Kapitel 3

Die Informationen der Tengelmann-Ermittler

I nzwischen ist Montag, der 1. Februar. Seit meiner offiziellen Anfrage für ein Hintergrundgespräch mit dem Krisenmanager, der Tengelmann offenbar seit Jahren berät, sind einige Tage vergangen. Doch bisher habe ich nichts von dem Mann gehört. Seine Firma befindet sich im süddeutschen Raum, und da auch ich ursprünglich aus dieser Gegend komme, beschließe ich, einige Tage in meiner Heimat zu verbringen. Über beide Männer findet man einige Informationen im Internet, sodass ich einen vagen Eindruck gewinne, wer sie sind.

Über die Firma des Krisenmanagers gibt es einige Presseartikel, alles wirkt sehr transparent. In seinem Lebenslauf erfahre ich, dass er bei den Kampfschwimmern der Bundeswehr ausgebildet wurde und später in das Kommando Spezialkräfte (KSK) gewechselt ist. Laut verschiedenen Presseartikeln war er mit der Eliteeinheit auch mehrfach in Afghanistan im Einsatz, bevor er sich dann in der Privatwirtschaft selbstständig gemacht hat. Während sein Unternehmen zunächst vor allem in Afghanistan und anderen Krisenregionen operierte, kam es später offenbar zu einer inhaltlichen und operativen Neuausrichtung. Inzwischen bietet die Firma eine Software-Lösung auf der Basis von Künstlicher Intelligenz und Dienstleistungen im Bereich Risikomanagement an – und in diesem Zusammenhang ist sie als Subunternehmen für die Tengelmann-Unternehmenssicherheit tätig. Auch Christian Haubs enger Vertrauter hat mir erzählt, der Mann sei ein Krisenmanager und unterstütze Tengelmann bei der Suche nach Karl-Erivan Haub. Im folgenden Text taucht diese Person daher als »Tengelmann-Berater«, »Berater« oder »Krisenmanager« auf.

Erstes persönliches Gespräch mit den internen Tengelmann-Ermittlern

Die vielen öffentlich zugänglichen Informationen empfinde ich – zumindest auf den ersten Blick – als ein gutes Zeichen. Offensichtlich scheut der Mann die Öffentlichkeit nicht und steht mit seinem Gesicht und seinem Namen zu dem, was er tut.

Informationen über den Sicherheitschef von Tengelmann, der die internen Ermittlungen leitet, sind weniger gut zugänglich. Von Christian Haubs engem Vertrauten weiß ich aber, dass auch er einen Hintergrund bei der Bundeswehr hat und nun seit vielen Jahren die Unternehmenssicherheit der Firma Tengelmann leitet. Auch er ist Inhaber einer Firma mit einem ordentlichen Impressum und einer Telefonnummer, bei der auch jemand abnimmt.

Während ich mir gerade Gedanken darüber mache, wie es jetzt wohl weitergehen wird, klingelt mein Handy. Es ist der Krisenmanager. Endlich.

Vermutlich falle ich dann ein wenig zu sehr mit der Tür ins Haus, denn nachdem sich der Mann vorgestellt hat, frage ich sofort, wann wir uns denn nun endlich treffen können. Zumindest kommentiert er diesen schnellen Übergang mit den Worten, ich käme ja schon »ohne Umwege direkt zur Sache«. Der Mann hat einen leichten süddeutschen Akzent und klingt ein wenig irritiert. Er erklärt mir, er habe mit Christian Haubs Vertrautem gesprochen und wir könnten uns zu einem persönlichen Gespräch treffen. Noch am selben Tag gegen 19 Uhr in seiner Firma. Die Unterhaltung ist ziemlich knapp und ich spüre, dass es mit ihm nicht einfach wird. Den ganzen Tag über bin ich wahnsinnig aufgeregt.

Dennoch: Das kurze persönliche Gespräch in Kombination mit den verifizierten Erkenntnissen über die Briefe der Alpinisten sowie die Hintergrundinformationen über die Männer an sich lässt mein anfängliches Misstrauen deutlich abflachen.

Ich habe sogar ein ganz gutes Gefühl.

Am Abend fahre mit dem alten VW Beetle meiner Großmutter in das Industriegebiet einer deutsch-schweizerischen Grenzstadt. Rückblickend frage ich mich, wie sich diese Situation wohl für den Krisenmanager angefühlt haben mag. Ich kenne ja die E-Mails an ihn und weiß, dass er mehr oder weniger dazu gezwungen wurde, mit mir zu sprechen.

Pünktlich um 19 Uhr rolle ich mit dem Auto auf den Hof der Firma. Wenig später geht die Tür auf und der Tengelmann-Berater tritt nach draußen. Vor mir steht ein großer, sehr sportlicher Mann Mitte 40. Ich schätze ihn auf mindestens 1,90 Meter, eher größer. Obwohl es ein kalter Februarabend ist, trägt er nur Jeans und ein T-Shirt. In seiner Hand hält er eine braune Ledermappe. Bisher hatte ich in meinem Leben noch überhaupt keine Berührungspunkte mit Kampfverbänden, aber die militärische Vergangenheit des Mannes spüre ich deutlich. Sein Auftreten ist freundlich, aber auch sehr reserviert. Ich habe das Gefühl, dass er mich abschätzend beobachtet und versucht herauszufinden, wen er da vor sich hat. Er will mit der Presse eigentlich nichts zu tun haben, und ich kann das im Prinzip auch verstehen. Als Journalistin ist es sehr häufig so, dass man nicht sehr beliebt bei den Menschen ist, vor deren Tür man steht. Das liegt in der Natur des Berufs.

Wir gehen in einen Konferenzraum in einem der oberen Stockwerke seiner Firma und nehmen über Eck Platz. Der Raum ist sehr neutral, Deko gibt es so gut wie keine. In einem Regal stehen ein kleines Schälchen mit Schokokugeln von Lindt, eine Karaffe mit Wasser und ein paar Gläser. An den Wänden hängt eine Karte der weltweiten Krisenregionen. Das Licht ist ziemlich kühl – ich fühle mich wie in einer Filmszene mit einem Verhörraum.

Über die Jahre habe ich gelernt, meine Gesprächspartner zu »lesen«. Das, was Menschen sagen, ist oft nicht das, was sie wirklich meinen. Ich erkenne die Lügen von Politikern oder die Hinhaltetaktik von Pressesprechern. Oftmals verrät ein einziger Wimpernschlag, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Doch die Körpersprache dieses Mannes erscheint mir wie eine undurchdringliche Mauer. Ich habe keine Ahnung, was er über die Situation und über mich denkt. Er ist für mich überhaupt nicht lesbar. Ich fühle mich nicht besonders wohl.

Die Atmosphäre des Gesprächs ist zwar freundlich und professionell, aber auch sehr distanziert. Später habe ich mich oft gefragt, woran es lag, dass ich mich so unwohl gefühlt habe. Ich glaube, es lag an der Diskrepanz zwischen seiner freundlichen Art und seinem völlig verschlossenen, beobachtenden Wesen.

Mein Gegenüber hat in den beiden härtesten Einheiten der Bundeswehr gedient; schon an der Ausbildung scheitern ja die meisten. Er weiß ziemlich genau, wie man ein Verhör führt – und wie bei einem Verhör komme ich mir auch vor. Nur eben in einer freundlichen Umgebung.

Zunächst fragt mich der Mann, in was für eine Geschichte ich meiner Meinung nach hineingeraten bin. Er möchte herausfinden, ob mir die Dimension – und damit verbunden auch die Gefahr – unserer Recherche bewusst ist. Und er fragt mich, was mein Ziel ist. Ich antworte ihm, dass ich alle Spuren verfolgen möchte, bis ich weiß, was mit Karl-Erivan Haub geschehen ist, dass ich den Fall restlos aufklären möchte. Bei dieser Antwort lächelt der Krisenmanager, sagt aber nichts weiter dazu. Überhaupt achtet der ehemalige Soldat penibel darauf, nichts preiszugeben, was nicht sowieso schon über diverse Artikel den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat. Für mich ist das auf der einen Seite frustrierend, andererseits kann ich ihn auch verstehen. Wochen später, nachdem mein Team und ich tiefere Einblicke in die gesamte Familienstruktur und die unglaubliche Skrupellosigkeit der Akteure gewonnen haben, verstehe ich erst wirklich, in welche Gefahr die beiden Männer durch die plötzliche Öffentlichkeit gebracht wurden und dass sie offenbar als Bauernopfer im Familienstreit dienen sollten. Aber dazu später mehr.

Während ich dem Krisenmanager in dem Konferenzraum gegenübersitze, erklärt mir der Mann seine Bedenken für eine Zusammenarbeit mit der Presse. Er äußert konkret zwei Gründe:

Er und der Sicherheitschef von Tengelmann befürchten, zwischen die Räder des Erbschaftsstreits zwischen Christian und Katrin Haub zu geraten. Immerhin wird um Milliarden gekämpft, und die Wahl der Waffen ist schmutzig. Der Tengelmann-Berater weiß genau: Das Blatt kann sich sehr schnell gegen ihn und seinen Partner wenden, je nachdem für welches Familienmitglied es wie opportun ist. Die beiden Männer wollen sich vor möglichen Schadensersatzansprüchen schützen. Sie befürchten, Katrin Haub könne sie verklagen, sobald wir die Geschichte um das angebliche Doppelleben ihres Mannes veröffentlichen.

Überraschenderweise stellt sich sogar während des Gesprächs heraus, dass der Krisenmanager prinzipiell nichts dagegen hätte, meinen Kollegen und mir Einblicke in ihre Arbeit zu gewähren. Vielleicht habe die Presse wirklich eine andere Möglichkeit, Zugänge zu bestimmten Sachverhalten zu erhalten. Zum Beispiel, indem wir Presseanfragen an bestimmte Personen stellen. Doch die Voraussetzung für das Teilen von Informationen sei, dass er und der Tengelmann-Sicherheitschef von jeglicher Verantwortung und etwaigen Schadensersatzansprüchen seitens des Unternehmens oder der Familie freigesprochen würden. Sie brauchen grünes Licht von ganz oben – und zwar schriftlich.

Der ehemalige Soldat hat zudem ernsthafte Sicherheitsbedenken, da mein Team und ich bisher keinerlei Erfahrungen mit Recherchen im Umfeld der Russenmafia oder russischen Geheimdiensten haben. Er befürchtet, dass wir unbedacht und »laut« auftreten und damit ohne Absicht Menschen in Gefahr bringen. Er erklärt mir, der Sicherheitschef hätte auch aktuell Ermittlungen in Russland beauftragt und die Personen vor Ort seien einer großen Gefahr ausgesetzt. Er ist dabei sehr ernst und ich spüre, dass es da noch etwas gibt, was er mir in diesem Moment nicht sagen möchte oder kann. Offenbar haben die Ermittlungen bereits negative Konsequenzen gehabt. Irgendetwas ist vorgefallen – doch er wird es mir heute nicht sagen.

Ich komme kaum dazu, viele Fragen zu stellen, denn er hat mindestens genauso viele Fragen an mich. Er möchte genau wissen, wie das Verifizierungsteam von RTL arbeitet. Welche Tools wir verwenden und welche Zugänge wir vor Ort in Russland haben. Er scheint ganz zufrieden zu sein, als ich ihm von meinem Kollegen Sergej erzähle, von dem ich sehr viel halte und der auch Russisch spricht. Mir ist bewusst, dass der Krisenmanager alles, worüber wir sprechen, mit dem Sicherheitschef teilen wird. Und dass die beiden Männer ein Urteil über unsere journalistischen Fähigkeiten und Recherchemethoden fällen werden. Würden sie glauben, dass wir auf Grundlage ihrer bisherigen Ermittlungsarbeit weiter aufbauen können? Und würden sie uns, wie es Christian Haubs Berater fordert, ihre Quellen vollumfänglich offenlegen? Ich fühle mich in dem rund zweistündigen Gespräch wie bei einer Prüfung, die ich unbedingt bestehen will.

Gegen 21 Uhr endet das Gespräch. Beim Verlassen der Firma bin ich etwas enttäuscht, denn ich habe nichts Neues erfahren. Der Mann hat klug darauf geachtet, sich nicht zu verplappern. All meine Versuche, durch geschickte Nachfragen doch noch mehr aus ihm herauszubekommen, sind gescheitert. Mehr ist an diesem Tag nicht zu holen.

Doch zu der Enttäuschung mischt sich auch ein wenig Zuversicht: Der erste persönliche Kontakt zum internen Tengelmann-Ermittler-Team hat geklappt und ist, aus meiner Sicht, auch ganz gut gelaufen. Zwar ist es noch viel zu früh, von einer Vertrauensbasis zu sprechen, aber der Krisenmanager hat mir seine prinzipielle Bereitschaft signalisiert, unter bestimmten Voraussetzungen weiter mit uns zu arbeiten. Er will auch zeitnah mit Christian Haubs Vertrautem die rechtlichen Details klären. Wir verbleiben so, dass er sich wieder bei mir meldet, wenn er eine umfassende Vollmacht hat, die ihn und seinen Partner von jeglicher Verantwortung freispricht.

»Ein Nein ist ein längerer Weg zu einem Ja«

Zwei Tage später klingelt ziemlich früh morgens mein Telefon. Ich bin noch schlaftrunken und erkenne nicht direkt, wer am Apparat ist. Es ist der Krisenmanager, der mir kurz und knapp mitteilt, dass es keine Zusammenarbeit geben könne, da der wichtige Berater von Christian Haub ihm keine Vollmacht erteile. Für ihn und seine Firma sei daher das Risiko zu groß. Er macht eine Pause. Dann sagte er, dass auch mein Team und ich vorsichtig sein und uns gut überlegen sollten, welche Rolle uns Journalisten in dieser ganzen Geschichte zugedacht sei. Ohne einen triftigen Grund würde kein klar denkender Mensch auf die Idee kommen, derart belastendes Material über Christian Haub an die Presse weiterzuleiten. Schon gar nicht während eines Erbschaftsstreits, in dem es um Milliarden geht. Zum Schluss bittet er mich eindringlich, mit unserer weiteren Recherche »extrem vorsichtig« zu sein. Er beschwört mich regelrecht, uns jeden weiteren Schritt sehr gut im Vorfeld zu überlegen. Die Leute, mit denen wir uns »anlegten«, seien »brandgefährlich«. Aus seiner Sicht begeben wir uns in eine echte Gefahr. Mit diesen deutlichen Worten endet das Gespräch und ich spüre, dass es sinnlos ist, ihn noch einmal zu kontaktieren. Er hat seinen Standpunkt klar und deutlich kommuniziert.

Eine Sache verstehe ich jedoch einfach nicht: Christian Haubs Vertrauter hat mir mehrfach, auch schriftlich, zugesichert, dass er möchte, dass die beiden Ermittler uns ihre Ergebnisse und vor allem auch die dazugehörigen Quellen offenlegen. Warum erteilt er den beiden Männern dann nicht die erforderliche Freigabe? Die Freistellung von etwaigen Schadenersatzansprüchen, die der Krisenmanager für sich und den Leiter der internen Ermittlungen fordert, wäre doch eigentlich eine reine Formsache?

Unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Krisenmanager rufe ich daher meinen Kontakt an und erzähle ihm von der Absage. Christian Haubs Berater wird richtig zornig. Ich habe das Gefühl, dass er sich von dem Subunternehmer von Tengelmann in seiner Autorität gekränkt fühlt. Er erklärt mir, dass seine mündliche Anweisung gegenüber dem Krisenmanager genüge: Der Mann hätte mir aus seiner Sicht schon bei unserem ersten Treffen einige Tage zuvor quasi alle Informationen offenlegen sollen.

Mein Gesprächspartner ist jetzt voller Tatendrang und verspricht mir, sich um die beiden internen Ermittler »zu kümmern« und mir den versprochenen Zugang zu den Informationen zu beschaffen. Und tatsächlich, er hält sein Wort. Am späten Abend erhalte ich eine E-Mail 221 von ihm. Es ist eine an mich weitergeleitete Nachricht, die ursprünglichen Empfänger sind der Krisenmanager sowie Christian Haub. Das zweite Mal innerhalb weniger Tage legt mir Haubs Vertrauter die interne Kommunikation offen.

Der Tonfall der E-Mail ist harsch, mein Kontakt wirft dem Krisenmanager vor, trotz einer »ausdrücklichen mündlichen Freigabe und der schriftlichen Erklärung von Herrn Haub« mir kaum Informationen übermittelt zu haben. Der Termin mit mir, einer Investigativjournalistin, sei daher aus seiner Sicht »mit Ausnahme des Kennenlernens letztlich nutzlos« gewesen. Christian Haubs Vertrauter schließt die Nachricht mit einer deutlichen Ansage ab: »Wer will findet Wege, wer nicht will findet Gründe.« Er habe daher das Gefühl, dass es dem Tengelmann-Sicherheitschef und dem Krisenmanager vor allem darum gehe, »Gründe zu finden«, um dem erklärten Ziel von Christian Haub und seinem Vertrauten, mit der Presse zusammen zu arbeiten, nicht zu entsprechen. Er wünscht den beiden Männern dabei »viel Erfolg«. Ich empfinde die Nachricht als eine unverhohlene Drohung an den Krisenmanager und den Leiter der internen Ermittlungen.

Im Verlauf dieser weitergeleiteten E-Mail findet sich das Schreiben des Krisenmanagers 222 , das bei meinem Kontakt offenbar nicht auf Zustimmung gestoßen war. Es ist eine Zusammenfassung unseres Kennenlerngesprächs einige Tage zuvor. Zwar könne eine Zusammenarbeit mit der Presse aus seiner Sicht »viele Vorteile« im Erbschaftsstreit haben, doch sein Eindruck sei, »dass der aktuelle Wissenstand von Frau von Boetticher sehr rudimentär ist und weit entfernt von einer tatsächlichen Auflösung des Falls«. Aus seiner Sicht müsste daher zunächst »eine solide Informationsgrundlage« gelegt werden. Er schlägt daher vor, dass mein Team und ich an einem »Workshop (1–2 Tage)« gemeinsam mit ihm und dem Sicherheitschef von Tengelmann teilnehmen. Im Anschluss sollte man »die unterschiedlichen Ermittlungsansätze abstimmen und vorhandene Informationen gegenseitig austauschen«. Dann werde ich hellhörig: Den größten Vorteil sieht der Krisenmanager aber darin, dass »dieser Kommunikationskanal gut kontrolliert werden« könne und »die Gesamtstory im Wesentlichen die Interessenlage von Herrn Haub wiedergeben« wird.

So wie ich es geahnt habe, traut der Tengelmann-Berater meinen Kollegen und mir relativ wenig an Recherchefähigkeiten zu. Ich fühle mich ein wenig in meiner journalistischen Ehre gekränkt, gleichzeitig denke ich mir, dass es auch von Vorteil sein kann, wenn man unterschätzt wird. Mein Team und ich werden die beiden Ermittler schon noch überzeugen können. Hochinteressant ist natürlich, dass es Christian Haubs Vertrautem allem Anschein nach vor allem darum geht, »den Kommunikationskanal zu kontrollieren« – zumindest ist es offenbar das, was der Krisenmanager dem gemeinsamen Gespräch zwischen ihm und dem engen Berater entnimmt.

Etwas in diese Richtung hatten meine Chefinnen und ich uns aber sowieso schon gedacht, es ist kein unübliches Katz-und-Maus-Spiel zwischen Interessensvertretern und Journalisten. Vermutlich will man uns Journalisten als eine Art »Werkzeug« benutzen. Aber damit können wir umgehen. Mit dem Wissen, dass man uns als »Kommunikationskanal kontrollieren« möchte, haben wir die Möglichkeit, uns entsprechend darauf vorzubereiten. Besonders fällt mir bei der weitergeleiteten Kommunikation jedoch auf, dass Christian Haubs Vertrauter den Informationsaustausch sehr fordernd und forsch vorantreibt und auch einfordert – sich selbst aber offenbar völlig aus der Verantwortung zu ziehen versucht.

Wir müssen bei diesem Menschen höllisch aufpassen, das ist klar. Und es liegt in unserer journalistischen Verantwortung, unsere möglichen Quellen, die beiden internen Ermittler, zu schützen. Ich überlege daher, welche Voraussetzungen ich schaffen kann, damit die beiden Männer mit uns ein offenes Gespräch führen können. Am nächsten Tag schreibe ich daher Christian Haubs Berater eine E-Mail: 223

»Lieber Berater,

(…) So wie ich den Krisenmanager am Montag verstanden hatte, fürchtet er, dass eine dritte Partei (konkret: Katrin Haub) ihn verklagen könnte, wenn wir mit der Veröffentlichung beginnen.

Aus seiner Sicht ist das natürlich sehr nachvollziehbar, bei dem Geld, das da im Spiel ist.

Nichtsdestotrotz: ein Nein ist nur ein längerer Weg zu einem Ja.

(…) könnten wir vertraglich zusichern, unsere Quelle (Krisenmanager/Leiter der internen Ermittlungen) absolut geheim zu halten, sodass Dritte nicht erfahren können, von wem wir die Infos haben?

Wir müssen da doch einen Weg finden. (…)

Viele Grüße,

Ihre Liv«

Zu diesem Zeitpunkt kann ich überhaupt nicht abschätzen, ob unser Informant und der Krisenmanager einen Weg finden werden, um sich zu einigen. Der ehemalige Soldat hat mir nicht den Eindruck gemacht, als ob er von seiner Meinung auch nur einen Millimeter abrücken würde. Während unseres Kennenlerngesprächs am Montag ist bei mir aber auch die Erkenntnis gereift, dass der Schlüssel für das Verschwinden von Karl-Erivan Haub in Haubs geschäftlichen Beziehungen nach Russland und seinen dortigen Geschäftspartnern liegen muss. Der Krisenmanager ist zwar nicht ins Detail gegangen, doch ich habe es zwischen den Zeilen so verstanden.

Und auch wenn es für Sergej und mich unglaublich viel Arbeit bedeutet: Ich bin davon überzeugt, diese Spur auch ohne die Hilfe der beiden internen Ermittler verfolgen zu können.

Am nächsten Tag, dem 5. Februar, bekomme ich wieder eine E-Mail von Haubs Vertrautem. Erneut leitet er mir eine E-Mail 224 zwischen ihm und dem aktuellen Tengelmann-Chef weiter.

Gleich zu Beginn fordert mein Kontakt Christan Haub dazu auf, »jetzt mal ein Machtwort« zu sprechen. Das »Ermittler-Duo« tanze ihnen »ja förmlich auf der Nase herum« und boykottiere »ganz offen« Haubs »Anweisung«, dass der Krisenmanager mit mir zusammenarbeiten solle und Haubs Vertrauter das Ganze »beaufsichtige«. Aus seiner Sicht sei die Weigerung zur Zusammenarbeit ein »Machwerk des Sicherheitschefs«, der nach einem »Vorwand« suche, »sich nicht unserem Wunsch zu beugen, mit Frau von Boetticher zusammen arbeiten zu müssen«. Eigentlich, so fährt er sehr emotional fort, müsse man »mit dem Entzug des Auftrags drohen«. »Nur diese Sprache« verstehe aus seiner Sicht der Sicherheitschef von Tengelmann.

Ich bin ziemlich verblüfft über den Tonfall der E-Mail. Sie wirkt für mich insgesamt bedrohlich. Inzwischen ist es mir richtig unangenehm, dass die beiden internen Ermittler meinetwegen so angegangen werden. Mir erscheint ihr Wunsch nach Absicherung mehr als gerechtfertigt. Die Tatsache, dass mein Kontakt mir die ganze Kommunikation weiterleitet, werte ich als Machtdemonstration und gehe auch gleichzeitig davon aus, dass er meine E-Mails an ihn weiterleitet. Der Mann scheint mir wie ein Pfau, der sich vor anderen besonders stark aufplustern möchte.

Gleichzeitig bin ich natürlich hochzufrieden, denn Haubs Vertrauter hält mir gegenüber Wort: Er zwingt die beiden Männer ja geradezu dazu, all ihre Ermittlungsergebnisse »vollumfänglich« mit mir und meinen Kollegen zu teilen.

Und tatsächlich, am Ende finden alle Beteiligten einen Weg, möglichen Schadensersatzklagen zu entkommen: Der Tengelmann-Sicherheitschef muss offiziell als Organisator des geplanten ganztägigen Treffens auftreten. Da er direkt für Tengelmann arbeitet, ist er in dieser Funktion ein offizieller Vertreter des Unternehmens. Etwaige Ansprüche müssten daher an das Unternehmen und nicht an ihn oder seinen Partner als Privatpersonen gestellt werden. Der Krisenmanager würde an dem Termin lediglich beratend teilnehmen. Ich bin höchst zufrieden über diese Lösung und freue mich riesig auf das geplante Treffen. Es soll knapp zehn Tage später, am 16. Februar, in der Nähe von Köln/Düsseldorf stattfinden.

Doch der hochrangige Berater »füttert« meine Kollegen und mich schon vorab mit einigen Informationen. Am 11. Februar erhalte ich einen Link mit weiteren Dokumenten.

Über seine Mitarbeiter lässt mir der Mann den streng vertraulichen Bericht der Unternehmensberatung Alvarez & Marsal zukommen. Das Schreiben ist direkt an Christian Haub gerichtet und auf den 7. August 2020 datiert. Es liegt daher dem aktuellen Firmenlenker Christian Haub offenbar schon seit einem knappen halben Jahr vor. Wie dem Dokument zu entnehmen ist, hatte Haub Alvarez & Marsal wohl engagiert, um mithilfe einer forensischen Datenanalyse eine Untersuchung des PLUS-Russland-Geschäfts von Tengelmann aus den Jahren 2010 bis 2015 vorzunehmen.

In dieser Zeit sind offenbar Gelder in erheblichem Umfang in Russland versickert. Ohne dass ich es in diesem Moment ahnen kann, wird dieser vierseitige Bericht eines der wichtigsten Dokumente der weiteren Recherche werden. Bei dem Bericht von Alvarez & Marsal handelt es sich nämlich um eine völlig autarke Datenquelle . Im Gegensatz zu den beiden internen Ermittlern greift die Unternehmensberatung nicht auf Geheimdienstinformationen zurück, sondern auf Unterlagen, die ihnen direkt vom Unternehmen Tengelmann zur Verfügung gestellt wurden. Damit unterscheidet sich diese Quelle auch grundlegend von unserer journalistischen Recherche, da Sergej im Verlauf der nächsten Wochen vor allem mit Datensätzen aus Datenleaks arbeiten wird. Und am Ende sind alle drei Recherchewege zum selben Ergebnis gekommen.

Der Bericht der Unternehmensberatung Alvarez & Marsal

Bereits einige Jahre vor dem mysteriösen Verschwinden von Karl-Erivan Haub in den Zermatter Alpen fällt innerhalb des Managements bei Tengelmann auf, dass es Unstimmigkeiten rund um das PLUS- Russland-Geschäft gibt: Warum gelingt es im gesamten Zeitraum zwischen 2010 und 2015 nicht, auch nur eine einzige Filiale der Supermarktkette PLUS zu eröffnen? Bei der Baumarktkette OBI hat es doch auch funktioniert? Alvarez & Marsal (A&M) ist eine international tätige Unternehmensberatung und spezialisiert auf forensische Datenanalysen, Krisenmanagement und auf Programme zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität. 225 Das Unternehmen hat ein sehr gutes Renommee und ist in der Branche geschätzt.

Zunächst beschreibt der A&M- Analyst, auf welcher Datengrundlage er seine Erkenntnisse gewonnen habe: Offenbar handelt es sich hauptsächlich um Dokumente aus Papier, aber auch um elektronische Unterlagen aus der Finanz- und Rechtsabteilung von Tengelmann. Des Weiteren fanden persönliche Gespräche mit verantwortlichen Personen und Hinweisgebern statt. Als Gegenstand der Untersuchung wird das gescheiterte PLUS-Russland-Geschäft von Tengelmann genannt. Sehr interessant ist, dass das Dokument zum ersten Mal verschriftlichte Hinweise auf dubiose Geschäftspartner und nicht erklärbare geschäftliche Vorgänge bietet: Entgegen jeder unternehmerischen Vernunft wählte das Tengelmann-Management offenbar Ilja Brodski, Sergej Grishin und einen gewissen Andrej Suzdaltsev als Geschäftspartner. Dies, so der Analyst, sei höchst »kontraintuitiv«. 226 Alle drei halten zu diesem Zeitpunkt nachweislich Anteile an der Rosevrobank , einer russischen Skandalbank, welche in direktem Zusammenhang mit Geldwäsche steht. Außerdem stellt der A&M -Sachbearbeiter fest, ein ehemaliger Tengelmann-Top-Manager habe diese Geschäftsbeziehung offenbar »hergestellt« 227 und in der Folge sei es zu keiner Überprüfung der »Integrität der späteren Joint-Venture-Partner gekommen«. 228 Es handelt sich dabei um den fast väterlichen Berater von Karl-Erivan Haub, über den mir Christian Haubs Vertrauter während des Besuchs in Sankt Moritz viel erzählt hat und der auch im Protokoll erwähnt wird. Außerdem findet der Analyst es »auffällig« 229 , dass ebenjener Top-Manager gegen Ende des geschäftlichen Russland-Engagements von Tengelmann sich offenbar für einen Rückzug aus dem Land ausspricht – es jedoch »zahlreiche Anzeichen« 230 dafür gebe, dass er selbst »weiterhin in Russland aktiv« 231 sei.

Ich lese den Bericht aufmerksam durch. Das Dokument ist höchst alarmierend: Offenbar bemerkt man auch intern bei Tengelmann rechtzeitig, dass vor Ort in Russland etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Eine interne Revision wird eingesetzt, mehrmalige Überprüfungen liefern Anzeichen für »erhebliche Mängel bei den Kontrollprozessen der russischen Gesellschaften«. 232 Man identifiziert unter anderem »Anzeichen von Bestechungszahlungen«. 233 Doch damit nicht genug: Wie der Analyst von Alvarez & Marsal fast ungläubig mitteilt, seien diese enormen Missstände auch direkt an Karl-Erivan Haub adressiert worden.

Doch »trotz Kenntnis der Verdachtsmomente« 234 seien damals keine Maßnahmen eingeleitet worden. Im Gegenteil: Die interne Revision bei Tengelmann sei sogar angewiesen worden, »keine weiteren Prüfungen durchzuführen«, 235 und es geht noch weiter: Karl-Erivan Haub habe gewusst, dass die Prüfer vor Ort »vom lokalen Management behindert« werden. 236 Auch die offiziellen Gründe für das geschäftliche Scheitern hält der A&M -Analyst für wenig glaubwürdig: »Wirtschaftssanktionen als Folge der Krimkrise« 237 seien schuld, dass die russischen Partner die vereinbarten Einlagen nicht erbringen können. Doch die Krim-Krise begann erst, als das PLUS-Russland-Geschäft 2014 bereits auf sein Ende zuging – und auffälliger noch: Mitten in der Krim-Krise entscheidet sich Karl-Erivan Haub, sein OBI-Geschäft in Russland sogar auszubauen und knapp die Hälfte der Anteile eines russischen Geschäftspartners zurück in deutsche Hand zu bringen. 238 239

Laut dem A&M- Analysten erscheine es »nicht plausibel, dass die Partner nicht über die Mittel zur Erfüllung der Einlagevereinbarung« 240 verfügen, zeitgleich jedoch »Tengelmann deren Anteil am Joint Venture abkaufen« 241 können. Auch ich empfinde das als eher unlogisch.

Beim Datenforensiker von Alvarez & Marsal müssen zu diesem Zeitpunkt bereits alle Alarmglocken läuten: Offensichtlich hat Tengelmann unter der Leitung von Karl-Erivan Haub und dem ehemaligen Top-Manager entgegen jeder unternehmerischen Vernunft agiert und Warnungen bewusst ausgeschlagen.

Endgültig alarmiert zeigt sich der A&M- Analyst dann in den letzten Absätzen: Bei der Durchsicht der elektronischen Postfächer sei festgestellt worden, dass »nur wenige den relevanten Personen zuordenbaren E-Mails hergestellt werden« können. 242 Auf gut Deutsch: Die E-Mails wurden offenbar rechtzeitig vernichtet. Von den russischen Geschäftspartnern erhält der Datenforensiker keine Rückmeldung. Umso bedenklicher, da die Personen wohl auch aktuell noch »als Kreditoren bei weiteren Tengelmann-Gesellschaften gelistet« 243 und unter Compliance-Aspekten »stark auffällig« 244 seien.

Ich bespreche den Bericht von Alvarez & Marsal mit meinem Kollegen Sergej. Relativ schnell finden wir heraus, dass die dubiosen Geschäftspartner Ilja Brodski, Sergej Grishin und Andrej Suzdaltsev tatsächlich nicht ohne sind: Brodski ist Präsident der Sovkombank, die Anfang der 2000er-Jahre als kleine Regionalbank begann und seitdem ihren Umsatz vertausendfacht hat. Außerdem ist er aktuell auf einer internationalen Sanktionsliste. 245 Grishin und Suzdaltsev tauchen hingegen in den sogenannten Offshore Leaks auf. 246 247 248 249 Das Leak stammt aus dem Jahr 2013 und legt Datenbestände von Offshore-Finanzplätzen offen. Es besteht gemeinhin Konsens darüber, dass mithilfe der in Steueroasen gegründeten Briefkastenfirmen hauptsächlich kriminelle Geschäfte abgewickelt oder Gelder gewaschen werden können. Außerdem können Sergej und ich bestätigen, dass die Russen tatsächlich Anteilseigner der Rosevrobank 250 sind, welche in einen Geldwäscheskandal verwickelt ist, der als sogenannter Russischer Waschsalon 251 in die Schlagzeilen gelangte.

Wie es mir der Krisenmanager in unserem Kennenlerngespräch angedeutet hat, liegt offenbar viel Zündstoff in den dubiosen Geschäftsbeziehungen von Karl-Erivan Haub nach Russland. Nun bin ich noch gespannter, was für weiterführende Informationen uns die beiden Männer bei dem in Aussicht gestellten Treffen liefern werden.

Einblick in dreijährige interne Ermittlungen

Die Übergabe des Materials soll im Rahmen eines ganztägigen Termins stattfinden und die beiden Männer sollen uns Einblicke in ihre zu diesem Zeitpunkt rund drei Jahre andauernde Ermittlungsarbeit geben. Vonseiten der Mediengruppe RTL nehmen der Leiter Investigativ, der Leiter des Verifizierungsteams sowie mein Kollege Sergej Maier und ich teil. Sergej und ich sind ebenfalls Mitglieder des Verifizierungsteams, und da Sergej Russisch spricht, ist er von nun an mein fester Recherchepartner. Ich mag ihn sehr und bin froh, ihn an meiner Seite zu haben.

Den Treffpunkt bestimmt der Tengelmann-Sicherheitschef. Es handelt sich um ein Anwesen in Ratingen, das zum Unternehmensbestand der Firma Tengelmann gehört. Ich reise am Vortag an und übernachte in Düsseldorf. Am Morgen des 16. Februar – ich steige gerade bei einem der Kollegen ins Auto – bekomme ich um 9:04 Uhr eine E-Mail 252 von Christian Haubs Vertrautem. Im Anhang der Mail befindet sich ein passwortgeschütztes Dokument. Es ist ein Dossier über den Top-Manager, den ehemaligen hochrangigen Tengelmann-Berater und engen Vertrauten von Karl-Erivan Haub. Über seinen Namen sind wir nun schon mehrfach gestolpert 253 und ich würde das Dokument wahnsinnig gerne lesen, doch Christian Haubs Vertrauter schickt das Passwort nicht mit. Ich kann das Dokument also nicht öffnen. Und ich kann mir auch denken, warum.

Mein Kontakt will, dass ich schriftlich festhalte, was der Krisenmanager und der Tengelmann-Sicherheitschef uns in den folgenden Stunden mitteilen werden. Vermutlich soll ich dann zur »Belohnung« das Passwort erhalten. Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl bei der Sache. Ich vermute, dass mein Gesprächspartner es später so hindrehen könnte, dass die beiden internen Ermittler die streng vertraulichen Informationen aus eigenem Antrieb an die Presse weitergegeben hätten – und sich so angreifbar machen könnten. Theoretisch kann es mir egal sein; den beiden Männern gegenüber wäre es jedoch wirklich unfair.

Ich informiere meine Chefredaktion. Wir beschließen, den Aufforderungen des Mannes nicht nachzukommen. Es wird kein Protokoll von unserem Treffen geben. Wenn das am Ende bedeutet, dass ich das Passwort nicht erhalte, dann ist das eben so. Wir werden auch so genug Informationen bekommen.

Pünktlich um 10 Uhr treffen wir uns mit den beiden Männern im Mintarder Berg in Ratingen. Der Mintarder Berg ist eine Erhebung in Mintard, einem Stadtteil von Mülheim an der Ruhr. Er bildet die östliche Grenze des Ruhrtals. Das Tengelmann-Anwesen erreicht man nach einer längeren Fahrt durch den Wald, der in Teilen auch ein Naturschutzgebiet ist. Die Adresse liegt völlig abgeschirmt im Grünen. Hinter dem Haus sind einige Koppeln mit Ponys. Die beiden Ermittler warten schon auf uns. Nachdem ich den Krisenmanager schon zwei Wochen zuvor persönlich kennengelernt habe, bin ich nun sehr gespannt, wie sein Partner so ist. Was für ein Gefühl würde ich bei ihm haben?

Die menschlichen Antennen sind oft viel feiner, als man es vermuten würde, und ich habe gelernt, mich auf sie zu verlassen. Würde mich mein Bauchgefühl vor dem Mann warnen oder ihm Vertrauen schenken?

Bevor wir klingeln können, tritt der Tengelmann-Sicherheitschef ins Freie. Er ist ein ganzes Stück kleiner als der Krisenmanager. Während dieser eher so aussieht, als ob er in seiner Freizeit viel Sport in der Natur macht, wirkt der Leiter der internen Ermittlungen eher so, als gehe er einem gemütlichen Bürojob nach. Und genau das weckt mein Vertrauen: Zumindest auf den ersten Blick macht er nicht den Eindruck, sich irgendwie in den Vordergrund drängen zu wollen. Mehrfach betont er fast entschuldigend, dass er nur auf ausdrücklichen Wunsch von Christian Haub und dessen engem Vertrauten da sei und es persönlich für keine gute Idee halte, den aktuellen Kenntnisstand rund um das Verschwinden von Karl-Erivan Haub mit der Presse zu teilen. Ich frage die beiden Ermittler nach dem Grund. »Weil wir nicht davon ausgehen, dass Karl-Erivan Haub ein seriöser Geschäftsmann ist.« 254

»Zu 95 Prozent kein Unfall«

Nach und nach trudeln auch meine anderen beiden Kollegen am Treffpunkt ein. Etwas verloren stehen wir zusammen mit den beiden Ermittlern im Besprechungszimmer. Das Ehepaar, das das Anwesen bewirtschaftet, hat einen riesigen Berg belegte Brötchen, Kekse und Kaffee vorbereitet und zunächst stehen wir einfach alle um die Tabletts herum und essen vor uns hin. Die seltsame Atmosphäre erkläre ich mir damit, dass dieses Treffen so gar nicht im Sinne des Sicherheitschefs von Tengelmann sein dürfte, der ja aufgrund der Haftungsansprüche durch etwaige Schadensersatzklagen in die Rolle des Organisators dieser Veranstaltung gezwungen wurde.

Die Tische im Raum sind wie ein Hufeisen aufgebaut: Der Leiter der internen Ermittlungen nimmt schließlich am Kopfende Platz, zwei meiner Kollegen und ich auf der linken Seite und der Leiter Investigativ uns gegenüber neben dem Krisenmanager. Auf eine große Leinwand am offenen Ende des Hufeisens wird der Bildschirm des Laptops des Leiters der internen Ermittlungen projiziert. Wir stellen uns alle erst einmal der Reihe nach vor und dann geht es endlich los.

Um zu verstehen, wie sich die Ermittlungen in den vergangenen Jahren aufgebaut haben, nehmen uns die beiden Ermittler zunächst mit zurück zum Anfang: zum Tag des Verschwindens, dem 7. April 2018. Zusammen mit den Schweizer Behörden haben sie die letzten Stunden vor Karl-Erivan Haubs Verschwinden minutiös rekonstruiert. Dafür wurden alle Kameras in Zermatt gesichtet und mit jedem gesprochen, der mit Haub in Kontakt stand. Inzwischen, so machen es die beiden Männer deutlich, halten sie ein absichtliches Untertauchen mit rund 95 Prozent für am wahrscheinlichsten.

Sei man unmittelbar nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub von einem tragischen Bergunfall ausgegangen, habe sich diese Meinung dann im Verlauf der darauffolgenden Woche grundlegend geändert: Bereits am 12. April glaubten die beiden nur noch zu 50 Prozent an einen Bergunfall, am Ende der Rettungsaktion lag aus ihrer Sicht die Möglichkeit eines Gletscherspaltensturzes bei lediglich 5 Prozent. So dramatisch hatte sich die Datenlage vor Ort verändert.

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Aber beginnen wir von vorne.

Ungereimtheiten am Tag des Verschwindens

Der 7. April 2018 verspricht schon in den frühen Morgenstunden ein wunderschöner Tag zu werden. Blauer wolkenloser Himmel über dem Matterhorn. Ursprünglich, so erfahren wir, hat er jedoch ein ganz anderes Reiseziel geplant, nämlich Les Deux Alpes in Frankreich. Nachts um 1 Uhr informiert der Milliardär seinen Piloten über das neue Ziel. Offenbar rechtfertigt er die Planänderung mit den »schlechteren Wetterbedingungen« in Frankreich. Der Sicherheitschef erklärt uns, dass dieses Verhalten für seinen ehemaligen Chef untypisch sei. Er kenne ihn schon seit vielen Jahren, sich zu rechtfertigen sei nicht seine Art. Vor allem aber hätte es auch nicht der Wahrheit entsprochen: In Zermatt war das Wetter nicht besser als in Frankreich. 255

Am Vortag des Verschwindens kommt der Milliardär schließlich gegen 17 Uhr in Zermatt an. Mit seinem Privatjet landet er circa eine Stunde zuvor auf dem kleinen Flughafen in Sion und nutzt dann einen Helikopter-Transfer nach Zermatt. In den Tagen zuvor hatte es wenige Zentimeter Neuschnee gegeben. Karl-Erivan Haub, ein leidenschaftlicher Skitourengeher, möchte bei diesen perfekten Bedingungen für die Patrouille des Glaciers trainieren, eines der härtesten Skitourenrennen der Welt. Zumindest erzählt er dies seiner Familie. Die Patrouille des Glaciers soll in diesem Jahr zwischen dem 17. und 21. April stattfinden, ein letztes Training wenige Tage vorher wäre daher optimal. Dass seine Personal Trainerin ihm jedoch eine strikte Erholungsphase angeordnet hatte, erwähnt er nicht.

Karl-Erivan Haub kennt Zermatt seit seiner Jugend und hat dort einige Freunde. Unter anderem einen Freund aus Kindertagen, dessen Vater schon den Patriarchen in die Berge begleitet hat. Normalerweise meldet sich der Milliardär bei seinen Bekannten, sobald er ankommt – doch dieses Mal sagt er offenbar niemandem Bescheid. 256

Gegen 19 Uhr kauft er sich in einem Sportladen ein paar neue Sportartikel. 257 Danach verschwindet er eine Zeitlang aus dem Blickfeld der Videokameras. Das ganze Dorfzentrum ist videoüberwacht, doch offenbar bewegt sich »Charlie« aus diesem Bereich hinaus. Für eine Zeit von 30 bis 45 Minuten ist er außerhalb des Ortskerns. 258 Geht er einfach nur spazieren oder trifft er jemanden? »Wir wissen es nicht«, erklärt uns der Tengelmann-Sicherheitschef. Man habe sich aber viele Fragen dazu gestellt.

Obwohl der Milliardär am nächsten Tag sehr früh zu seinem Training aufbrechen möchte, telefoniert er an jenem Abend noch mehrmals. Darunter einmal um 20:52 Uhr für 60 Minuten mit einer russischen Nummer und nochmals um 21:54 Uhr mit einer weiteren russischen Nummer, 259 dieses Mal 48 Minuten. Beide Telefonate werden für die Ermittler im späteren Verlauf noch extrem wichtig werden.

Am Samstag, dem Tag des Verschwindens, verlässt der Milliardär das Luxushotel The Omnia bereits um 7:30 Uhr und nimmt die erste Gondel hinauf auf den Berg. 260 Normalerweise dürfen bei dieser frühen Fahrt nur die Mitarbeiter der Berggasthöfe mitfahren. Für den regulären Betrieb ist sie noch nicht offen. Um 7:07 Uhr, vor dem Verlassen des Hotels, verabredet sich Haub für den selbigen Tag mit einer Freundin der Familie in einer Après-Ski-Hütte. Doch die Antwort der Freundin um 7:39 Uhr wird bereits nicht mehr zugestellt, es erscheint nur ein graues Häkchen bei WhatsApp. Auch eine weitere Nachricht um 8:12 Uhr kann nicht mehr zugestellt werden. 261

Um 8:33 Uhr findet die letzte registrierte Einwahl von Haubs Handy in das Schweizer Mobilfunknetz statt. 262 Wurde das iPhone danach ausgeschaltet oder ging es kaputt? Die internen Ermittler glauben, es sei absichtlich deaktiviert worden. Denn »Charlie«, wie Haub von seiner Familie und Freunden genannt wurde, habe typischerweise noch vom Gipfel aus Fotos verschickt. Auch ist das iPhone 6S 128 GB zu diesem Zeitpunkt nahezu vollständig geladen. 263

Um 9:09 Uhr zeichnet eine Kamera am Skilift der Bergstation Klein Matterhorn den Milliardär ein letztes Mal auf. Es ist der letzte Point of Contact . 264

Der Leiter der internen Ermittlungen projiziert nun ein detailliertes Protokoll über den »Sicherheitsvorfall / Vermisst-Meldung Karl-Erivan W. Haub« auf die Leinwand. Es ist auf den 8. Mai 2018 datiert und gewährt hochinteressante Einblicke in den damaligen Kenntnisstand. Gleichzeitig lässt das Protokoll bemerkenswerte Rückschlüsse für die weitere Ermittlungsarbeit zu.

Protokoll Sicherheitsvorfall / Vermisst-Meldung Karl-Erivan W. Haub

Am Abend des 7. April 2018, so erzählen es die internen Ermittler, beginnen Haubs Ehefrau Katrin sowie die gemeinsamen Kinder, sich große Sorgen zu machen. Zahlreiche Versuche, Kontakt mit Karl-Erivan Haub aufzunehmen, scheitern. Am nächsten Morgen wird eine großangelegte Such- und Rettungsaktion eingeleitet. Da der Leiter der internen Ermittlungen für die Unternehmenssicherheit der Firma Tengelmann zuständig ist, laufen bei ihm an diesem Morgen alle Drähte zusammen. Er informiert auch den Krisenmanager, seinen Subunternehmer und langjährigen Freund, der sich zu diesem Zeitpunkt privat in der Schweiz aufhält und selbst gerade eine Skitour macht. Der Sicherheitschef bittet ihn, sich unverzüglich auf den Weg nach Zermatt zu machen und dort vor Ort die Such- und Rettungsmaßnahmen in Absprache mit den örtlichen Behörden zu koordinieren. Der Krisenmanager erzählt uns, dass er das in diesem Moment für übertrieben gehalten habe, da er glaubte, dass sich das Verschwinden schon bald aufklären werde. 265 Dennoch bricht er seine Skitour ab und macht sich unverzüglich auf den Weg nach Zermatt. Gegen 13 Uhr erreicht er das Bergdorf und geht auf direktem Weg zur Polizei, die neben dem Bahnhof angesiedelt ist. 266

Nun beginnt die größte Such- und Rettungsaktion, die je in der Schweiz stattgefunden hat. Bis zu sechs Hubschrauber und 60 Bergretter aus der Schweiz und Italien sind involviert, die Kantonspolizei Wallis ist mit eigener Luftaufklärung (Wärmebild und hochauflösenden Kameras) rund um die Uhr im Einsatz, die Kriminalpolizei Wallis ist mit zwei Ermittlern vor Ort und steuert die technische Aufklärung. Unter die technische Aufklärung fallen dabei unter anderem die Mobilfunkauswertung, die Auswertung möglicher IMSI-Catcher (Geräte, mit denen die auf der SIM-Karte eines Mobiltelefons gespeicherte International Mobile Subscriber Identity (IMSI) ausgelesen werden und somit der Standort eines Mobiltelefons innerhalb einer Funkzelle eingegrenzt werden kann) und die Videoüberwachung in Zermatt sowie den Bergstationen.

Außerdem werden das Bundeskanzleramt, die US-Botschaft, das Auswärtige Amt und die Deutsche Botschaft in der Schweiz eingeschaltet und externe Spezialisten eingebunden. Es sei normalerweise nicht üblich, so berichtet der Leiter der internen Ermittlungen, dass bei einem Vermisstenfall die höchste politische Ebene eingebunden werde, doch Karl-Erivan Haub sei eben kein normaler Bürger, sondern ein bis in die höchsten Kreise vernetzter Geschäftsmann.

Doch die Suche nach dem schwerreichen Firmenlenker gestaltet sich äußerst schwierig. Das riesige Suchgebiet erstreckt sich über eine Fläche von mehr als 300 Quadratkilometern, von der Größe her vergleichbar mit dem Landkreis Köln. Man konzentriert sich zunächst auf die wahrscheinlichsten Routen, etwa bekannte Trainingsstrecken für die Patrouille des Glaciers oder sonstige Abfahrten. 267

Anhand des letzten bekannten Aufenthaltspunkts an der Bergstation Klein Matterhorn versuchen die örtlichen Behörden und Rettungsteams zu rekonstruieren, welche Routen von dort aus am wahrscheinlichsten sind.

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Suchgebiet und mögliche Routen, die Karl-Erivan Haub genommen haben könnte. Auszug aus der Power-Point-Präsentation Vermisstensuche K.E.

Das Umfeld der Such- und Rettungsaktion gestaltet sich dabei als sehr schwierig. Zum einen, weil extreme Höhenlagen von 1650 bis 4200 Meter über dem Meer zu überwinden sind, zum anderen, weil das hochalpine Gelände mit Bergwäldern und Schluchten übersäht ist. Außerdem befindet sich rund um das Matterhorn ein Gletschergebiet mit mehr als 100.000 Spalten und einer Eisdicke von bis zu 500 Metern. Während des gesamten Zeitraums der Suche schwanken die Temperaturen zwischen –30 und 0 Grad, außerdem weht zeitweise ein starker Wind von bis zu 120 Kilometern pro Stunde. 268

Die Bergretter suchen mehrere Hundert Gletscherspalten ab. Dabei, so berichten uns die internen Ermittler, verfolgen die Retter auch weit von den möglichen Routen entfernte Spuren im Schnee oder suchen an Orten, die eigentlich von der Location her extrem unwahrscheinlich sind. 269

Im Verlauf der Suche verschlechtert sich außerdem das Wetter. Zu Beginn ist es noch sehr gut, doch dann wechseln sich starke Schneefälle und Sonne innerhalb kürzester Zeit ab. Vonseiten der Familie erhalten die internen Ermittler eine unbegrenzte Kostenfreigabe, es werden daher keine Kosten und Mühen gescheut, um den verschollenen Milliardär zu finden. Alle Mittel, die auch nur ansatzweise erfolgsversprechend sein könnten, werden eingesetzt. Teilweise werden beispielsweise Messinstrumente von Militärhubschraubern abgebaut und an privaten Hubschrauber angebracht, die höher fliegen können, und Militärsatelliten angezapft, um Bilder der Region zu bekommen. 270 271

Im ganzen Matterhorngebiet werden Berghütten und Biwaks abgesucht, auch wenn ein Aufenthalt dort von der Lage her wenig wahrscheinlich ist.

Im Verlauf der Suchaktion gibt es sogar Überlegungen, einen Stausee in einem weit entfernten Gebiet abzupumpen, weil auf einer Eisscholle Spuren zu sehen sind, die nicht direkt einem Tier zugeordnet werden können. Aufgrund der extrem geringen Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um die Fußabdrücke des Verschollenen handelt, lässt man von diesem Unterfangen dann aber wieder ab. 272 273 Die Ermittler bekommen in dieser Zeit mehr als 200 Hinweise, denen sie zusammen mit den örtlichen Behörden nachgehen. Darunter sind auch obskure Dinge, wie »Ich will helfen und beweisen, dass übersinnliche Hinweise in schwierigen Fällen zielführend sein können« oder Hinweise auf Orte, wo angeblich ein Pendel ausgeschlagen hätte. 274 Einigen gingen beide internen Ermittler auf Wunsch der Familie zusammen mit den örtlichen Behörden nach. Sie führten ins Leere.

Die beiden Männer erklären uns übereinstimmend, dass sowohl sie als auch die Schweizer Behörden vor Ort alles Menschenmögliche unternommen hätten, um Karl-Erivan Haub zu finden. Da die Such- und Rettungsaktion dermaßen umfangreich gewesen sei und auch an den unwahrscheinlichsten Orten gesucht worden sei, hätte man zumindest eine Spur von dem Verschollenen finden müssen . Die internen Ermittler weisen nochmal deutlich darauf hin, dass zu Beginn der Suchmaßnahmen perfekte Wetterverhältnisse geherrscht hätten: Eine einsame Skispur, die in einer Gletscherspalte mündet, wäre sofort aufgefallen. Doch der Milliardär bleibt wie vom Erdboden verschluckt. 275

Doch kein Unfall? Ein »dubioses Pärchen« im Hotel

Doch nun wird es interessant: Die ersten Hinweise, dass der Milliardär womöglich gar keinen Unfall hatte, ergeben sich noch während der Suche vor Ort. Die beiden Ermittler beschreiben uns ein »auffallend unauffälliges Pärchen« 276 , das sich ebenfalls ein Zimmer im Luxushotel The Omnia bucht. Zu diesem Zeitpunkt sind auch die Kinder von Karl-Erivan und Katrin Haub, die Zwillinge Viktoria und Erivan, im Hotel angekommen. 277 Katrin Haub befindet sich noch auf dem Weg nach Zermatt.

Der Leiter der internen Ermittlungen und sein Berater berichten uns, dass sie vom Hotel am Montag, den 9. April, um die Mittagszeit informiert werden, dass in der Nacht zuvor eine ungewöhnliche Buchung stattgefunden habe. 278 Aus dem Protokoll der Tengelmann-Unternehmenssicherheit geht hervor, dass ein »dubioses Pärchen« einen Tag nach dem Verschwinden, also am Sonntag, am späten Abend gegen 22:15 Uhr aus einem Auto heraus telefonisch ein Zimmer gebucht habe und dann Montag früh gegen 9 Uhr angereist sei. Das Zimmer sei in bar bezahlt worden, was dem Hotel auffällig erschienen war, da das vornehme Boutiquehotel hauptsächlich von Stammgästen gebucht werde, die ihre Zimmer online buchen und per Kreditkarte oder auf Rechnung bezahlen.

Doch nicht nur der Buchungsvorgang sei laut den internen Ermittlern ziemlich seltsam gewesen. Auch das Paar selbst sei vor Ort mehreren Personen (darunter einem Hotelmitarbeiter und den beiden internen Ermittlern) aufgefallen. Der Mann und die Frau seien ohne passende Kleidung oder Skiausrüstung angereist und hätten zumindest oberflächlich betrachtet nicht so gewirkt, als ob sie aus »guten Kreisen« kämen, »vornehm« oder »gut betucht« seien. Des Weiteren hätten sie einen »osteuropäischen Einschlag und Akzent« gehabt. 279 Außerdem hätten die beiden offenbar die meiste Zeit in der Lobby »herumgelungert«. Dieses Detail sei deshalb so alarmierend, da der Leiter der internen Ermittlungen und der Krisenmanager die Such- und Rettungsmaßnahmen in einem Raum neben der Rezeption koordinierten und sich auch Mitglieder der Familie Haub dort aufhielten. 280

Die beiden »dubiosen Gestalten« hätten offenbar alle Vorgänge gut im Blick gehabt. Und obwohl sie wohl extra aus Bremerhaven angereist seien, dauerte ihr Aufenthalt in Zermatt nur knappe 48 Stunden. Bereits am Mittwoch, den 11. April, reisen sie vormittags wieder ab. 281 Noch vor Ort habe sich daher für die internen Ermittler die Frage gestellt, zu welchem Zweck das Paar überhaupt nach Zermatt gekommen sei.

Später, so berichten es uns die beiden, habe eine Überprüfung der Pässe ergeben, dass bei den beiden Personen laut Geheimdienstkreisen Beziehungen zum russischen Nachrichtendienst FSB bestehen. 282

Dieses »dubiose Pärchen« ist auch für uns hochinteressant. Es scheint den Erzählungen nach ausgeschlossen zu sein, dass die beiden rein zufällig ein paar schöne Tage in Zermatt verbringen wollten. Doch wer hat sie beauftragt? Stammen sie tatsächlich aus dem Umfeld des russischen Geheimdienstes? Sergej und ich sind wie elektrisiert. Wir kennen nun die Namen der beiden, und offenbar wohnen sie auch in Deutschland. Mit diesen Informationen würden wir es bestimmt schaffen, uns ein eigenes Bild zu machen.

Doch nicht nur das Pärchen wirft während der ersten Tage der Such- und Rettungsaktion in Zermatt die ersten Fragezeichen auf: Auch eine nähere Betrachtung von Karl-Erivan Haubs Telefonverhalten alarmiert die internen Ermittler.

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Nicht-maßstabsgetreuer Grundriss des Hotels

Handy bewusst ausgeschaltet?

Mithilfe der Schweizer Behörden finden der Leiter der internen Ermittlungen und der Krisenmanager noch in Zermatt heraus, dass die letzte Einwahl des Mobiltelefons am 7. April um 8:33 Uhr stattfand. 283 Danach, so scheint es, wurde das Telefon bewusst ausgestellt. Eine andere Möglichkeit schließen die beiden im Gespräch mit uns nahezu aus. Das iPhone wählt sich an jenem Tag um 6:21 Uhr 284 noch ein letztes Mal auf einen Firmenserver ein und sei zu diesem Zeitpunkt mit 84 Prozent ziemlich vollständig geladen gewesen. 285 Auch ein »Ausgehen durch Kälte« sei höchst unwahrscheinlich, da Karl-Erivan Haub sich nachweislich zwischen dem Verlassen des Hotels um 7:30Uhr und dem letzten Point of Contact um 9:09 Uhr vorwiegend in den Innenräumen der Bergstation Klein Matterhorn , in Seilbahnen und deren Zwischenstationen bewegte. Und dort sei es der Erfahrung nach nicht eisig kalt. Vor allem der Krisenmanager, laut eigener Aussage selbst ein erfahrener Skifahrer und Bergsteiger, hält diese Möglichkeit für nahezu ausgeschlossen. 286

Während der Tengelmann-Sicherheitschef mit meinen drei Kollegen über diese Details spricht, überlege auch ich, wie kalt es bei meinem letzten Skiurlaub in den Seilbahnen und Bergstationen war. Ich kann mich persönlich an keine Situation erinnern, wo mein Telefon wegen der Kälte ausgegangen ist. Innerlich stimme ich den beiden Männern daher zu, dass ein »Ausgehen durch Kälte« ziemlich unwahrscheinlich ist.

Vom Trainingsplan abgewichen

Auch aus dem Umfeld der Familie werden noch vor Ort erste Zweifel laut: Dem Protokoll zufolge habe eines der Familienmitglieder angemerkt, Karl-Erivan habe nicht vorgehabt, eine schwere Tour zu gehen. Vielmehr habe er ein leichtes Höhentraining machen wollen. 287 Die gleiche Information erhalten die beiden internen Ermittler auch von Haubs Personal Trainerin, die mit Karl-Erivan Haub in den Tagen zuvor einen detaillierten Trainingsplan ausgearbeitet hatte. Im Gespräch mit den Ermittlern äußert die Trainerin demnach, Haub sei ihr »bester Schüler«, er halte sich »penibel an Absprachen«. Ihre klare Anweisung an ihn sei »Ruhe und Erholung« gewesen. Sie habe ihm sogar davon abgeraten, überhaupt Ski zu fahren. Für sie sei es daher ausgeschlossen, dass er völlig von seinen ursprünglichen Plänen abweiche und eine schwere Tour abseits der Pisten gehe. 288 289

Alles, was ich im Vorfeld über das Sicherheitsempfinden und den Perfektionismus des verschollenen Milliardärs gelesen hatte, deckt sich mit den Einschätzungen der Trainerin und den Einschätzungen der internen Ermittler. Außerdem kann sich offenbar auch niemand aus dem Umfeld der Familie vorstellen, dass der sonst so sicherheitsbewusste Firmenlenker auf einer Solo-Skitour ohne Handy oder LVS-Sonde (einem Messgerät zum Aufspüren einer Person, die unter eine Lawine geraten ist) aufbrechen würde. Das entspräche in keiner Weise seinen üblichen Gewohnheiten.

Zeugenaussagen bei der Pressekonferenz verschwiegen?

Die beiden internen Ermittler berichten uns auch, dass im Zuge der Such- und Rettungsaktion glaubhafte Zeugen aufgetaucht seien, die Karl-Erivan Haub an jenem Samstag noch gesehen haben wollen. Die internen Ermittler können diese Spur jedoch bis zum heutigen Tag nicht verifizieren. 290

Dennoch: Die Liste an Ungereimtheiten wird immer länger und der Tengelmann-Sicherheitschef und sein Berater beratschlagen bereits zwei Tage nach dem Verschwinden des Tengelmann-Milliardärs, ob außer einem tragischen Bergunfall noch ein weiteres Szenario denkbar sein könnte, zum Beispiel ein Verbrechen.

Die Suche wird auch in den folgenden Tagen unter Einbeziehung aller verfügbaren Kräfte fortgesetzt, doch die Witterungsbedingungen verschlechtern sich zunehmend. Am 11. April, so erzählen uns die beiden Männer, sei klar gewesen, dass man (sollte man von einem Unfall ausgehen) von diesem Zeitpunkt an nicht mehr von einer Such- und Rettungsaktion sprechen könne, sondern allenfalls von einer Bergung . Ein Überleben nach mehreren Tagen in Eis und Schnee sei aus medizinischer Sicht zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. 291

Am Nachmittag des 11. April wird daher die Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz darüber informiert, dass Karl-Erivan Haub, einer der reichsten und mächtigsten Männer Deutschlands, spurlos in den Zermatter Alpen verschwunden sei und man von einem tragischen Unglück ausgehe. Von angeblichen Sichtungen Haubs auf der italienischen Seite des Matterhorns und seinem ungewöhnlichen Verhalten am Morgen seines Verschwindens erfährt die Öffentlichkeit hingegen nichts. 292

Wie uns der Leiter der internen Ermittlungen und sein Berater berichten, werden die Schweizer Behörden von den beiden Männern genau instruiert, was auf der Pressekonferenz gesagt werden darf und was nicht. Unter keinen Umständen solle die Möglichkeit vermittelt werden, dass etwas anderes als ein Bergunfall in Betracht kommen könnte.

Doch die Schweizer Behörden wollen sich darauf eigentlich nicht einlassen: Offiziell müsse man ja in alle Richtungen ermitteln. Die internen Ermittler geben jedoch während unseres Treffens offen zu, dass sie den örtlichen Behörden damit gedroht hätten, dass die Familie Haub ein »Heer von Anwälten« engagieren würde, sofern die Pressekonferenz nicht so ablaufe wie besprochen. Offenbar wirkt die Drohung, denn jede Formulierung wird nun im Vorfeld mit den Beteiligten der Staatsanwaltschaft, der Kantonspolizei und der Bergrettung abgestimmt. 293 Ich finde es in diesem Moment unfassbar, dass sich die Schweizer Behörden offenbar von den Ultrareichen dieser Welt vor den Karren spannen lassen. Dass es in Deutschland diesbezüglich nicht viel anders aussieht, werde ich nur wenige Wochen später selbst feststellen.

Doch jetzt weiß ich zumindest endlich, warum ich in Zermatt bei all meinen Kontaktversuchen mit den Schweizer Behörden auf eine Mauer des Schweigens stoße: Bis heute haben die beteiligten Personen offenbar Angst vor den Anwälten der Familie Haub.

Die inoffiziellen Ermittlungen beginnen

Mit der Pressekonferenz vom 11. April ist der Fall des vermissten Milliardärs für die Öffentlichkeit erst einmal erledigt. Es scheint ein tragischer Unfall zu sein und die Behörden vermitteln den Eindruck, dass die Natur die sterblichen Überreste des Familienvaters schon irgendwann zutage fördern wird. Spätestens im Frühling oder Sommer, wenn die Schneeschmelze einsetze, würde der Gletscher sein Opfer wohl freigeben. Und auch wenn es zu diesem Zeitpunkt viele Ungereimtheiten rund um das Verschwinden gibt: Es breitet sich nach außen hin erst mal der Mantel des Vergessens aus.

Intern sieht die Lage jedoch ganz anders aus. Kurze Zeit nach der Pressekonferenz erhalten der Sicherheitschef und sein Berater die Liste der Einzelverbindungsnachweise von Karl-Erivan Haubs Handy. Von diesem Moment an ist klar, dass die Ermittlungen in eine völlig andere Richtung gelenkt werden müssen: Offenbar hatte der Tengelmann-Chef in den Wochen vor seinem Verschwinden ein außerordentlich großes Bedürfnis, mit verschiedenen Personen in Russland in Kontakt zu treten. Die Telefonliste ist derartig auffällig, dass die Ermittler sie bei ihren weiteren Überlegungen nicht ignorieren können.

Ungewöhnlich viele Telefonate mit Russland

Zusammen mit Haub ist auch sein iPhone verschwunden. Ein weiteres Nokia-Telefon, das er als eine Art Mini-Computer verwendet, wird im Hotelzimmer sichergestellt. Bei diesem Telefon können die internen Ermittler nichts Ungewöhnliches feststellen. 294 Doch die Liste von Einzelverbindungsnachweisen des mit Haub verschollenen iPhones, die, rückwirkend für drei Monate vor seinem Verschwinden, alle abgehenden Anrufe verzeichnet, wirft viele Fragen auf. Eine Liste mit eingehenden Anrufen gibt es nicht und liegt den internen Ermittlern auch bis heute nicht vor. Auch aktuell, so berichtet der Sicherheitschef, bestehe noch eine gewisse Unsicherheit darüber, ob Haub weitere Mobiltelefone besaß. Der Familie seien keine Geräte bekannt, doch ausschließen könne man es natürlich nicht. 295

Eine Auffälligkeit zeigt die Liste sofort. Nicht nur am Vortag seines Verschwindens telefonierte der Milliardär außergewöhnlich lange mit zwei russischen Nummern. Seit dem Todestag seines Vaters gut einen Monat zuvor, dem 6. März, steigt die Anzahl seiner Telefonate signifikant an. Zwischen dem 6. März und dem 7. April telefoniert er fast ausschließlich nach Russland. Vor dem 6. März kommt es nur sehr vereinzelt zu einem Kontakt. 296

Die Verweildauer (Duration ) der Telefonate ist spannend. Sie beträgt in den meisten Fällen 1, also eine Minute. Unter diese Messgröße fallen sowohl Gespräche, die weniger als 60 Sekunden lang sind, als auch Telefonate, bei denen bei der Zielperson nur angeklingelt wird oder eine Mailbox anspringt. Am Abend vor seinem Verschwinden, also am 6. April, telefoniert Haub erstmals außergewöhnlich lange mit zwei Nummern aus St. Petersburg. Diese beiden Gespräche sprengen regelrecht den Rahmen: Um 20:52 Uhr telefoniert er für 60 Minuten 297 und direkt im Anschluss um 21:54 Uhr für weitere 48 Minuten. 298 Zwischen den beiden Anrufen liegt lediglich eine sehr kurze Pause von zwei Minuten.

Bei genauerer Betrachtung fällt auch auf, dass Haub auch am Vortag, dem 5. April, mit einer der beiden Nummern bis spät in die Nacht hinein in Verbindung steht. Aus den Einzelverbindungsnachweisen sind vier Anrufe zwischen 20:22 Uhr und 22:29 Uhr nach Russland zu entnehmen. 299 Diese vier Telefonate sind deshalb so interessant, da Haub in jener Nacht den internen Ermittlern zufolge seinen Piloten darüber informiert, dass er sein Reiseziel ändern und statt nach Les Deux Alpes in Frankreich lieber nach Zermatt fliegen möchte. Zwischen dem letzten Telefonat nach Russland und der Nachricht an den Piloten liegen vermutlich zwei Stunden – da wir jedoch nicht wissen, ob er vielleicht nur angeklingelt hat und dann zurückgerufen wurde, könnte der Zeitabstand dazwischen auch deutlich kürzer sein. 300 301

An jenem 6. April gibt es dann einen weiteren Anruf nach Russland: Laut Einzelverbindungsnachweis findet gegen 15:53 Uhr ein Telefonat statt. 302 Legt man an dieser Stelle das Protokoll Sicherheitsvorfall / Vermisst-Meldung Karl-Erivan W. Haub neben die Anrufliste , dann kann man den Rückschluss ziehen, dass Haub unmittelbar nach der Landung mit seinem Privatflugzeug in Sion eine Kontaktperson in Russland angerufen hat, denn als Ankunftszeit in Zermatt wird »ca. 17 Uhr« angegeben. 303 Rechnet man also von der Ankunft in Zermatt um 17 Uhr rückwärts und zieht in Betracht, dass ein Helikopterflug zwischen dem Privatflughafen in Sion und Zermatt circa 40 Minuten dauert, 304 so kommt man in etwa auf die Zeit des Telefonats um 15:53 Uhr. Außerdem erzählen uns die internen Ermittler, dass Haub den Helikopterpiloten darum gebeten habe, nicht auf dem direkten Weg von Sion nach Zermatt zu fliegen, sondern noch einen kleinen Schlenker über die Route der Patrouille des Glaciers zu fliegen. Zwischen dem Anruf nach Russland und der Ankunft in Zermatt liegt also eine knappe Stunde, welche für den Heli-Transfer vom Flughafen Sion nach Zermatt genutzt wurde. Wollte Haub die Person in Russland darüber informieren, dass er in Zermatt angekommen ist?

Sergej und ich werden später herausfinden, dass dieser Anruf auch in Russland eine Handlung in Gang setzte. Aber dazu kommen wir später.

Insgesamt können die internen Ermittler drei verschiedene russische Nummern identifizieren. 305 Doch welchen Personen können sie zugeordnet werden? Sofort nachdem sie die Liste mit den Einzelverbindungsnachweisen erhalten haben, geben die internen Ermittler eine Überprüfung der Nummern in Auftrag. Die mit großem Abstand am häufigsten gewählte russische Nummer lässt sich einer Eventagentur namens Russian Event in St. Petersburg zuordnen. Mit dieser Nummer finden unter anderem auch das letzte (48-minütige) Gespräch am 6. April um 21:54 Uhr sowie alle Gespräche am 5. April statt. 306 Das 60-minütige Gespräch am 6. April um 20:52 Uhr lässt sich hingegen einer gewissen Veronika E. zuordnen. 307 Die junge Russin ist wiederum Mitarbeiterin der Eventagentur Russian Event . Später werden die Ermittler herausfinden, dass beide Telefonnummern direkt auf Veronika E. zurückführen. 308

Doch was genau ist Russian Event und warum ruft der deutsche Milliardär so oft bei einer russischen Eventagentur an? Plant er Feierlichkeiten in Russland? Oder eine Reise? Die Agentur ist im Internet schnell zu finden, hat aber einen etwas, ich nenne es mal »faden«, Internetauftritt. 309 Angeblich bietet die kleine Firma Dienstleistungen rund um sogenannte Incentive-Reisen an, also Reisen, bei denen Mitarbeiter oder Kunden für ein bestimmtes Verhalten »belohnt« oder für neue Geschäfte gewonnen werden sollen. Die Agentur wirbt beispielsweise mit Ballettbesuchen oder Kalaschnikow-Schießen. Eine Liste an richtigen Referenzen gibt es jedoch nicht. Und um ehrlich zu sein: Bei der Betrachtung der Website wird mir nicht richtig klar, was das Unternehmen wirklich macht. »Ah, eine Eventagentur« – aber dann fehlen eben genaue Referenzen oder eine konkrete Auflistung der angebotenen Dienstleistungen. Es ist mehr Schein als Sein, und der Name Russian Event wirkt auch irgendwie plump. Russisches Event – was soll man sich darunter denn konkret vorstellen?

Die internen Ermittler erzählen uns jedoch, diese unbekannte Eventagentur habe den Geburtstag von Karl-Erivan Haubs Mutter Helga Haub mehrere Jahre zuvor in St. Petersburg organisiert. 310 Wie es dazu gekommen sei, dass eine kleine Firma ohne jegliches Renommee den Geburtstag einer Milliardärin organisiert? Dazu können uns die beiden Männer jedoch im Nachhinein nicht mehr viel sagen. Auch für sie wirft dieser Vorgang viele Fragen auf.

Was man jedoch mit Sicherheit sagen kann: Karl-Erivan Haub hatte vor seinem Verschwinden offenbar über Wochen hinweg einen sehr engen Austausch mit der jungen Frau. Zunächst ist das ja nicht verwerflich und muss auch nichts bedeuten, es kann viele Gründe geben. Hellhörig werden die Ermittler aber trotzdem – denn diese enge Verbindung ist im Umfeld der Familie nicht bekannt.

Auf der Firmenwebsite von Russian Event finden wir ein Foto von Veronika E. sowie eine persönliche Beschreibung. Meine Vorstellung der »russischen Geliebten«, wie ich sie seit dem Besuch bei Christian Haubs engem Vertrauten vor meinem inneren Auge habe, zerfällt in diesem Moment. Natürlich ist das sehr oberflächlich gedacht, aber bis zu diesem Moment hatte ich mir die Frau als eine Art »heißen Feger« vorgestellt. Doch die junge Frau auf den Fotos ist das komplette Gegenteil. Sie ist sehr unscheinbar, zierlich, fast burschikos. In der Textbeschreibung gibt sie an, eine große Leidenschaft für Extremsportarten aller Art zu haben. Sie mache alles: Skifahren, Klettern, Marathon. 311 Die Russin ist quasi das weibliche Gegenstück des sportbegeisterten Milliardärs Karl-Erivan Haub. Ist das nur Zufall? Verbindet die junge Frau und den Milliardär ihre gemeinsame Liebe für die Berge und den Sport? Es wirkt auf mich – und auch auf die internen Ermittler – fast ein wenig zu perfekt.

Und auch die dritte russische Nummer lässt die internen Ermittler aufhorchen: Am 11. März ruft Karl-Erivan Haub zwischen 19:36 Uhr und 19:37 Uhr viermal Andrej Suzdaltsev an. 312 Zweimal wählt er dafür dessen russische Handynummer, die übrigen zweimal wählt er eine Schweizer Nummer, die mit Suzdaltsevs Adresse am Genfer See in Verbindung steht.

Moment. Andrej Suzdaltev? Den Namen kennen wir doch! Handelt es sich bei Suzdaltsev nicht um ebenjenen russischen Geschäftsmann, dessen Name uns durch den Bericht von Alvarez & Marsal bereits bekannt ist? Den Mann, der offenbar in mehrere Geldwäscheskandale verwickelt ist, mit dem der Tengelmann-Chef aber offenbar dennoch Geschäfte in Russland machen wollte? Und was passierte an jenem 11. März, wenige Tage nach dem Tod von Haubs Vater? Offenbar ist es dem inzwischen verschollenen Karl-Erivan Haub wirklich wichtig , seinen ehemaligen Geschäftspartner zu erreichen. Vier Anrufe innerhalb von zwei Minuten. Der Milliardär klingelt quasi bei Suzdaltsev Sturm. Was könnte so dringend sein?

Während die junge Russin Veronika E. als Mitarbeiterin einer kleinen Eventagentur zunächst eher unscheinbar und ein wenig durchschnittlich erscheint, ist Andrej Suzdaltsev ein anderes Kaliber: Als Miteigentümer der Rosevrobank zählt er zu der obersten Liga der russischen Wirtschaft, ein Oligarch der alten Zeit. Das gemeinsame PLUS-Russland-Geschäft zwischen ihm und Haub ist jedoch zu diesem Zeitpunkt schon seit 2015 gescheitert. Warum will Karl-Erivan Haub jetzt, mehr als drei Jahre nach dem Ende der missglückten Geschäftsbeziehung, so dringend mit ihm sprechen?

Für den Tengelmann-Sicherheitschef und seinen Berater sind das zu viele Ungereimtheiten. Sie sind über die Russland-Verbindungen im zeitlichen Zusammenhang mit dem mysteriösen Verschwinden des Milliardärs höchst beunruhigt. 313 Beide Männer hatten wenige Tage zuvor noch die aufwendigste Suchaktion aller Zeiten koordiniert und dabei keinerlei Hinweise auf den Verbleib des Tengelmann-Chefs finden können. Und plötzlich tauchen in den Einzelverbindungen von Haubs iPhone Personen auf, die sein Verschwinden in ein anderes Licht rücken könnten. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Telefonkontakte beschließen die beiden daher nach Rücksprache mit der Familie, sowohl Veronika E. als auch Andrej Suzdaltsev näher zu durchleuchten. In welcher Beziehung steht der verschollene Milliardär zu den beiden?

Zu diesem Zweck engagieren sie zwei externe Privatermittler, die über Jahrzehnte hinweg beste Kontakte nach Russland aufgebaut haben: Es handelt sich dabei um den ehemaligen Stasi-Verbindungsoffizier von Wladimir Putin aus dessen Zeit als KGB-Spion in Dresden 314 und um Klaus L., einen ehemaligen Mitarbeiter des militärischen Abschirmdienstes der Bundeswehr. 315

Die beiden internen Ermittler machen eine Pause. Mit ernster Miene erklären sie meinen fassungslosen Kollegen und mir: Beide Männer seien inzwischen tot. Und aus ihrer Sicht könne ihr Tod mit den Ermittlungen in Russland zusammenhängen. 316 Die beiden externen Privatermittler hätten nämlich »viel belastendes Material« geliefert. 317

Zwei tote Spione

Meine Kollegen und ich sind schockiert. DAS ist also der Grund, warum der Krisenmanager mich mehrfach explizit gewarnt und dazu aufgefordert hatte, im Zuge unserer Recherche sehr, sehr vorsichtig zu sein. Die Personen, die bisher die ganzen Informationen mit Russland-Bezug zusammengetragen haben, sind beide nicht mehr am Leben. Putins ehemaliger Stasi-Verbindungsoffizier sei relativ plötzlich einem Krebsleiden erlegen, der ehemalige Mitarbeiter des militärischen Abschirmdiensts, Klaus L., sei an einer »plötzlichen Lungenembolie« gestorben. Während der Leiter der internen Ermittlungen uns das erzählt, habe ich das Gefühl, dass er die ärztliche Diagnose nicht glaubt. Man habe Klaus L. eine Woche vor dessen Tod noch getroffen, und zu diesem Zeitpunkt sei er absolut fit gewesen. 318

Nun steht also die Möglichkeit im Raum, dass die ganze Recherche rund um das mysteriöse Verschwinden von Karl-Erivan Haub zwei Leben gekostet haben könnte. Im Besprechungsraum herrscht zwischen meinen Kollegen und mir Stille. Dass auch wir in Gefahr sein könnten, war uns allen bis zu diesem Moment eher abstrakt erschienen. Nun fühlt es sich plötzlich sehr real und sehr nah an. Was auch immer wir in den folgenden Wochen herausfinden werden: Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, damit bestimmte Personen ordentlich zu verärgern.

Inzwischen sitzen wir seit mehreren Stunden mit den beiden internen Ermittlern zusammen. Die anfänglich etwas steife Atmosphäre hat sich ein bisschen gelockert und ich habe das Gefühl, der Leiter der internen Ermittlungen taut ein wenig auf. Zwar scheint es ihm nach wie vor nicht ganz geheuer zu sein, dass er all sein Wissen mit vier Journalisten teilen soll, aber er kommt dem Auftrag von Christian Haubs Vertrautem stoisch nach. Alle bis zu diesem Zeitpunkt vorgelegten Informationen lassen sich mit überschaubarem Aufwand überprüfen. Die Telefonliste könnte man beispielsweise einfach der Reihe nach abtelefonieren und schauen, wer sich hinter den Nummern verbirgt. Auch die Rahmendaten der Suchaktion kann man überprüfen.

Im Gespräch mit den internen Ermittlern erreichen wir nun aber einen Punkt, an dem die Quellenlage nicht mehr eindeutig ist. Zum einen sind die beiden Beschaffer der Informationen tot, zum anderen haben sie ihre Informationen laut eigener Aussage hauptsächlich aus Geheimdienstkreisen gewonnen. Wie sollen wir das überprüfen?

Die beiden internen Ermittler legen uns als Nächstes den Abschlussbericht Projekt Zermatt RU 2 vor. Er ist auf den 8. Juni 2018 datiert und als streng vertraulich eingestuft. Auf jeder der 33 Seiten wird sowohl in der Kopfzeile als auch in der Fußzeile auf die Vertraulichkeit und den Quellenschutz hingewiesen. Außerdem solle das Dokument nur »von Hand zu Hand« weitergegeben und nur intern verwendet werden. Ich vermute, damit soll verhindert werden, dass beim Auslesen der Metadaten des Dokuments Rückschlüsse auf die Verfasser gezogen werden könnten. Einmal mehr frage ich mich, warum mein Kontakt uns all diese Informationen zukommen lassen möchte. Ein Rätsel und Glücksfall zugleich.

Abschlussbericht Projekt Zermatt RU 2

Der Abschlussbericht stammt vom 8. Juni 2018 und ist damit fast auf den Tag genau zwei Monate nach dem mysteriösen Verschwinden von Karl-Erivan Haub angefertigt worden. Es ist ein Beweis dafür, dass intern bei Tengelmann offenbar schon sehr, sehr früh klar ist, dass es sich womöglich nicht um einen tragischen Unfall handeln könnte. Das Dokument trägt außerdem einen Namen, der unmissverständlich Karl-Erivan Haubs mysteriöses Verschwinden in Zermatt mit Russland in Verbindung bringt: Abschlussbericht Projekt Zermatt RU 2 . Außerdem wird als Ermittlungsziel definiert, die möglichen aktuellen Kontakte von Karl-Erivan Haub in der Russischen Föderation zu suchen. 319 Aktuelle Kontakte! Das heißt: Nur wenige Wochen nach dem Verschwinden im April 2018 gehen der Tengelmann-Sicherheitschef und sein Berater davon aus, dass Karl-Erivan Haub noch am Leben sein könnte ! Hier haben wir es erstmals schwarz auf weiß.

Doch die Ermittlungsbehörden in Deutschland oder der Schweiz wurden über diese Möglichkeit nie informiert.

Bevor der Abschlussbericht konkret wird, weisen die Verfasser auf Seite 3 auf etwas hin, was im Verlauf der Recherche noch mehrfach zur Sprache kommen wird: Die Ermittlungen in Russland werden offenbar Anfang Juni 2018 unmittelbar abgebrochen . Aus welchem Grund? Die beiden internen Ermittler erklären uns, dass zu diesem Zeitpunkt »ziemliches Chaos« innerhalb der Familie Haub geherrscht habe. 320 Nach dem plötzlichen Verschwinden des Firmenlenkers sei zunächst nicht klar gewesen, wer die Leitung bei Tengelmann übernehmen würde. Bisher lag die gesamte Macht auf der Seite der Familie des Verschollenen: Zusammen mit seinem väterlichen Berater, dem Top-Manager, leitete Karl-Erivan Haub das Unternehmen. Durch sein Verschwinden ist ein Machtvakuum entstanden und sowohl der Top-Manager als auch der jüngste Haub-Sohn Christian bringen sich für die Nachfolge in Stellung. Für die internen Ermittler, und zwar in erster Linie für den Sicherheitschef, bedeutete das, dass die Ansprechpartner in dieser Zeit nicht ganz klar sind und wechseln. 321

In der unmittelbaren Zeit nach dem Verschwinden berichtete der Leiter der Tengelmann-Unternehmenssicherheit direkt an die Familie des Verschollenen, also Katrin Haub, die Zwillinge, Helga Haub – und eben an den Top-Manager, der auch ein enger Berater der übrigen Familienmitglieder ist. Der Ermittlungsstopp sei in dieser Konstellation auf Betreiben des Top-Managers initiiert worden. 322 Er habe »Helga Haub dahingehend beeinflusst«, dass sie die Ermittlungen nicht weiter befürwortete. Offenbar sei der Tenor gegenüber der Patriarchin gewesen, dass »doch jeder eine Geliebte hat« und man »nicht alles so genau wissen« müsse. 323 Auch der Krisenmanager, der damals als Subunternehmer in den Fall miteingebunden ist, bestätigt das Erzählte. Der unmittelbare Abbruch der Russland-Ermittlungen ist für die beiden internen Ermittler so auffällig, dass der Sicherheitschef diesen Hinweis uns Journalisten gegenüber auch verschriftlicht. 324 Für mein Team und mich steht in diesem Moment außer Frage, dass wir uns den Top-Manager und Familienberater noch genauer anschauen werden. In dieser ganzen Geschichte fällt er uns nun zum zweiten Mal negativ auf: Auch der Analyst bei Alvarez & Marsal hatte in seinem Bericht auf das nicht nachvollziehbare Verhalten des Top-Managers in Bezug auf das PLUS-Russland-Geschäft hingewiesen. 325

Der abrupte Ermittlungsstopp in Russland ist vor allem deshalb sehr auffällig, weil die externen Ermittler vor Ort offenbar kurz zuvor bedroht werden. 326

Die Verfasser des Abschlussberichts schätzen die Gefährdungslage demnach so ein, dass eine potenzielle Gefahr von kriminellen Strukturen, also beispielsweise von der Organisierten Kriminalität («Russenmafia«), ausgehen könnte und eher nicht von einer offiziellen Stelle. Außerdem, und auch das ist an dieser Stelle sehr spannend, ziehen die Verfasser des Abschlussberichts offenbar einen Zusammenhang zwischen der Bedrohung ihrer Russland-Ermittlungen und dem gescheiterten PLUS- Russland-Geschäft in Betracht.

In einem ersten Schritt der Recherche lag der Fokus der Privatermittler auf der Reisetätigkeit von Karl-Erivan Haub in Russland. Zu diesem Zweck hatten sie die Nummern von zwei deutschen und einem amerikanischen Reisepass erhalten, welche innerhalb des Unternehmens und der Familie bekannt waren. 327 Doch lediglich für einen der beiden deutschen Reisepässe finden sie Hinweise in »verschiedenen russischen Speichern«. 328 Die Tengelmann-Ermittler erklären uns, dass es sich dabei vorwiegend um die Datenbanken der Grenzkontrollen handle. Die externen Privatermittler hätten über ihre Geheimdienstkontakte die Möglichkeit gehabt, Auszüge aus diesen Datenbanken zu erhalten. Man müsse sich das so vorstellen: Immer dann, wenn Karl-Erivan Haubs Reisepass bei einer Grenzkontrolle (z.B. bei der Einreise nach Russland am Flughafen) gescannt worden sei, sei dies in einer Datenbank hinterlegt worden. Auf ebenjene Datenbanken habe man mithilfe von Geheimdienstkontakten zugreifen können.

Meine Kollegen und ich sind ziemlich sprachlos. Sollte es wirklich stimmen, dass der Milliardär neben der deutschen und amerikanischen Staatsbürgerschaft auch noch die russische Staatsbürgerschaft besitzt, dann hätte er in der Tat ein ernstes Problem: Sowohl in Deutschland als auch in den USA ist es strafbar, eine weitere Staatsbürgerschaft zu haben und diese nicht anzugeben. Die Verfasser des Abschlussberichts geben an 329 , beide Pässe seien vom »Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten« ausgestellt worden, die Privatermittler hätten jedoch keinen Zugriff auf Passkopien dieser Dokumente gewinnen können. Laut den Verfassern könne man aber nachweisen, dass beide Pässe für Ein- und Ausreisen in die Russische Föderation sowie innerhalb des Landes genutzt worden seien. Die Privatermittler halten es auch für bedeutsam, dass beide Pässe mit der Nummer 52 beginnen, was aus ihrer Sicht darauf hindeute, dass sie durch russische Konsulatsabteilungen in Moldawien, Prednistrow oder Abchasien ausgestellt worden seien 330 . Die Privatermittler gewannen über ihre Kontakte valide Informationen über verschiedene Reisen von Karl-Erivan Haub in Russland, Weißrussland, Albanien und Aserbaidschan.

Was wollte der Milliardär an diesen Orten? Und reiste er allein? Ich stelle diese Frage dem Tengelmann-Sicherheitschef und seinem Berater. Die Antwort: Karl-Erivan Haub habe in Albanien »bestimmt nicht nach dem nächsten OBI-Standort gesucht«. 331 Einmal mehr betont der Leiter der internen Ermittlungen das extreme Sicherheitsbedürfnis des Verschollenen. Die Russland-Reisen seien im Unternehmen nicht bekannt gewesen und von Haub ohne Personenschutz angetreten worden.

Für den Leiter der internen Ermittlungen, der Karl-Erivan Haub seit vielen Jahren kennt, sind alle diese Reisen für eine Person mit dem Profil des verschollenen Milliardärs ohne Personenschutz generell nicht nachvollziehbar. 332 Aufgrund der gestoppten Ermittlungen seien aber die übrigen Unterlagen nicht mehr übersetzt und ausgewertet worden. Laut dem Abschlussbericht beginnen die Reisen nach Russland um das Jahr 2009 herum. Im Verlauf der späteren Recherche werden Sergej und ich noch weitere (frühere) Reisen finden, die den Privatermittlern offenbar nicht aufgefallen sind oder auf die ihre Quellen vor Ort nicht zugreifen konnten. Auffällig ist, dass die Reisen nach Russland allesamt meistens nur sehr kurz gewesen zu sein scheinen. Meistens dauerten sie nicht länger als ein bis zwei Tage. Auch die Ziele scheinen auf den ersten Blick überraschend: Moskau und St. Petersburg lassen sich unter geschäftlichen Gesichtspunkten gut nachvollziehen, schließlich sind es die größten Handelszentren Russlands. Aber was für einen Zweck könnte ein Kurztrip nach Omsk, Krasnodar, Saratow, Baku oder Tirana haben? Für ein bis zwei Tage? Eine Reise mit der Geliebten stelle ich mir persönlich anders vor: Man würde doch versuchen, etwas mehr Zeit miteinander zu verbringen, und müsste dafür auch nicht unbedingt an nichtssagende, weit entfernte Orte fliegen. Oder? Für mich fühlt sich das eher nach (geschäftlichen) Terminen an. Aber warum wusste dann niemand davon? Die internen Ermittler haben auf diese Frage keine Antwort und auch die Privatermittler liefern keine Erklärung zu den Reisezielen.

Laut den Unterlagen ist Veronika E. 1979 geboren und damit 19 Jahre jünger als der verschollene Milliardär. Als Meldeadresse dient offenbar die Wohnung ihrer Mutter und ihres Stiefvaters in einem sehr bescheidenen Außenbezirk von St. Petersburg. Laut dem Abschlussbericht habe eine Vor-Ort-Begehung ergeben, dass diese Meldeadresse wohl strategisch gewählt wurde: Die junge Frau wohne offenbar nicht wirklich in der 53-Quadratmeterwohnung. 333 Auf den nächsten vier Seiten folgen Fotos von Veronika E.s Meldeadresse; es handelt sich zugegebenermaßen um eine wirklich einfache, fast ärmliche Gegend mit heruntergekommenen Plattenbauten.

Ich versuche mir vorzustellen, unter welchen Umständen sich die Lebenswege dieser Frau aus einfachen Verhältnissen mit dem glamourösen Leben des deutschen Milliardärs gekreuzt haben mögen. Laut den Aufzeichnungen der Privatermittler verbrachte Veronika E. ihre gesamte Kindheit und Jugend in St. Petersburg. 334 Nach dem Abschluss des Gymnasiums besuchte sie anschließend eine der besten Universitäten des Landes, die staatliche Universität St. Petersburg. Einen Hinweis zu ihrem Studienfach findet sich nicht. Nach ihrem Abschluss im Jahr 2002 weist ihr Lebenslauf eine Lücke von fünf Jahren auf. Was ist zwischen 2002 und 2007 geschehen? Legte sie in diesen Jahren den Grundstein für ihre spätere Selbstständigkeit als Inhaberin einer Werbeagentur, die sie offiziell ab 2007 besitzt?

Im Verlauf der weiteren Recherche werden Sergej und ich herausfinden, dass die junge Frau in dieser gesamten Zeit äußerst aktiv innerhalb von Russland gereist ist – und dass ihre Reiseziele nur schwer mit ihrer offiziellen Tätigkeit und dem daraus resultierenden Einkommen zu erklären sein werden. Die Werbeagentur wird den Unterlagen zufolge dann 2014 auch wieder abgemeldet. 335 Aktuell arbeitet Veronika E. bei der uns bekannten Eventagentur Russian Event. 336

Die Beschreibung über Russian Event aus dem Abschlussbericht entspricht ziemlich genau auch meinem Bild von der Agentur, das ich mir durch eine eigene Recherche in den Tagen vor dem Termin gemacht hatte. Neu ist allerdings, dass die kleine Firma offenbar »ausschließlich ausländische Firmenkunden« betreut. Wäre es nicht im Sinne der Umsatzsteigerung, jeden Auftrag anzunehmen, egal ob aus dem In- oder Ausland? Und warum bietet eine Eventagentur an, Kontakte zu »ehemaligen hochrangigen KGB-Mitarbeitern«, also Ex-Geheimdienstlern, herzustellen? 337

Tatsächlich gewinnen meine Kollegen und ich den Eindruck, dass Russian Event auf ziemlich plumpe Art und Weise versucht, die Fassade einer Eventagentur aufrechtzuerhalten. Doch was verbirgt sich wirklich hinter dieser Firma? Es gibt kein Impressum, keine genaue Anschrift. Aber die Verfasser des Berichts fanden über ihre Kontakte schließlich die Adresse heraus: 338 Zwar ist die Büroanschrift auf den ersten Blick sehr repräsentativ, doch das Büro ist nicht im Vorderhaus, sondern befindet sich ganz versteckt ohne Türschild im Hinterhaus. Russian Event erweckt nicht den Eindruck, »gefunden« werden zu wollen. 339 Fast scheint es so, als funktioniere das Geschäftsmodell der Eventagentur ausschließlich über Mund-zu-Mund-Propaganda, als könnten Russian Event nur jene finden, die wissen, dass es die kleine Firma überhaupt gibt. Den Privatermittlern gelingt es, die Räumlichkeiten unter einem Vorwand zu betreten. Veronika E. ist zu diesem Zeitpunkt nicht im Büro anwesend.

Die externen Ermittler erklären der verdutzten Mitarbeiterin Frau A., eine »Privatperson aus Berlin« habe die Agentur unter Nennung der Adresse »empfohlen«. 340 Offenbar, so vermittelt es der Abschlussbericht, sei es der Mitarbeiterin sehr suspekt vorgekommen, dass potenzielle Kunden plötzlich in den Räumlichkeiten von Russian Event stehen. Auch bestand offensichtlich kein Interesse, bei »Individualtourismus« und »Visabeschaffung« tätig zu werden – obwohl diese Dienstleistungen auf der Website explizit angeboten werden. 341 Während wir den Abschlussbericht durchgehen, frage ich mich, wie sich die externen Ermittler vor Ort in diesem Moment gefühlt haben mögen? Hatten sie Angst, enttarnt zu werden? Der Abschlussbericht liefert dazu einen Hinweis: Die Ermittlungen vor Ort seien aufgefallen. 342 Aber wem?

Interessant ist auch, was die Verfasser des Abschlussberichts über die Finanzen von Russian Event herausfinden: Der kleinen Firma geht es offenbar blendend, und das, obwohl nicht ganz klar ist, wie sie ihr Geld verdient. Und auch rund um die Person Veronika E. gibt es einige »Besonderheiten«: 343 Auf den folgenden Seiten erläutern die Verfasser des Berichts, welche Informationen sie über die wirklichen Besitzverhältnisse der jungen Russin herausfinden konnten, unter anderem Autos und eine schicke Eigentumswohnung. 344

Im Vergleich zu der offiziellen Meldeadresse, der Wohnung der Eltern, ist diese Adresse deutlich repräsentativer. Doch wer bezahlt die große Wohnung im Herzen St. Petersburgs? Laut den Unterlagen verdient die junge Frau monatlich nur knapp 900 Euro. Woher hat sie das Geld für eine Eigentumswohnung? Und wo wohnt sie wirklich? Ein Ortsbesuch der externen Ermittler ergibt, dass auch diese Adresse nicht die echte Wohnadresse zu sein scheint. Auch das auf sie zugelassene Fahrzeug überrascht, denn die junge Frau fährt zu diesem Zeitpunkt einen Luxus-SUV der Marke Land Rover und war auch in der Vergangenheit in der Lage, mehrere Neuwagen zu erwerben. 345 Sergej und ich werden später herausfinden, dass diese Angaben alle stimmen.

Ich blättere gebannt durch den Bericht: Die Auswertung der Social-Media-Profile zeigt eindeutig, dass die Russin gerne und viel reist sowie aufwendigen Hobbys nachgeht: Sie unternimmt Fernreisen, oft verbunden mit sportlichen Outdoor-Aktivitäten. Veronika E. wandert gerne oder klettert im Gebirge, außerdem macht sie gerne Skitouren. Auf einem Bild sieht man sie neben einem Gipfelkreuz, auf dem ein Sticker des Deutschen Alpenvereins (DAV) aufgeklebt ist. Auf allen Fotos trägt die junge Frau hochwertige Sportkleidung namhafter Marken. 346

Wie kommt die Russin aus einfachen Verhältnissen zu diesen teuren, aufwendigen Hobbys? Ich betrachte die Bilder, die wir inzwischen von Veronika E. haben: Sie zeigen eine wahnsinnig sportliche Frau, die nicht nur ein bisschen joggen geht, sondern einen Marathon läuft. Die nicht nur ein wenig spazieren geht, sondern im Gebirge klettert. Das ist die eine Veronika. Gleichzeitig gibt es Bilder von ihr, wie sie schick hergerichtet in einem Opernhaus auf einem roten Teppich steht, adrett gekleidet einen Hund kuschelt. Sie wirkt gut situiert, als ob sie die finanzielle Möglichkeit hätte, ein kulturell vielfältiges Leben zu führen. Das ist die zweite Veronika. Dann gibt es aber auch die Bilder der schmächtigen Büroangestellten, auf denen sie ein wenig wirkt wie eine graue Maus. Das ist die dritte Veronika. Es fällt mir schwer, es in Worte zu fassen, aber für mich fühlt sich das alles nicht stimmig an. Obwohl wir inzwischen so viele Fotos von der jungen Frau haben, gewinne ich doch keinen echten Eindruck, wer diese Person ist.

Es gibt heftige Widersprüche zwischen ihrem Einkommen, ihren Besitzverhältnissen und ihren Freizeitaktivitäten. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die junge Frau eine Geldquelle außerhalb ihres normalen Einkommens hat. Könnte es sein, dass der deutsche Milliardär Karl-Erivan Haub sie »sponsert«? Oder verfügt sie über einen anderen Job, der deutlich lukrativer ist als ihre Tätigkeit in der Eventagentur? Dient die Arbeit dort vielleicht nur als Tarnung ? Auffällig ist, dass Veronika so gut wie keine Einblicke in ihr Privatleben oder ihren Freundeskreis zulässt. Nur in den seltensten Fällen sieht man sie auf den Fotos neben anderen Menschen. Auch Kommentare auf Social Media findet man unter den Bildern nicht. 347 Die Frau, die der verschollene Milliardär in den Wochen vor seinem Verschwinden häufiger angerufen hat als seine eigene Ehefrau, ist ein Mysterium. Ich will unbedingt mehr über sie erfahren. Doch gerade als die Privatermittler in Russland begannen, mehr über die junge Frau herauszufinden, wurden die Ermittlungen offenbar auf Bitten der Familie zum ersten Mal eingestellt: 348 349

Zu diesem Zeitpunkt, so erzählt uns der Leiter der internen Ermittlungen, zieht er erstmals in Erwägung, dass die Beziehung zwischen dem verschollenen Milliardär Karl-Erivan Haub und der jungen Russin mit dessen Verschwinden zu tun haben könnte. 350 Ob es sich dabei aber um eine Liebschaft oder eine Beziehung eher geschäftlicher Natur handelt, lässt er offen. Weder für das eine, noch für das andere gibt es zu diesem Zeitpunkt stichhaltige Beweise. Die beiden Tengelmann-Ermittler befürworten es daher stark, die Ermittlungen vor Ort in Russland wieder aufzunehmen . Sie können auch die Familie davon überzeugen.

Die Ergebnisse dieser zweiten Russland-Ermittlung sind im Bericht Zermatt 3 / RU zusammengefasst. Er ist auf den 19. Juni 2018 datiert und umfasst 17 Seiten.

Abschlussbericht Zermatt 3 / RU

Die Wiederaufnahme der plötzlich unterbrochenen ersten Russland-Ermittlung sorgt für Probleme bei den Privatermittlern. Die Erde bei den russischen Kontakten ist erst mal verbrannt. Der Tengelmann-Sicherheitschef erklärt mir, dass die deutschen Privatermittler vor Ort mit ihren russischen »Partnern« zusammengearbeitet hätten – und diese durch den plötzlichen Ermittlungsstopp verunsichert gewesen seien. Das »Anzapfen« behördlicher Speicher (Datenbank der Passkontrolle, Verkehrsüberwachung etc.) sei immer auch mit einem persönlichen Risiko für den, der es mache, verbunden. Sie müssen daher die Russen erst wieder davon überzeugen, erneut loszulegen. Außerdem gibt es wohl auch dieses Mal Drohungen gegen die privaten Ermittler: Bis dahin in Auftrag gegebene Informationsbeschaffungen mussten zurückgezogen werden. 351

Doch die Ermittler vor Ort konnten dennoch einige Informationen über die Russin zusammentragen. Auf ihr liegt nun ganz klar der Fokus der Recherche: Vor mir liegen Auswertungen von Verkehrskameras und Schnappschüsse, die während einer Beschattung der jungen Frau in Moskau aufgenommen wurden. Eine »Dokumentation der Bewegungsabläufe« mit einer »Fotodokumentation« und mögliche Kontakte von ihr – mit dem Fokus auf einer potenziellen »männlichen Begleitung«. 352 Ganz klar: Die russischen Ermittler suchen, nach Auftrag durch die Tengelmann-Ermittler, eine »männliche Begleitung« von Veronika E. Und natürlich, so erzählt es uns der Leiter der internen Ermittlungen, suchen sie nicht irgendwen, sondern Karl-Erivan Haub.

Den Privatermittlern, also dem ehemaligen Stasi-Verbindungsoffizier von Wladimir Putin sowie dem Ex-MAD-Mitarbeiter Klaus L., gelingt es, die beiden russischen Telefonnummern zweifelsfrei Veronika E. zuzuordnen, und sie vermuten, dass innerhalb des sehr langen Gesprächs am Vorabend des Verschwindens zunächst der Handyakku der jungen Frau aufgab und Karl-Erivan Haub deshalb sofort ihre zweite, ihm bekannte Nummer wählte. 353 Außerdem gelingt es den Privatermittlern zusammen mit ihren russischen Kontakten, die echte Wohnanschrift der jungen Frau in Moskau zu ermitteln: Es ist ein modernes Wohnhochhaus namens Mosfilmowski . Laut den Verfassern zeichne sich dieser Komplex »durch einen hohen Wohnstandard, hohe Mieten und einen sehr hohen Sicherheitsstandard aus«, unter anderem sei das gesamte Gebäude umzäunt und die Zufahrten mit Schlagbäumen versperrt. Man habe die junge Frau mehrfach beim Betreten des Blocks registriert, habe aber nicht versucht, hineinzukommen, um die »Ermittlungssicherheit nicht zu gefährden«. 354

Gedanklich versuche ich mich drei Jahre zurückzuversetzen: Gerade erst ist der Lenker eines Milliarden-Unternehmens auf mysteriöse Art und Weise in Zermatt verschwunden und kurze Zeit später wird eine junge Russin im Auftrag der konzerneigenen Sicherheitsleute in Moskau beschattet. Für mich wäre spätestens das der Zeitpunkt, um die deutschen Ermittlungsbehörden zu informieren und um Unterstützung zu bitten.

Offensichtlich geht rund um das mysteriöse Verschwinden des Milliardärs etwas nicht mit rechten Dingen zu. Dennoch informieren weder Tengelmann noch die Familie Haub die Behörden. Man habe das Problem »intern« klären wollen, berichtet der Tengelmann-Sicherheitschef über die damals an ihn gerichteten Anweisungen. Der schöne Schein, so meine Interpretation, soll nach außen gewahrt werden. Und schlimmer noch: Auch diese zweite Observierung wird nach nur sieben Tagen wieder unvermittelt auf Drängen der Familie eingestellt.

Ich finde das deshalb besonders bemerkenswert, da die Privatermittler in Russland eine seltsame Beobachtung machen: Auf der Suche nach der Arbeitsstätte der jungen Frau entdecken sie, dass sie sich regelmäßig in einem Gebäude im Stadtzentrum aufhält. 355 Das Russische Forschungszentrum für Rehabilitation und Erholung ist mit dem angrenzenden Marriott Hotel durch einen Zugang verbunden. Man könne daher unbemerkt von einem Gebäude ins andere wechseln, so die Vermutung. Veronika E. wird dabei beobachtet, wie sie mal in den einen Gebäudeteil und mal in den anderen geht. 356 Der Leiter der internen Ermittlungen nennt das ganze Gebäude schlicht »Schönheitsklinik«. Ich traue meinen Ohren kaum, als er spekuliert, ob Karl-Erivan Haub möglicherweise in dieser »Schönheitsklinik« 357 behandelt wurde. Ob er vielleicht kosmetische Eingriffe vornehmen ließ, um sein Äußeres zu verändern? Oder ob er eventuell rund um die Geschehnisse in Zermatt verletzt worden war und sich nun an diesem Ort erholte?

Meine Kollegen und ich sind wie erstarrt: Die beiden Männer reden über diese (aus meiner Sicht) völlig abwegigen Möglichkeiten mit einer absoluten Ernsthaftigkeit. Sie ziehen diese Varianten auch knapp drei Jahre nach dem Verschwinden wirklich in Betracht! In meiner Wahrnehmung sind sich die beiden darüber einig, dass Karl-Erivan Haubs Verschwinden im Zusammenhang mit Russland stehen muss und dass Veronika E. dabei eine Schlüsselfigur ist. 358 Wir Journalisten fühlen uns von diesen Mutmaßungen mehr oder weniger wie erschlagen. Für uns ist das alles neu und unglaublich schwer vorstellbar. Die beiden Tengelmann-Ermittler beschäftigen sich jedoch mit der ganzen Geschichte zu diesem Zeitpunkt seit fast drei Jahren! Sie haben jede Information aus allen Blickwinkeln betrachtet. Haben Erkenntnisse dazu gewonnen, von denen wir im Moment noch nichts wissen. Für sie scheint es eine reale Möglichkeit zu sein: Das Verschwinden von Karl-Erivan Haub in Zermatt ist kein Zufall.

Neben der jungen Frau sind aber auch die russischen Geschäftspartner hoch problematisch. 359 Andrej Suzdaltsev wird deshalb von den Privatermittlern ebenfalls durchleuchtet. Der Oligarch kommt dem Bericht zufolge aus relativ guten Verhältnissen, sein Vater ist ein Kinderarzt aus Moskau, seine Mutter arbeitet an der Finanzuniversität. Anfang der 1990er-Jahre schließt der junge Mann sein Studium am Moskauer Institut für Physik und Technologie ab und beginnt dann, Geschäfte zu machen. 360

Seine Geschäftspartner sind in diesem Zusammenhang seit knapp 25 bis 30 Jahren Sergej Grishin und Ilja Brodski. 361 Dieser lange Zeitraum lässt darauf schließen, dass die drei ein eingespieltes Team sind, das sich vertraut. Zusammen mit Grishin, der ebenfalls gelernter Physiker ist, gründet Suzdaltsev zunächst Firmen, die auf den Handel mit Computern und Elektronik spezialisiert sind. Später kommen weitere Bereiche hinzu, darunter Projekte im Bauwesen, Projektentwicklung, Gaststättenwesen und Gastronomie, Logistik und viele mehr. Auch mehrere Security-Firmen werden gegründet. Eine unter russischen Geschäftsleuten beliebte Möglichkeit, um im eigenen Umfeld legal an Waffen heranzukommen oder sie zu tragen. Die beiden Russen scheinen ein Gespür dafür zu entwickeln, wie man Steuern »sparen« kann: Sie gründen mehrere Offshore-Firmen, vermutlich um Geld beiseite zu schaffen. Sergej und ich werden bei unserer späteren Recherche eine Vielzahl von eigenen Belegen finden, die diese These stützen.

Für die journalistische Arbeit ist es wichtig, immer mehrere, voneinander unabhängige Quellen miteinander vergleichen zu können. Die Tatsache, dass alle drei russischen Geschäftspartner auch im Bericht von Alvarez & Marsal 362 auftauchen und ihre zweifelhafte Rolle als Geschäftspartner für das PLUS-Russland-Geschäft infrage gestellt wird, ist daher sehr wichtig. Der A&M- Bericht ist zwei Jahre älter als die geheimen Abschlussberichte der Privatermittler und greift auf völlig andere Quellen zurück – nämlich auf interne Dokumente und Gespräche mit Tengelmann-Mitarbeitern, und nicht auf russische Geheimdienstquellen.

Voller Spannung lese ich, dass ausgerechnet diese dubiosen Geschäftspartner 1996 Anteile einer Bank übernehmen, die namenstechnisch in direkter Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst KGB gesehen werden kann: die Ljubljanka Bank: 363 In Moskau kennt den Namen Ljubljanka quasi jedes Kind, denn es ist der inoffizielle Name eines am gleichnamigen Platz in Moskau gelegenen Gebäudes, in dem bis 1991 das Hauptquartier des KGB war und das heute den russischen Inlandsgeheimdienst FSB beherbergt. 364 Kurz vor der Jahrtausendwende wird die Ljubljanka Bank dann umbenannt, und zwar in Roseuro Bank. 365

Ich werde hellhörig: Auch die Roseuro Bank kennen wir schon aus dem Bericht von Alvarez & Marsal: 366 Dort heißt sie zwar Rosevrobank, aber das ist lediglich eine andere Schreibweise des kyrillischen Worts Росевробанк. Und die Rosevrobank ist, wie wir inzwischen auch durch unsere eigenen Recherchen wissen, in den gigantischen Geldwäscheskandal rund um den Russischen Waschsalon (vgl. Kapitel 5) beziehungsweise das sogenannte Moldawische Schema verwickelt. 367

Aus der Telefonliste, die uns die beiden internen Ermittler ja kurz zuvor gegeben hatten, geht wiederum hervor, dass Suzdaltsev neben seiner Moskauer Adresse offenbar noch einen Wohnsitz am Genfer See 368 hat. Diese Gegend ist bei einer Vielzahl von Oligarchen, hochrangigen Politikern, sonstigen Entscheidungsträgern aus den ehemaligen Sowjetstaaten und deren Kindern als (offizieller) Wohnsitz sehr beliebt. 369 Die Privatermittler entdecken diesen Zusammenhang ebenfalls: 370 Die Geschäftspartner von Karl-Erivan Haub sind Anteilseigner an der »kriminellsten Bank Russlands«. 371

Meine Kollegen und ich müssen das erst mal sacken lassen. Ist es vorstellbar, dass Karl-Erivan Haub (und das ihn umgebende Management bei Tengelmann) diese Zusammenhänge nicht gesehen hat? Drei verschiedene Quellen, nämlich der Sachbearbeiter von Alvarez & Marsal , die Verfasser des Berichts Zermatt 3 / RU und nicht zuletzt mein Kollege Sergej und ich, kommen alle innerhalb einer relativ kurzen Recherche auf den gleichen Schluss: Suzdaltsev, Grishin und Brodsky sind als Geschäftspartner hochproblematisch! Warum hat Karl-Erivan Haub sie dann gewählt? Und was wollte er am 11. März 2018 so dringend von Andrej Suzdaltsev? Warum rief er ihn innerhalb von zwei Minuten vier Mal an? 372 Der Oligarch ist wie ein Phantom. Es gibt kein einziges Foto von ihm.

Was als Vermisstenfall in den Zermatter Alpen begann, entwickelt sich vor unseren Augen gerade zu einem Spionagethriller mit kriminellen Akteuren, unfassbar viel Geld und einem großen Geldwäscheskandal. Aber wie passt der Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub in dieses Szenario?

Die beiden Berichte Zermatt 2 und Zermatt 3 bieten eine Fülle an Anhaltspunkten, um sie einer objektiven Tatsachenüberprüfung zu unterziehen. Daher steht außer Frage, dass Sergej und ich jedes Detail auf seinen Wahrheitsgehalt untersuchen werden. Und es gibt noch einen weiteren Anhaltspunkt: Inzwischen hat mir Christian Haubs Vertrauter das Passwort für das Dossier über den ehemaligen Top-Manager doch zukommen lassen: XX$2020!x%9. Nun bekommen wir endlich Einblick in das Dokument. Und was soll ich sagen: Die ganze Geschichte wird noch wilder.

Das Dossier

Im Verlauf der Recherche sind wir nun mehrfach über den Namen dieses ehemaligen, hochrangigen Mitarbeiters gestolpert 373 und diese Auffälligkeiten sind offenbar auch der Grund, warum der Sicherheitschef von Tengelmann in seiner zusätzlichen Funktion als Leiter der internen Ermittlungen zusammen mit dem Krisenmanager beschließt, den Mann einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Der Familienstamm des heutigen Firmenlenkers Christian Haub ist über den Vorgang informiert.

Das Dossier über ihn ist eine Zusammenfassung der »Ermittlungsergebnisse aus den Jahren 2018 bis 12/2019«. Der Mann ist inzwischen in einem fortgeschrittenen Alter. Seine besten beruflichen Jahre verbrachte er in sehr verantwortungsvollen Positionen verschiedener deutscher Unternehmen. 374

Außerdem sei er aufgrund seiner Tätigkeiten in zahlreichen Aufsichtsräten seit den 1990er-Jahren bestens vernetzt und trete als Sanierer zahlreicher renommierter Handelsfirmen in Erscheinung. 375 376 Auch politisch sei der ehemalige hochrangige Manager bis in die höchsten Ebenen der deutschen und russischen Wirtschaft vernetzt. 377 Privat ist er lange Zeit mit einer weitaus jüngeren Russin liiert, mit der er auch drei Kinder hat. Seit Juli 2018 ist er von ihr geschieden. Offenbar hat er seine Ex-Frau über viele Jahre hinweg in viele seiner geschäftlichen Unternehmungen miteinbezogen. 378

Die junge Frau wird beispielsweise als Geschäftsführerin einer Firma geführt, die sich laut den Akten um die Beratung, Projektentwicklung und das Projektmanagement, die Errichtung und den Betrieb von Müllentsorgungsanlagen kümmert. 379 380 Das ist umso erstaunlicher, als die Ex-Frau mir gegenüber schriftlich erklären wird, sie habe als »Mutter von drei Kindern«, die »seit Jahren Hausfrau« sei, »nie mit solchen Sachen zu tun gehabt.« 381 Das Einzige, was sie »gewissenhaft und ehrenamtlich gemacht habe«, sei, eine gemeinnützige Schul GmbH zu führen. Doch aus der Firma wurde sie »rausgeschmissen«, weil sie laut eigener Aussage »zu viel wusste, als die Scheidung 2016/2017 losging«. 382 Offenbar ist der darauffolgende Scheidungskrieg ziemlich schmutzig, das geht sowohl aus Nachrichten der Ex-Frau hervor als auch aus dem Dossier über den Mann. 383

Die Privatermittler entdecken außerdem diverse Konten des ehemaligen Top-Managers in Russland sowie in der Schweiz. 384 Der Bericht gibt auch Einblicke in die finanzielle Situation des Mannes, der offenbar trotz seiner zahlreichen hoch dotierten Jobs in der Vergangenheit zumindest offiziell über kein großes Vermögen verfügt. 385 Auch seine Russland-Kontakte lassen hellhörig werden: Dem Dossier zufolge kennt er den Oligarchensohn Rustam Aksenenko seit Anfang der 2000er Jahre. 386 Rustam Aksenenko ist der Sohn eines früheren russischen Vize-Premiers und Bahnministers unter Boris Jelzin. Über eine Schweizer Investmentfirma gehört ihm mehr als ein Viertel der Escada-Anteile. Doch offenbar kam es zwischen dem Tengelmann-Top-Manager und dem jungen Russen zu einem Zerwürfnis, Aksenenko fühlte sich von ihm hintergangen und erklärte den deutschen Manager gar zum »Feindbild«. 387

Mehrfach stand Aksenenko aufgrund der »intransparenten Finanzen und unklaren Herkunft des Vermögens« 388 unter dem Verdacht der Geldwäsche, jedoch konnte ihm nie etwas konkret nachgewiesen werden. Als weitere Kontakte nach Russland werden unter anderem Igor Sossin und Sergej Grishin genannt. Außerdem – und das ist wirklich überraschend: einer der höchsten Geistlichen der russisch-orthodoxen Kirche. Kann das stimmen? 389 Bei Sergej Grishin handelt es sich wenig überraschend um den uns bereits aus mehreren Berichten 390 bekannten dubiosen Geschäftspartner von Karl-Erivan Haub. Und auch Igor Sossin ist eine interessante Personalie: Der Milliardär besitzt bis 2016 in Russland 49 Prozent der Anteile an der Baumarktkette, 391 die übrigen 51 Prozent werden vom Mutterkonzern Tengelmann gehalten. 2020 stirbt Sossin urplötzlich mit nur 53 Jahren – möglicherweise an einem Herzinfarkt, doch so genau wird das nie untersucht. 392 393 394

Der ehemalige Top-Manager selbst ist laut dem Bericht in mehrere Geschäfte in Russland involviert. 395 Außerdem, so erfahren wir, sei er wohl aufgrund seiner Geschäfte abseits seiner Führungsfunktion bei Tengelmann einmal Anfang der 2000er-Jahre während des kostspieligen Verkaufs der PLUS-Supermärkte mit der Familie Haub in einen Konflikt geraten. Über eine uns bekannte Firma flossen mehrere hundert Millionen Euro in die Tengelmann-Kassen. 396 Doch dann kommt heraus, dass der Top-Manager indirekt an der Firma beteiligt ist. 397

So langsam ist mir ganz schwindelig und ich muss in dem Besprechungszimmer in Ratingen erst mal die Fenster öffnen. Für die internen Ermittler, die sich seit Jahren mit nichts anderem beschäftigen, gehört all das Erzählte zu ihrem Alltag, sie sind damit vertraut. Aber für meine Kollegen und mich ist das alles mental kaum zu verarbeiten. Hinter jeder der analysierten Personen verbirgt sich eine Fülle an Hinweisen und Auskünften, die zu Ungereimtheiten oder gar zweifelhaften und kriminellen Verhalten führen. Wir sitzen nun seit mehreren Stunden zusammen und ich fühle mich vollkommen erschöpft.

Die ganze Geschichte ist höchst mysteriös: Vom Gefühl her kann da etwas nicht stimmen. Die möglichen Verbindungen zu kriminellen russischen Strukturen sind in dieser Häufigkeit doch außergewöhnlich. Jedenfalls ist das in diesem Moment mein starkes Empfinden. Der größte Teil der vorliegenden Informationen ist »durch nachrichtendienstliche Mittel gewonnen« und sei daher »nur bedingt gerichtsverwertbar«. 398 Für uns wird es daher eine riesige Aufgabe werden, diese Aussagen durch eine eigene Recherche zu überprüfen.

FBI und CIA in der Schweiz

Alles, was die internen Ermittler uns erzählen, sauge ich auf wie ein Schwamm. Ich beobachte, wie die beiden Männer im Verlauf der Stunden uns gegenüber immer entspannter werden. Der persönliche Kontakt tut uns allen gut: ihnen, da sie nun ein wenig einschätzen können, wem sie da gerade auf Wunsch der Tengelmann-Führung und Christian Haubs Vertrautem diese hochbelastenden Informationen anvertrauen, und uns, damit wir verstehen, aus was für Quellen die beiden ihre Informationen haben. Bevor sich unser Treffen nun langsam dem Ende zuneigt, möchte ich unbedingt noch mal auf das Treffen mit den beiden amerikanischen Nachrichtendiensten FBI und CIA eingehen. Noch ist mir nicht ganz klar, wie es dazu überhaupt gekommen ist. Für mich enthält dieser Punkt eine ganz besondere Brisanz: Sollten Karl-Erivan Haubs zweifelhafte Kontakte nach Russland für die amerikanischen Dienste ein Problem darstellen, so ließe das darauf schließen, dass sie über den Milliardär mehr wissen als bisher angenommen. Ich bitte daher die beiden internen Tengelmann-Ermittler, uns nochmal alle Details rund um das Auftauchen von FBI und CIA genau zu beschreiben.

Zunächst, so berichtet der Leiter der internen Ermittlungen, sei man im Rahmen des Vermisstenfalls mit dem amerikanischen Konsulat in Frankfurt in Kontakt getreten. Man habe gehofft, dass die Amerikaner die Suche mit eigenen, teils militärischen Mitteln unterstützen könnten. Über das Konsulat in Frankfurt sei dann der Kontakt zur amerikanischen Botschaft in Bern hergestellt worden. Dort sei es dann nach dem Ende der Suchmaßnahmen zu einem Treffen mit dem Krisenmanager und den Amerikanern gekommen: Sein Partner, so der Tengelmann-Sicherheitschef, habe dann jedoch »wie bei einem Verhöhr« sieben Personen gegenübergesessen: Vertretern des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA, des amerikanischen Inlandsgeheimdienstes FBI, der Schweizer Kontaktperson zur CIA und dem Generalkonsul. Die Männer hätten dem Tengelmann-Berater erklärt, dass man keine weiteren Suchmaßnahmen einleiten wolle. Während des Gesprächs sei er quasi »ausgefragt« worden. Das ganze Treffen habe darauf abgezielt »seine internen Kenntnisse« abzugreifen.

Dieses besondere Interesse an Karl-Erivan Haub, so der Leiter der internen Ermittlungen, gehe deutlich über das normale Interesse bei einem Vermisstenfall eines amerikanischen Staatsbürgers hinaus. Die »Mühe« würde man sich sonst in dem Maße gar nicht machen. Auffällig sei vor allem, dass die CIA- und FBI-Agenten zwar zunächst jegliche Unterstützung bei der Suche ablehnen – dann aber doch nach Zermatt reisen, um dort mit der Kriminalpolizei, der Kantonspolizei und dem Rettungschef zu sprechen. Warum diese Heimlichtuerei?

Der Leiter der internen Ermittlungen vermutet, dass die amerikanischen Dienste Karl-Erivan Haub möglicherweise wegen »Spionage für Russland« auf dem Schirm gehabt haben könnten. Er habe ein halbes Jahr zuvor auf Karl-Erivan Haubs Wunsch sämtliche Technik sowie das ganze Haus und das Büro absuchen lassen, um mögliche Abhörmittel zu entdecken. Damals habe er das mit der »Paranoia von Haub in puncto Sicherheit« in Verbindung gebracht, nun sehe er diesen Vorgang aber in einem anderen Licht.

Inzwischen ist es bei unserem Treffen am 16. Februar 2021 in Ratingen Abend geworden. Der Berg an Brötchen ist nach so vielen Stunden des Zusammensitzens deutlich kleiner geworden und ein Kuchen, den uns die Haushälterin in der Kaffeepause gebracht hat, ist fast aufgegessen. Wir kommen zum Ende des Termins – und damit zum eigentlich wichtigsten Teil des Tages: zum aktuellen Stand der Ermittlungsergebnisse .

Verbindungen nach Russland und Stand der internen Ermittlungsergebnisse

Der Sicherheitschef von Tengelmann geht fest davon aus, dass die vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere die Auffälligkeiten rund um das Verschwinden am Berg und die später ermittelten Kontakte nach Russland, nur den Rückschluss zulassen könnten, dass Karl-Erivan Haub keinen Unfall hatte, sondern mithilfe des russischen Geheimdienstes FSB in Russland untergetaucht sei. 399 400

Innerhalb der Familie, so betont es der Leiter der internen Ermittlungen, gebe es bereits eine »auffällige Häufung zu kriminellen Strukturen in Russland«: 401 Da wären der verschollene Firmenlenker Karl-Erivan Haub selbst, mit seinen Kontakten zu den dubiosen Geschäftsmännern Sergej Grishin, Andrej Suzdaltsev, Ilya Brodski und zu der jungen Russin Veronika, und außerdem Haubs ehemalig engster Berater, zu dem er ein fast väterliches Verhältnis gehabt haben soll, der über hochrangige Kontakte in die russische Politik, Wirtschaft und deren »Schattenwelt« 402 verfüge. Und dann sei da ja noch Georg Haub, dessen enger Berater, der dubiose Banker Cortes, in »erschreckendem Maße« 403 im Umfeld der russischen Organisierten Kriminalität mit Verbindungen zu Drogengeschäften und Geldwäsche auftauche. 404 405

Wie zum Beweis öffnet der Tengelmann-Sicherheitschef auf seinem Laptop eine Datei und projiziert ein verworrenes Verbindungsgeflecht an die Wand: das Chart Francisco Guadamillas Cortes 406 . Das Dokument sieht aus wie ein Spinnennetz, in dessen Zentrum der zweifelhafte Banker angesiedelt ist. Um ihn herum sind mit vielen Querverbindungen seine Kontakte und Geschäftsbeziehungen angeordnet. Kurz gesagt: Das Chart zeigt, in welchem Umfeld, mit welchen Kontakten und mit welchen Geschäftsbeziehungen sich Cortes umgibt und umgeben hat. Zu meinem Entsetzen tauchen in seinem Umfeld zwei Morde und ein Mordversuch auf sowie eine Vielzahl von Geldwäschevorwürfen, Betrügereien und Interpol-Fahndungsgesuche. 407

Ich werde hier nicht auf alle Punkte eingehen können, alleine für die Aufarbeitung der Verbindungen von Cortes wäre ein eigenes Buch notwendig, doch so viel sei gesagt: In unserer späteren Recherche haben Sergej und ich die meisten dieser Punkte nachrecherchiert und sie sind unserer Auffassung nach im Chart korrekt und nachvollziehbar dargestellt.

Doch zurück zum verschollenen Karl-Erivan Haub. Ich frage die internen Tengelmann-Ermittler nach ihrer Einschätzung der Situation. Wie hängt das alles zusammen? Die kriminelle Energie im Umfeld der Familie ist enorm.

Für den Leiter der internen Ermittlungen steht der Verdacht im Raum, dass nicht nur die Russin Veronika E., sondern auch Karl-Erivan Haub selbst für den russischen Geheimdienst FSB tätig gewesen sein könnten. 408 409 Der Sicherheitschef vermutet, die Verbindungen zum Tengelmann-Chef könnten »schleichend aufgebaut« worden sein. Das plötzliche Verschwinden könne dann als »Flucht« zu erklären sein, weil beispielsweise die amerikanischen Dienste von der vermuteten Verbindung zum FSB etwas mitbekommen haben könnten. Der Leiter der internen Ermittlungen betont, dass wir nicht davon ausgehen sollen, Haub sei ein Agent mit »Schlapphut und Trenchcoat« gewesen, sondern eher eine Art »Einflussagent«. Jemand, der mit seinen hervorragenden Kontakten zum Beispiel Politiker oder Wirtschaftsgrößen beeinflussen könne. Was, so der Leiter der internen Tengelmann-Ermittlungen, wenn die Familie Haub tatsächlich in die CDU-Spendenaffäre verwickelt sei, 410 und was, wenn das Geld für die CDU am Ende über Kanäle aus Russland geflossen sei?

Der Tengelmann-Sicherheitschef schaut uns direkt an. Sein Blick ist offen und klar, seine Körperhaltung entspannt. Er meint das völlig ernst, das merke ich. Diese für mich unvorstellbaren Vorwürfe sind aus seiner Sicht mögliche »Optionen«, die er bei der Suche nach der Wahrheit in Betracht ziehen muss. Im Verlauf der nun fast dreijährigen Ermittlungen wurde er, so erzählt er uns, mit mehreren Aussagen von (aus seiner Sicht) vertrauenswürdigen Quellen konfrontiert, die in diese Richtung gedeutet hätten. Doch er hat es nie abschließend überprüfen können, weil unter anderem die beiden ursprünglichen Hauptermittler inzwischen tot seien und das Interesse, den Sachverhalt restlos zu klären, innerhalb der Familie auch nicht besonders groß sei. Man habe natürlich auch versucht, Veronika E. einfach mal anzurufen, doch in dem rund 30-minütigen Gespräch habe sie den Kontakt zu Karl-Erivan Haub heruntergespielt und behauptet, ihn kaum zu kennen. Eine klare Falschaussage.

Zu guter Letzt, so berichtet der Sicherheitschef, soll es bei diversen Geheimdiensten Akten über den ehemaligen Tengelmann-Chef geben, darunter wie erwähnt FBI und CIA, aber auch BND, FSB, der israelische Geheimdienst Mossad sowie der Schweizer Geheimdienst.

Nach dem Tod des ehemaligen Stasi-Verbindungsoffiziers von Wladimir Putin und dem Ex-MADler Klaus L. hätten er und sein Partner zudem vor dem Problem gestanden, neue externe Ermittlungsagenturen für weitere Privatermittlungen gewinnen zu müssen. Dies sei jedoch erfolgreich geglückt, ein amerikanisch-israelisches Unternehmen mit höchstem Renommee in der Branche führe nun den »letzten« Teil der Ermittlungen durch: nämlich, Karl-Erivan Haub zu finden. Diese Information hatte mir auch Christian Haubs Vertrauter während unseres Gesprächs in Sankt Moritz gegeben.

Laut dem Sicherheitschef habe es in den vergangenen Jahren »mehrfach Momente gegeben«, an denen man »kurz davor war, den genauen Aufenthaltsort« des Milliardärs zu kennen, oder Momente, an denen die Ermittlungen generell »vor einem Durchbruch« gestanden hätten: Doch just dann seien die Ermittlungen plötzlich auf Betreiben des Familienberaters, Karl-Erivan Haubs väterlichem Vertrauten, oder anderer Familienmitglieder wieder gestoppt worden. 411

Mehrere Punkte seien zudem aufgrund des Tods der ersten Privatermittler aktuell noch ungeklärt: Karl-Erivan Haub soll möglicherweise ein etwa zehnjähriges Kind mit Veronika E. in Russland haben. Diese Geschichte hatte auch ich im Vorfeld bereits von zwei unterschiedlichen Quellen 412 gehört, konnte dafür aber bisher keine Bestätigung finden. Der Leiter der internen Ermittlungen berichtet auch von Aussagen aus Geheimdienstkreisen, wonach es nach April 2018 eine Ein- und Ausreise von Karl-Erivan Haub nach Armenien gegeben habe – dem Land seiner Vorfahren, wo angeblich auch sein möglicher russischer Pass ausgestellt worden ist.

Aus Geheimdienstkreisen stammt ebenfalls die Aussage, der Milliardär sei nach April 2018 in »Waffengeschäfte im Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidjan« verwickelt gewesen. Wilde Vorwürfe, die bisher unbewiesen seien, denen man aber auch aktuell nachgehe. Zu diesem Zeitpunkt, im Februar 2021, sei die amerikanisch-israelische Ermittlungsagentur außerdem »kurz davor«, die finalen Beweise für den aktuellen Aufenthaltsort von Karl-Erivan Haub zu liefern. Auch gegenüber Christian Haubs Vertrautem hatten die beiden Tengelmann-Ermittler wenige Wochen zuvor erklärt, dass man »über Kontakte vor Ort (…) für 100.000 Euro ein Foto von KEH sowie Informationen darüber, wo und wie er lebt und wie er mittlerweile heißt«, 413 besorgen könne. Diesen finalen Beweis erwartet der Tengelmann-Sicherheitschef um den Zeitraum rund um Ostern 2021. Er ist während unseres Gesprächs zweifelsfrei davon überzeugt, dass die beauftragte Ermittlungsagentur auch liefern wird, da ihre Arbeit in der Vergangenheit sehr gut gewesen sei. 414 415

Vor dem Fenster ist es inzwischen tiefste Nacht geworden. Ich habe starke Bauchschmerzen, weil ich vor lauter Aufregung in den letzten zwei Stunden nicht mehr richtig geatmet habe. An Essen oder Trinken ist jetzt gerade auch nicht zu denken. Die Verstrickungen von Karl-Erivan Haub nach Russland sind allem Anschein nach spektakulär. Wenn alles stimmt, was der Leiter der internen Ermittlungen uns an diesem Tag erzählt hat, dann werden wir große Teile davon in eigener Recherche beweisen können. Doch dafür brauche ich die ganzen Unterlagen – und wie von Christian Haubs engem Vertrauten versprochen, übergibt mir der Tengelmann-Sicherheitschef am Ende des Termins einen USB-Stick, auf dem er alle Dokumente gespeichert hat. Bei der Übergabe merke ich, dass er sich selbst – genau wie ich – auch gerade fragt, warum mein Kontakt diesen Schritt so unbedingt gehen will. Aber die Anweisung war eindeutig: »Teilen Sie alle Dokumente!« Und dieser Anweisung kommt der Leiter der internen Ermittlungen nun nach, wohl wissend, dass Christian Haubs Berater unberechenbar ist.