vertrauensbruch zwischen dem Berater und Christian Haub ist, andererseits bin ich begeistert, da mir der Schriftverkehr Einblicke in die Machtstrukturen der Firma Tengelmann gibt. Ohne dass es die Beteiligten wissen, kann ich Teile der internen Kommunikation mitlesen. 220

Offenbar, so kann ich lesen, hat Christian Haubs Vertrauter dem Krisenmanager tatsächlich eine Freigabe für ein Gespräch mit mir gegeben und zu meiner Überraschung sieht er sogar mögliche »Vorteile« bei der Einbindung der Presse. Jedoch sei eine Einbindung aus seiner Sicht auch mit »erheblichen Risiken« verbunden, welche »erarbeitet und kontrolliert« werden sollten. Der Krisenmanager schlägt Christian Haubs Vertrautem daher vor, dass er einem Gespräch mit mir nur zustimmen könne, wenn zuvor eine »gemeinsame, detaillierte Abstimmung« zwischen ihm, dem Sicherheitschef von Tengelmann, Christian Haub und seinem engen Vertrauten stattgefunden habe.

Christian Haubs Vertrauter hat mir jedoch nicht nur die E-Mail des Krisenmanagers weitergeleitet, sondern den ganzen Mail-Verkehr zwischen ihm, dem Krisenmanager und Christian Haub. Die Zeilen sind für mich hochinteressant, denn ich kann daraus ablesen, dass Christian Haub zuvor seine Zustimmung für eine Einbindung der Presse gegeben hat. Und nicht nur das: Neben der Freigabe, mit RTL zu sprechen, taucht im Betreff der ursprünglichen Nachricht an Christian Haub auch auf, dass sein enger Berater offenbar auch plant, mit den Kollegen anderer Medien zu sprechen. Auf diese Weise weiß ich, dass wir nicht die einzigen Journalisten sind, die mein Gesprächspartner mit Informationen versorgt.

Während ich noch darauf warte, endlich mit den beiden internen Ermittlern persönlich sprechen zu können, unterziehe ich die beiden einem ersten Hintergrundcheck. Zu meiner Erleichterung handelt es sich nicht um halbseidene Gestalten vom Typ »Türsteher«. In ihre Ermittlerrolle sind sie nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub eher hineingerutscht.