Kapitel 4

Der Einfluss Russlands auf die deutsche Politik und Wirtschaft

B ereits in einem sehr frühen Stadium der Recherche wurde klar: Rund um das Verschwinden von Karl-Erivan Haub gab und gibt es eine beachtliche Häufung geschäftlicher und zwischenmenschlicher Beziehungen nach Russland. Doch um zu verstehen, in welchem größeren Zusammenhang diese Beziehungen gesehen werden müssen, welche Tragweite sie haben und wie sie mit seinem Verschwinden zusammenhängen könnten, führen wir uns Russlands geopolitische Ziele und den russischen Einfluss auf die deutsche Politik und Wirtschaft vor Augen. Außerdem tauchen wir ein wenig in die Welt der Oligarchen ein: Wie sind sie zu ihrem Reichtum gekommen und welche Rolle spielen sie heute für die Ausübung russischer Interessen? Und schließlich: Wie helfen russische Spioninnen und Spione beim Erreichen der russischen Ziele?

Dieser Exkurs fasst die Informationen rund um die russischen Interessen und Strategien knapp zusammen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich möchte an dieser Stelle das Buch einer britischen Kollegin empfehlen: Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste . 416 Darin beschreibt Catherine Belton auf mehr als 600 Seiten, wie Putin an die Macht gelangte und sie seitdem hält.

Russlands geopolitische Ziele

In der Mitte Europas gelegen, versteht sich Deutschland als Führungsnation Europas und Schlüsselpartner der USA. Damit tritt die Bundesrepublik in einen direkten Konflikt mit Russland, das die Vereinigten Staaten als ideologischen und geostrategischen Rivalen betrachtet. Russlands prioritäres Interesse besteht darin, die kulturelle, wirtschaftliche und militärische Dominanz der USA zu beenden und gleichzeitig die eigene Vorherrschaft zu stärken. Wladimir Putins Chef-Ideologe Alexander Dugin nennt in seinem Buch The Foundations of Geopolitics: The Geopolitical Future of Russia 417 folgende klar umrissenen Ziele Russlands: Stärkung der Achse Berlin-Moskau unter Einbindung von Frankreich, Isolation Großbritanniens vom Rest Europas, politische Destabilisierung der USA durch ethnische, soziale und religiöse Spannungen und enge Angliederung des Iran an Russland, da Russland die »traditionellen Werte« der islamischen Welt teile. 418 Russlands Bodenschätze sollen dem ultranationalistischen Ideologen Dugin zufolge genutzt werden, um andere Länder unter Druck zu setzen, damit diese sich schließlich Russlands Willen beugen.

Ein Blick auf das aktuelle Weltgeschehen zeigt: Diese bereits 1997 definierten Ziele befinden sich aktuell in einer Phase der Verwirklichung. Umgesetzt werden sie jedoch jenseits der Diplomatie: und zwar mithilfe der Macht der Oligarchen und der russischen Geheimdienste .

Spuren des Wirkens dieser Schattenwelt sehen wir weltweit. In den vergangenen Jahren gab es eine ganze Reihe krimineller und teilweise mysteriöser Vorfälle, wo eine Verbindung zu russischen Diensten nachgewiesen werden konnte, seien es die Beeinflussung von Wahlen (u.a. in den USA 419 , das Brexit-Votum in Großbritannien 420 ), diverse Hackerangriffe (u.a. auf den Deutschen Bundestag 421 ), diverse (versuchte) Auftragsmorde (u.a. der Berliner-Tiergarten-Mord 422 , der Giftanschlag im britischen Salisbury 423 , der Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny 424 ) und natürlich der Fall Wirecard 425 . Der Fall Wirecard wiederum ist besonders interessant, da er eine Menge Parallelen zum Vermisstenfall Karl-Erivan Haub und seinen privaten und geschäftlichen Beziehungen nach Russland aufweist. Aber dazu kommen wir später.

Geheimdienste und Oligarchen: Strippenzieher

Gehen wir einige Jahrzehnte zurück, ins Jahr 1991, das Jahr, in dem die Sowjetunion zerfiel. In dieser Zeit des Umbruchs wurden die Weichen für Russlands wirtschaftliche und geopolitische Interessen gestellt, mit denen wir heute konfrontiert sind. Eine neue Elite hat die Weltbühne betreten, viele der Akteure von damals sind noch heute an der Macht.

Die 1990er-Jahre waren durch viele Umbrüche geprägt, die durch die Auflösung der Sowjetunion entstanden sind. In dieser Zeit gab es in Russland kaum Regeln und Gesetze. Und wenn doch, dann mussten diejenigen, die sie brechen, kaum Konsequenzen befürchten. Die russische Wirtschaft wurde damals stark umstrukturiert und privatisiert, die Stunde der Oligarchen war gekommen. Viele dieser heute unermesslich reichen Männer (und tatsächlich sind es fast ausschließlich Männer) gehen aus dem Umfeld des ehemaligen sowjetischen Geheimdiensts KGB hervor. Der bekannteste von ihnen ist sicherlich der russische Präsident Wladimir Putin. Die Ex-Agenten rund um Putin nutzten ihre nachrichtendienstlichen Netzwerke sowie das daraus gewonnene Wissen und erlangten innerhalb kürzester Zeit unvorstellbaren Reichtum. Einige der Profiteure von damals sind nach wie vor im Geschäft, weil sie es geschafft haben, sich mit dem System Putin gut zu stellen. Andere sind nicht mehr im Geschäft und werden nach und nach durch Putins ehemalige KGB-Kollegen mehr oder weniger ersetz t.

Als Beispiel für die Ex-KGB-Agenten aus dem engsten Umfeld von Wladimir Putin ist beispielsweise der Oligarch Igor Setschin 426 zu nennen. Setschin studierte an einer Oberschule des KGB und gilt seit den 1990er-Jahren als einer der engsten Vertrauten von Putin. Inzwischen ist Setschin Vorstandsvorsitzender von Rosneft , dem größten russischen Ölkonzern, und gilt als mächtigster und einflussreichster Mann aus dem inneren Kreis des Präsidenten. Ein weiteres Beispiel ist der Oligarch Sergej Tschemesow 427 , ebenfalls ein alter Bekannter von Putin: Die beiden kennen sich seit den 1980er-Jahren aus ihrer gemeinsamen Zeit als KGB-Agenten in Ostdeutschland. Inzwischen leitet Tschemesow Rostec, den größten Rüstungskonzern des Landes. Viele Würdenträger der russisch-orthodoxen Kirche, darunter der Patriarch Kyrill 428 , sind zu großen Teilen ehemalige Männer des KGB. Auf diese Weise ist über die Gottesdienste die Einflussnahme auf weite Teile der strenggläubigen russischen Bevölkerung gesichert.

Versteckte finanzielle Abhängigkeiten und russische Spione

Die Infiltrierung der deutschen Politik und Wirtschaft, um russische geostrategische Interessen durchzusetzen, kann daher über mehrere Kanäle erfolgen. So etwa über verstecke finanzielle Abhängigkeiten , zum Beispiel verdeckte Wahlkampfspenden in der Politik, oder verschachtelte Firmenstrukturen mit verdeckt gehaltenen russischen Eigentümern in der Wirtschaft und/oder russische Spione in Deutschland.

In den USA 429 , Deutschland 430 , Frankreich 431 , Italien 432 und auch allen anderen europäischen Ländern gibt es Hinweise und teilweise auch Beweise zu verdeckten Wahlkampfspenden aus Russland. 433 Denn Einfluss gewinnt man eben am ehesten über Geld. Auch die Vergabe hoch dotierter Jobs in der Wirtschaft an ehemalige Spitzenpolitiker, beispielsweise der Aufsichtsratsposten beim Mineralöl-Riesen Rosneft und weitere Führungspositionen bei den Pipeline-Projekten Nord Stream und Nord Stream 2 an den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, soll der Umsetzung russischer Interessen in der deutschen Politik dienen.

Was die Wirtschaft betrifft, haben russische Oligarchen und Geschäftsleute einen unglaublich hohen Einfluss auf deutsche und europäische Unternehmen. Wie groß dieser Einfluss wirklich ist, ist mehr als erschreckend: Aus einem aktuellen Bericht der EU-Kommission zu Risiken der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung geht hervor, dass rund 31.000 europäische Firmen wirtschaftliche Eigentümer haben, die aus Russland kommen. 434 31.000 Unternehmen! Diese Zahl ist nicht nur gewaltig, sie lässt auch erahnen, welch politisches Gewicht Russland damit in Europa hat.

Zivilrechtliche Eigentümer solcher Unternehmen sind jedoch in aller Regel nicht die wirtschaftlichen Eigentümer aus Russland, sondern in den meisten Fällen Briefkastenfirmen, wodurch die Spuren nach Russland verschleiert werden. 435 Laut dem Bericht sind die meisten dieser russisch kontrollierten Unternehmen in der Immobilien- und Baubranche angesiedelt, aber auch im Hotelwesen sowie im Energie- und Finanzsektor. Meistens – und das ist der springende Punkt – dienen diese Firmenkonstruktionen vor allem einem Zweck: der Geldwäsche. Und dieses Thema tauchte im Verlauf der Recherche zu dem verschollenen Tengelmann-Milliardär Karl-Erivan Haub immer wieder auf.

Die komplizierten Netzwerke von Briefkastenfirmen im In- und Ausland ermöglichen es Kriminellen, die Herkunft und den Bestimmungsort von Geld zu verschleiern. Stammt es aus Drogen- oder Waffengeschäften? Werden staatliche Gelder oder Einnahmen von Konzernen abgezweigt? Die Gelder dienen, so warnt die EU-Kommission, der »persönlichen Bereicherung – oder der Destabilisierung ganzer Länder«. 436 Schätzungen zufolge werden auf diese Weise derzeit Hunderte Millionen Euro durch undurchsichtige Transaktionen verschoben.

Russische Nachrichtendienste

Während die USA und so gut wie alle europäischen Länder seit Jahren vor der Gefahr durch russische Nachrichtendienste warnen, haben die seit den 1990er-Jahren amtierenden deutschen Regierungen die Augen in bemerkenswerter Art und Weise verschlossen. Die Spionageabwehr wurde geradezu sträflich vernachlässigt. Offenbar vertraute man zu sehr auf die neu gewonnene Freundschaft durch wirtschaftliche Verbindungen – und gegenseitige Abhängigkeiten. Übersehen wurde dabei jedoch, dass der Kalte Krieg zwar vorbei und die Sowjetunion untergegangen ist, nicht aber ihr Geheimdienstapparat. Der KGB heißt nun einfach anders: FSB. Doch Russland verfügt neben dem Inlandsgeheimdienst FSB über weitere, teilweise miteinander konkurrierende Geheimdienste. Die interne Konkurrenz ist bewusst gewählt, damit sich die Nachrichtendienste auch gegenseitig kontrollieren.

Der FSB, mit seinen schätzungsweise bis zu 280.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, 437 spielt für die internationale Spionage und Manipulation eine herausragende Rolle. So wird beispielsweise ein FSB-Oberst für den Berliner Tiergarten-Mord verantwortlich gemacht. 438 Außerdem hat das Recherchenetzwerk Bellingcat einer ganzen Reihe von FSB-Agenten den Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nachgewiesen. 439 Und obwohl der FSB offiziell nur für die innere Sicherheit zuständig ist, verfügt er auch über Abteilungen, die auf Ziele im Ausland gerichtet sind, beispielsweise eine Abteilung für Wirtschaftsspionage. Eine Tatsache, die im Verlauf der Recherche mit dem verschollenen Tengelmann-Milliardär in Zusammenhang gebracht werden konnte.

Neben dem FSB gibt es noch den Auslandsgeheimdienst SWR mit rund 13.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Agentinnen und Agenten des SWR tarnen sich im Ausland meistens als Diplomatinnen und Journalisten. 440 Außerdem gibt es den Militärnachrichtendienst GRU mit schätzungsweise 12.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Der GRU wird unter anderem für den Giftanschlag auf den ehemaligen GRU-Oberst Sergej Skripal in Salisbury verantwortlich gemacht. 441

Die russischen Nachrichtendienste bauen mithilfe der Spione auf einer persönlichen Ebene Kontakte zu politischen Parteien und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft auf. Sie sammeln Informationen und suchen Schwachstellen, beispielsweise durch kompromittierendes Material. Einige dieser Agentinnen und Agenten leben mit aufwendig konstruierten Lebensläufen und falschen Legenden unauffällig und fest integriert in dem Land, das sie ausspionieren.

Das System Putin

Warum lege ich so viel Wert auf diesen kurzen Exkurs in die Post-Sowjet-Ära? Was hat das alles mit dem »ehrbaren Kaufmann« Karl-Erivan Haub zu tun, wie ihn Angela Merkel einmal nannte? Ganz einfach: Er macht eines unumgänglich deutlich: Das System Putin beruht auf persönlichen, nachrichtendienstlichen Verbindungen, und die bis heute existierenden Strukturen dieses Systems reichen bis in die Organisierte Kriminalität.

Um russische Interessen zu verstehen, sollte man sich über folgende Aspekte im Klaren sein:

  1. Der innere Kreis von Putin besteht vorwiegend aus ehemaligen KGB-Agenten, die sich durch das Besetzen von Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft gegenseitig Macht und Reichtum sichern.

  2. Oligarchen und russische Geschäftsleute auf höchster Ebene können sich seit den 1990er- Jahren in Russland nicht ohne das Wissen und die »Genehmigung« aus Putins Umfeld behaupten oder am Markt bestehen. Dies trifft auch auf die Geschäftspartner von Karl-Erivan Haub zu.

  3. Es ist nahezu ausgeschlossen, in so kurzer Zeit mit ehrlicher Arbeit Reichtümer wie die der Oligarchen anzusammeln. Dazu bedarf es eines hohen Maßes an Skrupellosigkeit und sehr guter Verbindungen in die Organisierte Kriminalität. Und es braucht: Geldwäsche.

  4. Die verschiedenen russischen Geheimdienste sowie diverse Oligarchen setzen sich seit Jahren kompromisslos für das Erreichen russischer Interessen ein. Deutlich wirkungsvoller, als es Diplomatie je könnte.

  5. Alle oben genannten Punkte greifen ineinander und hängen miteinander zusammen. Der lange Arm der russischen Nachrichtendienste reicht deutlich weiter in die deutsche Gesellschaft hinein als gemeinhin angenommen.