Kapitel 5

Blick über die Schulter: Die Arbeit des RTL-Investigativteams

N och in der Nacht nach unserem Termin mit dem Tengelmann-Sicherheitschef und seinem Berater beginnen Sergej und ich mit der Verifizierung der internen Tengelmann-Dokumente. Diese Aufgabe beschäftigt uns die nächsten Wochen und Monate quasi rund um die Uhr. Richtige Arbeitszeiten gibt es von diesem Moment an nicht mehr, die Arbeit an den Dokumenten lässt uns beide nicht mehr los. Zwar stammen die meisten Erkenntnisse der internen Ermittler von Quellen aus Geheimdienstkreisen und sind daher für uns zunächst schwer zu überprüfen, doch in Russland gibt es deutlich weniger Datenschutzrichtlinien als hierzulande. Aus diesem Grund sind im russischen Netz Datensätze in rauen Mengen verfügbar. Und mein Kollege Sergej Maier weiß, wo man suchen muss.

Die meisten Daten stammen dabei aus Leaks. Wenn man beispielsweise im Besitz von Passnummern, Steuernummern, Telefonnummern, Adressen, Kennzeichen oder Ähnlichem ist, besteht eine sehr große Chance, über diese Angaben viele weitere Informationen über eine Person zu bekommen. Zunächst überprüfen wir Naheliegendes: Stimmen die Telefonnummern, Adressen, Nummernschilder etc. von Veronika E. und den anderen Personen aus den internen Dokumenten überein? Wenn ja, wäre das eine hervorragende Grundlage für das weitere Vorgehen. In einem zweiten Schritt wollen wir mithilfe der uns vorliegenden Passdaten von Karl-Erivan Haub schauen, ob wir eine Bestätigung für seine Reisen nach Russland finden können. Darauf aufbauend wollen wir auch die Reisen von Veronika E. überprüfen und ein Reiseprofil von ihr erstellen. Gibt es zwischen den Reisen von Karl-Erivan und Veronika eine Überschneidung? Und wenn ja, kann das etwas über ihr Verhältnis aussagen? In einem dritten Schritt wollen wir uns die Geschäftspartner näher anschauen und herausfinden, was es mit dem Geldwäscheskandal auf sich hat, der sowohl in den internen Dokumenten als auch im Bericht von Alvarez & Marsal erwähnt wird.

Zunächst einmal glauben Sergej und ich gar nichts von all den Informationen in den internen Ermittlungsberichten. Wir sind uns einig, dass wir auch die Verbindung zwischen der jungen Russin Veronika und dem Milliardär infrage stellen. Bisher hat uns niemand ein gemeinsames Foto der beiden gezeigt, und außer der Darstellung der internen Ermittler haben wir keinen einzigen Beweis für eine persönliche Beziehung der beiden. Theoretisch könnten alle Informationen, die wir erhalten haben, gefälscht sein. Der neue Firmenchef Christian Haub und sein Team aus Anwälten und Privatermittlern sind in einen erbitterten Kampf um Macht und Milliarden bei Tengelmann verstrickt – niemand weiß, wie weit sie gehen könnten, um an ihr Ziel zu kommen. Und aus den E-Mails von Christian Haubs engem Vertrauten und dem Krisenmanager geht ja deutlich hervor, dass die Presse für Tengelmann-Zwecke benutzt werden soll.

Unsere Telefonlisten-Recherche

Zunächst schauen wir uns die Telefonliste an. Die Liste der von Karl-Erivan Haubs iPhone abgehenden Anrufe war rund zweieinhalb Jahre zuvor für die internen Ermittler der Wendepunkt in ihrer Suche gewesen. Zuerst sortiere ich die Liste, die uns die beiden Tengelmann-Ermittler in Form einer nach Anrufern sortierten Excel-Tabelle übergeben haben, nach dem Datum der Anrufe, um die Verbindungen nach Russland rot zu markieren. In den Wochen vor dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub färbt sich die Telefonliste völlig rot ein. Ab dem 6. März 2018, dem Todestag seines Vaters, telefonierte Karl-Erivan tatsächlich teilweise mehrfach täglich mit der jungen Russin. Unmittelbar vor und unmittelbar nach diesen Telefonaten, so stelle ich fest, folgt oft eine Kette anderer Telefonate, beispielsweise mit einem Treuhänder, einer Holding, mit der auch sein väterlicher Berater in Verbindung steht, oder mit Anwälten.

Dies erweckt den Eindruck: Die Russin ist ein Glied innerhalb einer Kette oder hat im Alltag von Karl-Erivan Haub eine Funktion . Ein Liebestelefonat würde man vermutlich nicht »zwischen Tür und Angel« führen, während man davor und danach mit Treuhändern und Anwälten spricht. Die junge Frau scheint ein Teil von etwas zu sein.

Viele der Telefonnummern der Liste ruft Haub wiederkehrend an, beispielsweise seine Ehefrau Katrin und seine Tochter Viktoria, aber auch Anwälte, Treuhänder und Freunde. Auffällig ist ein Kontakt, den der Verschollene sowohl unmittelbar vor dem Tod seines Vaters als auch kurz danach angerufen hat, sonst jedoch nie: Am 5. und 8. März telefonierte Karl-Erivan Haub jeweils nur einer Minute lang mit einem gewissen Riccardo M., 442 einem wohlhabenden und einflussreichen – jedoch etwas zwielichtigen – Geschäftsmann aus Italien.

Von den internen Ermittlern wissen wir, dass eine Dauer (Duration) mit der Einheit 1 lediglich aussagt, dass der Empfänger das Telefonat entweder kurz annimmt und man weniger als 60 Sekunden miteinander spricht oder die Mailbox anspringt. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass Karl-Erivan Haub lediglich anklingelt und später zurückgerufen wird. Auffällig ist: Das Gespräch wird am 8. März um 22 Uhr geführt. Für einen rein geschäftlichen Anruf reichlich spät. Wer ist also Riccardo M.? Ein Geschäftspartner? Ein Freund? Den beiden internen Ermittlern sagte der Name nichts.

Riccardo M., Spross eines italienischen Familienimperiums

Unsere Recherche ergibt, dass M.s Familie in Italien ein Familienimperium besitzt, zu dem Supermärkte, Immobilien, ein Fußballclub und Teile eines großen Importeurs für Obst und Gemüse in Europa gehören. M.s Vater, ebenfalls ein Geschäftsmann, ist in Italien in einen großen Immobilienbetrug verwickelt. 443 Und auch über Riccardo M. gibt es negative Presseberichte: Er steht in Verbindung mit einem Korruptionsskandal rund um einen ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten.

M. gilt als Steigbügelhalter zur Macht dieses Politikers. Die beiden verbindet nicht nur eine lange Freundschaft, M. überweist auch im Juni 2018 dessen Mutter eine Summe von 700.000 Euro, die für den Hauskauf des Politikers gedacht ist. 444 445 Doch die Geldwäscheabteilung der Bank von Italien ist aufmerksam, 446 die Überweisung fliegt auf, es gibt einen großen Skandal und der ehemalige Ministerpräsident muss das Geld zurückzahlen. Im Jahr 2019, so ist der italienischen Presse zu entnehmen, bekommt der reiche italienische Geschäftsmann M. dann Besuch von der Staatsanwaltschaft, nicht jedoch wegen des privaten Immobilienkredits, sondern wegen einer von ihm finanzierten Stiftung, die wiederum in Verbindung mit »Einflussnahme auf Menschenhandel und illegale Finanzierung« stehe. 447

Offenbar ist die Familie M. in den Jahren 2017 und 2018 in fragwürdige Spenden an die Stiftung Fondazione Open verwickelt, 448 die unter Verdacht steht, politische Einflussnahme und illegale Parteienfinanzierung zu betreiben. 449 Um was geht es also in den beiden Gesprächen zwischen dem nun verschollenen deutschen Milliardär und dem dubiosen italienischen Geschäftsmann? Kondolierten die beiden Männer sich gegenseitig zum Tode ihrer Väter? Denn auch Riccardo M.s Vater war kurz zuvor gestorben, am 10. Februar 2018. Könnte es eine Verbindung zwischen den beiden toten Patriarchen geben? Beide Familien stehen der Politik sehr nahe, von beiden Familien fließen große Summen Geld in die Parteienfinanzierung und Wahlkampfunterstützung. Ich finde auf diese Frage keine Antwort und versehe die beiden Telefonate mit dem dubiosen italienischen Geschäftsmann mit Fragezeichen.

Mehr Klarheit verschaffen uns jedoch die zu Andrej Suzdaltsev ausgehenden Anrufe vom 11. März 2018. Im Abstand von nur zwei Minuten versuchte Karl-Erivan Haub seinen ehemaligen Geschäftspartner viermal zu erreichen. Das gemeinsame PLUS-Russland-Geschäft ist seit 2015 beendet. Was brennt Haub an jenem Märztag unter der Haut, dass er so vehement den Kontakt sucht? Zunächst überprüfen wir, ob die Telefonnummern überhaupt richtig zugeordnet wurden. Dafür sucht mein Kollege Sergej in Datenleaks nach Suzdaltsevs Handynummer. Und tatsächlich: Wir finden die Nummer in Verbindung mit einem schwarzen Mercedes, der auf Andrej Suzdaltsev zugelassen ist. Damit können wir die Angaben der internen Tengelmann-Ermittler in diesem Punkt bestätigen. Auch Veronika E.s Handynummer können wir auf diese Weise verifizieren: Sie taucht in den Datenleaks einer Park-App auf, gekoppelt an den weißen Range Rover Evoque, den wir ebenfalls aus den internen Ermittlungsberichten kennen. Dies ist für uns ein ganz wichtiger Schritt der Recherche, denn es bedeutet, dass die internen Ermittler und wir Journalisten über unterschiedliche Quellen (Geheimdienstinformationen, Beschattung vor Ort, Datenleaks) zu den gleichen Ergebnissen kommen: Die uns überlassenen Daten stimmen zumindest in diesen überprüfbaren Punkten überein. Als Nächstes wollen wir uns die junge Russin näher anschauen: Was können wir über Veronika E. und über ihren Arbeitgeber Russian Event herausfinden?

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Die Telefonliste ab dem Tod des Patriarchen. Die dunkel hinterlegten Stellen sind Telefonanrufe nach Russland

Faktencheck Veronika E.: Geliebte oder Spionin?

Über die Existenz der jungen Russin ist die Familie Haub spätestens seit dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub im Bilde, da sie von den beiden internen Ermittlern darüber informiert wird, dass der Name der Frau sehr häufig in den letzten Telefonkontakten auftaucht. Mehrfach wird mir aber im Verlauf der Recherche gesagt, dass der Familie die Existenz von Veronika E. schon deutlich früher bekannt gewesen sei. 450 Für diese Annahme spricht auch, dass die junge Russin laut den internen Ermittlern auf Einladung der Familie Jahre zuvor in die USA gereist sei und den verschollenen Milliardär seit circa 2002 kennen soll. 451 Sergej und ich wollen dem digitalen Ich von Veronika E. »Leben einhauchen«. Welche Spuren hinterlässt sie im Netz? Gleich zu Beginn der Recherche konnten Sergej und Burak aus dem Verifizierungsteam, die offiziellen Social-Media-Accounts der jungen Russin identifizieren. Beim »russischen Facebook«, dem VK-Netzwerk, finden wir sie unter ihrem richtigen Namen. Für die weitere Recherche verwenden wir nun russische Bots auf Telegram.

Bots sind Algorithmus-Programme, mit deren Hilfe man verschiedene Informationen abfragen kann. Die kleinen Software-Tools analysieren verschiedene Social-Media-Konten und andere russische Plattformen und fassen dort Daten zusammen. Manche Bots sind kostenfrei, andere muss man abonnieren. Oft greifen diese Tools in die Privatsphäre der Nutzer ein, doch in Russland ist eine Vielzahl dieser Programme trotzdem im Netz verfügbar. In den meisten Fällen sind Bots jedoch recht kurzlebig, sie verschwinden schnell wieder und werden durch neue Programme ersetzt. Auch die Journalisten der Investigativ-Plattform Bellingcat nutzten Bots bei der Suche nach den Attentätern des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Einige Algorithmus-Programme funktionieren dabei wie folgt: Sobald es beispielsweise zu Datenleaks oder Hacks kommt, werden diese Daten irgendwo gespeichert. Die Algorithmen dieser speziellen Bots finden diese Datensätze und durchsuchen sie nach den abgefragten Informationen. Oftmals lassen sich zum Beispiel mit einer Telefonnummer viele weitere Querverbindungen herstellen, etwa zwischen E-Mail-Adressen und Telefonnummern, Telefonnummern und Autokennzeichen oder verschiedenen E-Mail-Adressen und Social-Media-Accounts.

Bisher haben wir von Veronika E. nur ihren offiziellen E-Mail-Account, wir kennen aber nicht ihre E-Mail-Adressen. Wir nehmen daher die Informationen, die wir haben (also die Link-URL des VK-Profils), und »füttern« damit in einem ersten Schritt einen für unsere Zwecke passenden Telegram-Bot . Dafür kopieren wir die Link-URL des VK -Profils und fügen ihn bei Telegram im Kanal des Bots ein. Wir klicken auf »Senden« und »schicken« sozusagen den Link an den Bot . Der Algorithmus schickt bei einer erfolgreichen Suche das Ergebnis als Antwort zurück. Bei unserer ersten Suchabfrage wird das Programm fündig und nennt uns die E-Mail-Adresse von Veronika E., die sie bei VK gespeichert hat: nichka6@xxx.ru

Aus der Antwort des Bots gehen folgende Informationen hervor: Name: Veronika E., Wohnhaft: Sankt Petersburg, E-Mail: nichka6@xxx.ru . Und zuletzt die Profil-URL von VK.

Nichka ist die Koseform von Veronika und die junge Russin verwendet diesen Namen bei Instagram als Profilnamen. Nun kennen wir also zwei ihrer Social-Media-Profile (VK und Instagram ), ihre E-Mail-Adresse sowie ihre Telefonnummer. Ein vielversprechender Anfang!

Nachdem wir die E-Mail-Adresse haben, möchten wir ein weiteres Mal die Telefonnummer verifizieren. Sollte die Russin ihre Nummer zum Beispiel beim Einrichten ihres VK- Accounts angegeben haben, würde der Algorithmus sie finden. Und tatsächlich: Innerhalb weniger Sekunden haben wir ihre Telefonnummer: 7911 9206 XXX. Diese Nummer kennen wir aus den internen Akten; die beiden Tengelmann-Ermittler haben sie über den Einzelverbindungsnachweis des Telefonanbieters erhalten. Durch diese Querverbindung können wir nun ganz sicher sein, dass es sich tatsächlich um die Handynummer von Frau E. handelt und dass die Ermittlungsergebnisse der beiden internen Ermittler auch in diesem Punkt vertrauenswürdig sind.

Laut den Ermittlungsberichten Zermatt RU 2 und Zermatt RU 3 ist Veronika E. mehrere Wochen in Russland von Privatermittlern beschattet worden. Es gibt Fotos von ihrem Auto im Moskauer Stadtverkehr. Wir wollen auch diese Ergebnisse überprüfen.

In großen russischen Städten gibt es eine App, um Parktickets digital zu bezahlen. In der App sind sowohl das Autokennzeichen als auch die Handynummer hinterlegt. Hat man also die Handynummer einer Person, kann man sehr leicht herausfinden, mit welchen Autos er oder sie wann, wo und wie lange geparkt hat. Zu unserem Glück verwendete auch Veronika E. diese App. Wir können sehr schnell herausfinden, dass sie mit ihrem Range Rover, dessen Kennzeichen wir auch schon aus den Berichten der internen Ermittler kennen, regelmäßig in Moskau unterwegs ist.

Aufgrund der Parkdaten können wir auch die Daten und Uhrzeiten bestätigen, an denen sie 2018 von den Ermittlerteams beschattet wurde. Auch in diesem Fall können wir die Ergebnisse der internen Ermittler als zweite unabhängige Quelle bestätigen. Veronika E. hat in der Zeit vom 16. Juni 2018 für mehr als 40 Stunden in der Nähe des im Ermittlungsberichts genannten »Russischen Forschungszentrums für Rehabilitation und Erholung « (vgl. Kapitel 3) geparkt. Von dem Parkplatz ihres Autos bis zu dem Gebäude ist es ein Fußweg von rund 8 Minuten. Ihre Wohnung ist jedoch etwa 11 Kilometer von dem Standort entfernt.

Auch können wir bestätigen, dass sich das ominöse »Forschungszentrum« tatsächlich im gleichen Gebäudekomplex befindet wie das Marriott Hotel.

Die ersten Rechercheergebnisse erleichtern mich: Wie auch schon der interne Bericht über die Briefe der Alpinisten stimmen die Angaben der Abschlussberichte Zermatt 2 und Zermatt 3 bisher mit unseren Recherchen überein.

Fragwürdige Social-Media-Aktivitäten

Seit unserem Treffen mit den internen Tengelmann-Ermittlern sind einige Tage vergangen und Sergej und ich sind quasi mit einer Standleitung Berlin-Köln miteinander verbunden. Die Geschichte ist unheimlich spannend und zieht uns in ihren Bann. Sergej probiert sich durch die Bots und ich feuere ihn von der Seitenlinie aus an. Irgendwann kommen Sergej und ich (warum auch immer!) auf die Idee, nach Veronika E.s Passwörtern zu suchen. Mit ziemlich spektakulären, wenn auch verwirrenden Ergebnissen.

Einer der vielen Telegram-Bots ist darauf spezialisiert, Passwörter zu finden. Die Voraussetzung dafür: Die dazugehörige E-Mail-Adresse muss einmal »Opfer« eines Leaks gewesen sein. Sergej und ich gehen ohne jede Erwartung an die Sache heran. Wir machen die Passwort-Suche, um ehrlich zu sein, eigentlich eher aus Spaß, um zu schauen, wie weit wir gehen können und ob wir vielleicht doch noch auf etwas Interessantes stoßen könnten.

Was wir dann allerdings finden, ist wirklich spektakulär: Mit Veronikas E-Mail-Adresse nichka6@xxx.ru sind die Passwörter karl46haub , karlhaub , karlhau , veronika und zwei Nummern verknüpft.

Der Bot verrät uns auch, dass zwei der Leaks von September 2014 stammen. Geleakt wurden die Daten bei ihrem Mailanbieter sowie bei Dropbox. Woher die übrigen Daten kommen, sagt uns der Algorithmus leider nicht.

Doch das Gute an Bots ist: Sie können sich nicht irren und nicht lügen. Auch wenn man hundertmal das Gleiche eingibt: Der Algorithmus spuckt immer wieder dieselbe Antwort aus. Auf das Softwareprogramm kann man keinen Einfluss nehmen, es arbeitet sich lediglich durch Datensätze. Ich bin völlig aus dem Häuschen, und auch Sergej, der nicht ganz so emotional ist wie ich, findet die Entdeckung ziemlich spannend. Warum hat Veronika E. Haubs Namen in verschiedenen Kombinationen als Passwort verwendet? Aus Liebe ? Wir diskutieren diese Möglichkeit mit den übrigen Mitgliedern der Redaktion. Außerdem teilen wir unsere neu gewonnenen Erkenntnisse mit den internen Ermittlern und dem Geheimdienstexperten Malte Roschinski. Gewiss besteht die Möglichkeit, dass die junge Frau schwer in den nun verschollenen Milliardär verliebt ist und deshalb seinen Namen als Passwort nimmt.

Aber ich glaube das nicht. Viel eher bin ich der Meinung, dass die junge Russin damit »ihren Kanal« steuert. Gesetzt den Fall, Veronika E. ist eine aktive Agentin des FSB, wie es die internen Ermittler vermuten, 452 und auf Karl-Erivan Haub (zu welchem Zweck auch immer) angesetzt wurde, dann könnte sie möglicherweise über E-Mails den Kontakt mit ihm steuern. In der Sprache der Nachrichtendienste würde man sagen: Veronika E. führt ihre Zielperson. Sowohl der Geheimdienstexperte Malte Roschinski als auch die internen Ermittler halten es für möglich, dass die junge Frau mehrere Zielpersonen führt und mit der Passwort-Vergabe lediglich »Ordnung« in der Kommunikation hält – die Wahl des Passwortes sei jedoch erschreckend einfach zu knacken.

Das Schöne an den Telegram-Bots ist, dass die Suchfunktionen ziemlich vielfältig sind. Man kann die Passwort-Suche auch »andersrum« machen: nämlich indem man die Passwörter selbst in den Bot eingibt und dann schaut, welche E-Mail-Adressen damit verknüpft sind.

Nicht im Traum hätte ich allerdings damit gerechnet, was wir mit dieser erneuten Suchabfrage auslösen würden. Veronika E. hat ein ganzes Netz aus verschiedenen E-Mail-Adressen gesponnen, die zum einen alle nahezu identisch sind und zum anderen Karl-Erivan Haubs Namen als Passwort haben. Natürlich kribbelt es uns in den Fingern und wir probieren sofort aus, ob wir uns noch mit den Passwörtern einloggen können, aber sie sind inzwischen nicht mehr gültig.

Folgende E-Mail-Adressen verwendeten karl46haub als Passwort: exxx_veronika@russianevent.com , nichka3@xxx.ru , nichka6@xxx.ru , nichka9@xxx.ru , nichka7@xxx.ru , nichka5@xxx.ru , nichka6@xxx.ru

Bei der offiziellen E-Mail-Adresse von Russian Event finden wir zudem heraus, dass die Daten aus einem LinkedIn-Leak von Mai 2012 stammen.

Über mehrere Jahre hinweg verwendete Veronika E. also den Namen von Karl-Erivan Haub als Passwort. Seltsam, hatte sie doch den internen Ermittlern am Telefon selbst gesagt, den Milliardär kaum zu kennen. Nach diesem Treffer probieren wir nun alle uns bekannten Passwörter von Veronika E. aus. Bei der Zahlenkombination 89118565285a , die wir im Zusammenhang mit der E-Mail-Adresse nichka6@xxx.ru finden, wird es dann richtig wild:

Wir finden ganze 50 (!!!) Treffer. Da ausnahmslos alle dieser E-Mail-Adressen nach dem gleichen Schema aufgebaut sind (»nichka«+»zahl«@»provider«.»Land«) und damit eindeutig dem Aufbau der von uns verifizierten Adresse nichka6@xxx.ru ähneln, liegt für uns der Verdacht sehr nahe, dass Veronika E. als Erstellerin der Adressen höchstwahrscheinlich infrage kommt.

Nun stellt sich natürlich die Frage: Warum legt man sich so viele E-Mail-Adressen zu? Dafür muss es einen Grund geben, denn einfach so zum Spaß ergibt es wirklich überhaupt keinen Sinn. Veronika E. muss einen Zweck darin gesehen haben – aber welchen?

Um diese Frage zu beantworten, ziehen wir einen weiteren Bot zur Hilfe heran. Wir möchten herausfinden, ob diese 50 E-Mail-Adressen mit Social-Media-Accounts verbunden sind. Das Prozedere ist das Gleiche wie bei der Passwort-Suche: Man nimmt einen Telegram-Bot und gibt die E-Mail-Adresse ein. Der Bot durchsucht dann das Internet nach einem Social-Media-Account, der mit der E-Mail-Adresse verknüpft ist.

Wie eigentlich nicht anders zu erwarten, werden wir fündig. Hier ein kleiner Auszug: nichka3@xxx.ru steht in Verbindung mit einem VK -Profil einer Frau namens Katya . nichka6@xxx.ru steht in Verbindung mit einem VK -Profil einer Alina N . Hinter nichka7@mail.ru steht eine Nichka L . Hinter nichka5@xxx.ru steht ein Mädchen namens Lika Lika aus Astrachan. 453

Doch die vermeintliche Lika Lika steckt noch hinter etlichen weiteren E-Mail- und Social-Media-Accounts. 454 Es ist daher ziemlich offensichtlich, dass es sich um Fake-Profile handelt, die ausnahmslos sehr, sehr junge, bildhübsche Frauen zeigen. Die Konten entstanden alle zwischen Februar und April 2012, meistens gibt es nur ein bis zwei Posts und keines der Konten weist Aktivitäten auf. Sie wurden offenbar gezielt aufgebaut, allerdings nie wirklich »zum Leben erweckt«. Auffällig ist, dass die vermeintlichen Mädchen alle auf »aktiver Partnersuche« oder gerade »verliebt« sind.

Außerdem finden wir heraus, dass in dem Haus in St. Petersburg, in dem Veronika E. eine Wohnung besitzt, ebenfalls eine Escort-Agentur angesiedelt ist. Ob diese Agentur aber in Verbindung mit der jungen Russin steht oder ob das schlicht ein Zufall ist, können wir nicht abschließend klären.

Bis zum heutigen Tag können wir uns keinen Reim auf diese Social-Media-Konten machen und wissen nicht, was Veronika E. mit den Fake-Accounts bezwecken wollte. Es wäre notwendig, eine tiefergehende Recherche zu starten, um herauszufinden, wer die Frauen auf den Fotos sind. Sind es real existierende Menschen? Oder handelt es sich um Bilder zum Locken? Wissen die Frauen überhaupt, dass ihre Fotos in diesen Profilen verwendet werden? Und wie viele dieser Accounts gibt es wirklich? Sergej und ich haben das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben, immer weitere Accounts ploppen auf. Meine Vermutung ist, dass die jungen Frauen zum »Locken« gedient haben könnten, denn der Tengelmann-Sicherheitschef erwähnte im Gespräch, dass Karl-Erivan Haub »kein treuer Ehemann« sei und wechselnde Partnerinnen habe. Dies sei auch hinlänglich bekannt. Mehrere Personen aus seinem Umfeld bestätigten diese Aussage. 455

Eine weitere Recherche im Umfeld der jungen Russinnen wäre möglich und sehr sinnvoll, wäre aber unglaublich zeitaufwendig. In unserem Team könnte sie außer Sergej auch niemand übernehmen, da nur er Russisch spricht. Doch Sergej brauchen wir jetzt erst mal für andere Dinge. Was auch immer es mit den Frauen auf sich hat: Sie sind in der Geschichte des verschollenen Milliardärs nur ein Nebenkriegsschauplatz.

Was jedoch in jedem Fall hochinteressant ist: Die geleakten Passwörter fallen alle in die Zeit des PLUS-Russland-Geschäfts, das – wie wir wissen – krachend gescheitert ist.

Die Agentur Russian Event

Der Tengelmann-Sicherheitschef geht davon aus, dass Russian Event vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB geführt wird und das Ziel der Agentur darin bestehe, mit einflussreichen Ausländern in Kontakt zu treten. Ich bespreche diese These zunächst mit dem renommierten Geheimdienstexperten Malte Roschinski. Er stimmt dem Sicherheitschef von Tengelmann zu, dass sich das Konstrukt einer Eventagentur sehr gut für eine Tarnfirmenkonstruktion eigne. Eine Eventfirma mache »alles und nichts«, könne »sehr aktiv« und »sehr umtriebig« sein. 456

Unter dem Deckmantel einer solchen Firma könne man auch nachrichtendienstliche Aktivitäten gut steuern. Außerdem, so Roschinski, eigne sich eine solche Agentur hervorragend, um Kontakte zu sammeln und zu pflegen. In diesem Punkt gebe es große Schnittstellen zwischen den Kernaufgaben von Eventagenturen und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten. 457 Nach dieser ersten Einschätzung machen Sergej und ich uns an die Arbeit. Es gelingt uns, über russische Kontakte zwei Personen mit versteckter Kamera nach St. Petersburg in das vermeintliche Büro der Eventagentur zu schicken. Werden sie denselben Ort vorfinden, den wir bereits aus den internen Tengelmann-Berichten kennen? Während die Männer sich in Russland auf den Weg machen, schauen Sergej und ich uns die Eventagentur von ihrer wirtschaftlichen Seite her an.

Russian Event hat die Steuer-ID INN 7813111180. Zu dieser Steuer-ID finden wir über Umwege zwei nahezu identische Datensätze. Sie unterscheiden sich lediglich durch das Registrierungsdatum: Einmal wird der 10.11.1998 angegeben und einmal der 18.11.2002. Als Direktorin wird Olga Shishkova geführt. Gegründet wurde die Firma von Nikita Leonidowich Sherban, dem laut beider Datensätze 95 Prozent der Anteile gehören, und Olga Shishkova, welche die übrigen 5 Prozent hält. Seit mindestens 2018 ist Olga Shishkova außerdem die Geschäftsführerin von Russian Event . Die Namen sind sehr interessant, denn beide kennen wir bereits aus dem Abschlussbericht Zermatt RU 2 . Olga Shishkova wird dabei auf Seite 14 als Mitarbeiterin erwähnt, 458 Nikita Sherban wird auf Seite 18 als Russian Event -Gründer genannt, aber auch als Lebenspartner von Veronika E., mit der er laut dem Bericht 15 Jahre lang in einer Partnerschaft gewesen sei. 459 Dem Abschlussbericht ist an dieser Stelle auch ein Pärchenfoto von Veronika E. und dem jungen Mann beigefügt, daher kann diese Information stimmen. Die Domain der Website von Russian Event wurde offenbar im Jahr 2000 registriert, 460 seit 2015 sieht die Seite unverändert aus. Offensichtlich legt das kleine Unternehmen nicht sehr viel Wert auf den Online-Auftritt. Sehr seltsam für eine Agentur, die von öffentlichen Veranstaltungen leben soll.

In der Datenbank von Seldon Basis , einer russischen Plattform zur Überprüfung von Vertragspartnern und Geschäftsabschlüssen, finden wir eine ganze Reihe von Informationen zum Finanzstatus von Russian Event. 461 Der erste Teil der Bewertung des Online-Portals liest sich eher durchwachsen: »Die Finanzlage des Unternehmens ist stabil, aber es gibt Anzeichen für Ungleichgewicht im Geldfluss. (…).« 462 Außerdem ist sehr auffällig, dass die Bilanz im Jahr 2018, dem Jahr, in dem Karl-Erivan Haub verschwand, außerordentlich in die Höhe schoss. Gleichzeitig stürzten Erlöse und Jahresüberschüsse nach 2018 ab. 463 Auch die Liquiditätsanalyse hat 2018 einen argen Knick. 464 Gleichzeitig gibt es 2018 eine merkliche Veränderung zwischen der Fremd- und Eigenkapitalquote: War Russian Event vor und nach 2018 mit einer Eigenkapitalquote von rund 70 Prozent ein relativ gesundes Unternehmen, so drehte sich die Situation im Jahr 2018 nahezu um. 465 Wie es zu diesen veränderten Kapitalverhältnissen kommt, können wir bis heute nicht erklären. Die Daten, auf die wir zugreifen können, geben keine Auskunft über Art und Umfang der vermeintlichen Projekte und angeblich durchgeführten Events. Auffällig ist jedoch, dass die kleine Eventagentur quasi ab dem ersten Jahr der Gründung durchweg einen stabilen Umsatz erzielte und sich im Verlauf der Zeit weder vergrößerte noch verkleinerte. Ihr Gründer, Nikita Scherban, spielt dabei (obwohl er das Unternehmen mit gerade mal 18 Jahren gegründet haben soll und 95 Prozent der Anteile der Firma hält) überhaupt keine Rolle. Sergej und ich beschließen, der Chefin von Russian Event , Olga Shishkova, eine offizielle Presseanfrage zu schicken. Und wir bekommen tatsächlich eine Antwort: 466 Sie gibt an, dass man von Veronika E. so gut wie nichts wisse. Die junge Frau habe zunächst von 2002 bis 2005 für das Unternehmen gearbeitet, dann habe es eine Pause von vier Jahren gegeben. Im Jahr 2009 wurde das Arbeitsverhältnis dann bis Anfang 2018 erneut fortgesetzt und die junge Frau habe als Sales Manager für die Firma gearbeitet. Die Chefin von Russian Event gibt an, über E.s Privatleben überhaupt nichts zu wissen. Auch ihr ehemaliger Freund Nikita Sherban, mit dem sie zur Uni gegangen sei, wisse inzwischen überhaupt nichts mehr über sie. Sollen wir das wirklich glauben? Die Agenturchefin wisse nur, dass die junge Frau viel privat gereist sei und jedes lange Wochenende und alle Ferien auf Reisen verbracht habe. Außerdem habe es mehrmals zu Problemen geführt, dass Veronika E. ihre Chefin und Kolleginnen nie darüber informiert habe, wenn sie sich nicht in St. Petersburg aufhielt. 467 Kann es wirklich stimmen, dass eine Agenturchefin, die nicht mal eine Handvoll Mitarbeiterinnen hat, die in zwei Räumen sitzen, keine Ahnung über das Privatleben einer Kollegin hat, die in einer sehr engen privaten Beziehung mit dem Gründer und Besitzer Nikita Sherban steht und ständig nicht erreichbar ist, weil sie ungefragt außerhalb der Stadt weilt und »Urlaub macht«? Und überhaupt: Was ist das für ein Verhalten? Sergej und ich finden dieses Arbeitsverhältnis irgendwie komisch. Außerdem haben wir inzwischen herausgefunden, dass die junge Frau, wie auch in den Abschlussberichten der internen Ermittler beschrieben, nur ein sehr geringes Gehalt für ihren Job bei Russian Event bezogen hat. 468 Undenkbar, damit große Reisen zu unternehmen oder mehrere Wohnimmobilien zu besitzen.

Wie verdient Veronika E. ihr Geld?

Sergej und ich beschließen herauszufinden, womit Veronika E. noch Geld verdient haben könnte. Über einen Kontakt in einem russischen Forum erhält mein Kollege ein Dokument, das offenbar ein Datenbankauszug ist. Es gibt Einblick in die wirtschaftlichen Aktivitäten der jungen Russin. Interessanterweise gibt es eine Lücke von 2017 bis 2019. Ansonsten haben wir alle Daten von 1999 bis 2020. 469

Das Dokument trägt in kyrillischer Schrift den Titel Individueller Analysebericht . Wir erfahren darin die inländische Passnummer von Veronika E. (40 05 511XXX), ihre Handynummer (+7 911 920 6XXX, welche wir bereits aus den internen Tengelmann-Dokumenten kannten), die Festnetznummer ihrer Eltern (die wir ebenfalls bereits aus den internen Tengelmann-Dokumenten kannten), eine Versicherungsnummer (001 – 086 – 28XXX) sowie eine Steuer-ID (INN 78 06 1706 7XXX), die für die weitere Recherche sehr wertvoll sein könnte.

Unter Punkt III. Analysebericht finden wir die Suchergebnisse aus einer Art Gründerdatenbank. Veronika E. hat demnach im Jahr 2007 eine Firma namens Physalis und 2009 Physalis Media gegründet. Beide Firmen sind an der gleichen Adresse in St. Petersburg, in der Taschkenter Straße, angesiedelt. Auf der nächsten Seite des Individuellen Analyseberichts finden wir einen Auszug von einer Art Einwohnermeldeamt aus dem Jahr 2019. Dort wird bei Veronika E. als Arbeitgeber Russian Event angegeben und als Position »Vize-Direktorin«. Seltsam: Hatte uns die Chefin der Agentur nicht erklärt, Veronika E. arbeite seit Anfang 2018 nicht mehr für das Unternehmen und sei auch nur eine kleine Sales Managerin gewesen?

Ganz unten auf der Seite finden wir Informationen über das Einkommen von Einzelpersonen Sankt Petersburg 2017 . In der Spalte darunter finden wir die Information, dass Veronika E. als Angestellte bei Russian Event im Vorjahr 720.245 Rubel verdient hat, umgerechnet etwa 10.000 bis 12.000 Euro. Im Abschlussbericht der internen Ermittler Zermatt RU 2 wird für dasselbe Jahr ein monatliches Einkommen von circa 900 Euro angegeben. 470 Sergejs und meine Recherchen stimmen also auch in diesem Punkt – unter Einbeziehung von Wechselkursschwankungen – mit den Ergebnissen der internen Ermittler nahezu überein.

Über verschiedene Wege können wir außerdem die im Abschlussbericht genannte Wohnadresse in dem schicken Moskauer Wohnhochaus bestätigen: Die Russin ist dort als Mieterin eingetragen 471 und Sergej findet über eine Art russisches Gebrauchtwagenportal eine Annonce, in der ein Auto aus dem gleichen Wohnkomplex zum Verkauf angeboten wurde und im Hintergrund der weiße Range Rover Evoque von Veronika E. zu sehen ist. 472 Zusätzlich schicken wir noch unsere lokalen Kontakte in die Tiefgarage, die ebenfalls Veronika E. Auto dort vorfinden.

Die Reisen der Veronika E.

Bis hierhin stimmen die Recherchen aus den Abschlussberichten der internen Ermittler in nahezu allen Punkten mit unseren eigenen Recherchen überein. Ein großes Fragezeichen haben Sergej und ich aber bei den beiden vermeintlichen russischen Pässen, die Karl-Erivan Haub besessen haben soll. Bisher konnten wir dazu keine Informationen finden, aber natürlich geben wir so schnell nicht auf. Sergej aktiviert all seine Kontakte in den russischen Foren, die uns möglicherweise Informationen liefern können. Doch bis wir dort mit Ergebnissen rechnen können, werden sicherlich noch einige Tage, wenn nicht Wochen, vergehen. Bis dahin beschäftigen wir uns weiterhin mit der Russin Veronika, deren gesamter Lebenslauf mir ziemlich suspekt vorkommt.

Wir kennen inzwischen den vollen Namen, die Versicherungsnummer, zwei Telefonnummern und eine Passnummer der jungen Frau. Diese Informationen reichen uns aus, um in den Datenleaks nach Reiseinformationen zu suchen. Eines Tages bekomme ich von Sergej eine E-Mail: Ich solle »bitte nicht erschrecken«, die Reisedaten seien sehr umfangreich. 473 Ich klicke auf das PDF, doch mein Laptop stürzt ab, als ich es zu öffnen versuche. Offenbar ist es zu groß, es umfasst 201 Seiten, dicht beschrieben in kyrillischer Schrift. Beim zweiten Anlauf klappt es dann. Vor mir auf dem Bildschirm breitet sich Zeile für Zeile die Reisehistorie von Veronika E. aus, nachgewiesen sind alle Reisen von und nach Russland zwischen 1999 und 2021. 474 Wir haben es offenbar mit einer echten Jetsetterin zu tun.

Die Daten, so lernen wir später, stammen aus verschiedenen Leaks von Reisebuchungsportalen. Pro Reise sind jeweils das Buchungsdatum, das Reisedatum, aber auch Stornierungen und Umbuchungen notiert. Außerdem gibt es Angaben zu den Reisedokumenten. Auf diese Weise stellen wir fest, dass die junge Frau in den vergangenen 22 Jahren mit sechs verschiedenen Ausweisen und Reisepässen unterwegs gewesen ist.

Über Sergejs Kontakte in den russischen Foren besorgen wir uns einen Datenbankauszug von Veronika E.s Pässen: Da ich weder Russisch spreche noch die kyrillische Schrift lesen kann, übersetze ich das Dokument mit Google Translate. Nur so kann ich mir einen Überblick verschaffen, wo Veronika E. unterwegs war. Die Daten trage ich in eine Excel-Tabelle ein. Mit dieser Aufgabe bin ich drei Tage und Nächte beschäftigt. Es ist wie eine Sucht, ich kann gar nicht mehr aufhören.

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Veronika E. gibt sich offiziell bis 2019 als durchschnittliche Mitarbeiterin einer kleinen St. Petersburger Eventagentur aus. Ihr Gehalt beträgt laut mehreren Quellen zwischen 10.000 und 12.000 Euro pro Jahr. Mein erstes Gefühl, als ich die 201 Seiten Reisedaten vor mir habe: Ihr offizieller Job und ihr Reiseverhalten passen nicht zusammen . Sie ist, vorsichtig ausgedrückt, in den letzten Jahren »zu aktiv« gewesen: Berlin, München, Frankfurt, Zürich, Genf, Mailand, New York, Montenegro, Abu Dhabi. Wie konnte sie sich das leisten?

Veronikas Reiseverhalten weist drei besondere Auffälligkeiten auf:

Über die Jahre verändern sich die Ziele deutlich: War Veronika bis 2011 vor allem in jedem hintersten Zipfelchen Russlands und der Krim unterwegs, so kommen ab 2012 vermehrt Ziele in Europa und den USA hinzu, sehr häufig München, Berlin, Frankfurt, Hamburg, Zürich, Genf, Mailand und Rom sowie New York und Los Angeles. Ab 2016 kommt Miami als zusätzliches Ziel hinzu.

Ich bin wie elektrisiert. Kann es ein Zufall sein, dass die junge Frau ausgerechnet am Tag des Verschwindens des Milliardärs nach Moskau reist? Wie kommt es zu dieser Reise? Ich schaue mir den kyrillischen Eintrag in den 201 Seiten nochmal genauer an: Die Buchung fand am 6.4.2018 um 17:24 Uhr Moskauer/St. Petersburger Zeit statt.

Laut der Einzelverbindungsnachweisliste von Karl-Erivan Haubs iPhone telefonierte er am 6.4.2018 um 15:53 Uhr unserer Zeit mit Veronika E. Die Zeitverschiebung beträgt in der mitteleuropäischen Sommerzeit eine Stunde. Wenn es bei Karl-Erivan Haub in der Schweiz 15:53 Uhr war, dann war es in Russland bei Veronika E. 16:53 Uhr. 475 Unmittelbar nach ihrem gemeinsamen Telefonat buchte die junge Frau also um 17:24 Uhr eine Zugreise von St. Petersburg nach Moskau: für den Folgetag um 9:00 Uhr, den Tag des mysteriösen Verschwindens.

Ich bespreche mich mit Sergej. Natürlich sind wir weit davon entfernt, Beweise zu haben. Aber wir haben starke Auffälligkeiten im Verhalten der Russin und von Karl-Erivan Haub festgestellt:

Sergej und ich beschließen, nach weiteren Faktoren zu suchen, die uns Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen dem Milliardär und der Russin geben können. Neben den 201 Seiten Reisedaten von Veronika E. haben wir von den internen Ermittlern die Reisedaten von Karl-Erivan Haub erhalten. Die Quellen, aus denen diese Daten gewonnen wurden, unterscheiden sich aber deutlich von unseren eigenen: Während die 201 Seiten von Veronika E. aus dem Leak eines Onlinebuchungssystems stammen, sind die Daten der internen Ermittler Auszüge aus einer Datenbank mit Passscans der Grenzbehörden an Flughäfen, um die Ein- und Ausreise zu dokumentieren. Sicherheitshalber organisiert uns Sergej zusätzlich die Reisedaten von Karl-Erivan Haub aus einem Leak eines Onlinebuchungsportals. Unsere eigenen Rechercheergebnisse stimmen mit den Daten der internen Ermittler überein und legen uns einige weitere Reisen offen, die im internen Abschlussbericht nicht vorkommen.

Am selben Ort: Karl-Erivan Haub und Veronika E.

Sergej und ich verfügen über drei verschiedene Datensätze: über die Reisedaten von Veronika E. und über die von Karl-Erivan Haub aus Datenleaks der Onlinebuchungsportale sowie über die Reisedaten aus der Datenbank der Grenzkontrollen, die uns die internen Ermittler überlassen haben. Nun legen wir die Datensätze übereinander. Resultat: Die internen Ergebnisse stimmen mit unserer eigenen Recherche überein und wir können auch verifizieren, dass Karl-Erivan Haub offenbar wirklich, wie im Protokoll von Christian Haubs engem Vertrauten erwähnt, 483 immer eine falsche Adresse bei der Einreise nach Russland angegeben hat, nämlich ein ominöses »Haus 4« in Moskau. 484

In einem zweiten Schritt schauen wir, ob Karl-Erivan Haub und die junge Russin gemeinsam unterwegs waren, und wenn ja, wohin. Tatsächlich finden wir hier gleich mehrere Treffen über einen Zeitraum von fast zehn Jahren.

Minsk und Sotschi (2008)

Im Zeitraum vom 12.7.2008 bis 14.7.2008 hält sich der Milliardär laut den internen Dokumenten in Sotschi auf. Veronika reist für dieses Treffen am 11.7.2008 aus Minsk an. 485 Doch offenbar weilte auch Karl-Erivan Haub zuvor in der weißrussischen Hauptstadt, denn wir finden für den gleichen Zeitraum eine Registrierung für ihn und zwei uns unbekannte Begleiter. Nach nur 24 Stunden Aufenthalt in Minsk fliegt Karl-Erivan Haub mit den beiden Männern im Privatjet in die Schwarzmeerstadt Sotschi. Veronika E. reist mit einem Linienflug. Ihre Rückreise aus Sotschi ist nicht vermerkt. Aber sie reist unmittelbar im Anschluss von St. Petersburg aus in die südöstlich von Moskau gelegene Stadt Penza. 486

Moskau (2009)

Am 5.3.2009 weilt Karl-Erivan Haub in Moskau. Veronika reist vermutlich für dieses Treffen am 4.3.2009 aus St. Petersburg an und verlässt Moskau am 8.3.2009 487 wieder.

Nachtzugreise Moskau – St. Petersburg (2009)

Am 25.5.2009 findet eine gemeinsame Reise mit einem Nachtzug von Moskau nach St. Petersburg statt. Ungewöhnlich ist: Die junge Frau reist erst am Vortag aus der Stadt, in die sie dann gemeinsam reisen, an. Veronika fährt also am 24.5.2009 von St. Petersburg nach Moskau, um dann am Folgetag, dem 25.5.2009 mit dem Nachtzug um 23:40 Uhr wieder zurückzufahren. 488 In den Datensätzen aus den Leaks des Buchungsportals können wir zudem feststellen, dass beide Reisen gleichzeitig gebucht wurden, vermutlich von Veronika E. selbst. Hinweise darauf hatten auch schon die internen Ermittlungsberichte gegeben, 489 doch nun können wir es mit unserem eigenen Wissen bestätigen. Außerdem, und das finde ich sehr dubios, ergeben die beiden Datensätze, dass die beiden in getrennten Abteilen des Nachtzugs unterwegs gewesen waren: sie in Abteil Nummer 7, er in Abteil Nummer 9. 490 Natürlich überprüfen wir sofort, ob es auch Doppelabteile gibt, und werden fündig. Für mich stellt sich daher an dieser Stelle die drängende Frage, ob man für eine kurze Liebesreise in getrennten Abteilen in einem Nachtzug reisen würde? Irgendwie hat das Ganze, rein vom Gefühl her, für mich eher einen geschäftlichen Charakter. So, als ob die junge Frau den Milliardär abholen würde, um ihn an einen Ort zu begleiten .

Omsk (2010)

Für den 16.7.2010 gibt es einen registrierten Aufenthalt von Karl-Erivan Haub in Omsk. Veronika E. reist für dieses Treffen am 15.7.2010 von Moskau in die sibirische Großstadt. 491 Eine Rückreise ist nicht hinterlegt, jedoch fliegt sie schon fünf Tage später aus Montenegro zurück. 492 Wie ist sie dort hingekommen? Und mit wem?

Sotschi mit Weiterreise nach Tirana, Albanien (2011)

Am 29.7.2011 treffen sich Karl-Erivan und Veronika vermutlich in Sotschi, 493 von wo aus der Milliardär zwei Tage später alleine im Privatjet in die albanische Hauptstadt Tirana weiterreist. 494 Diese Reise bereitet den internen Ermittlern laut eigener Aussage am meisten Kopfzerbrechen: Offenbar, so erklärten sie uns, muss sich Haub »beschützt« gefühlt haben. Unter normalen Umständen hätte er, den Erfahrungen des Sicherheitschef zufolge, niemals eine solche Reise alleine unternommen.

Baku, Aserbaidschan und Moskau (2014)

Aus den internen Unterlagen geht außerdem hervor, dass Karl-Erivan Haubs Pass am 20.7.2014 aus Baku kommend in Moskau bei der Einreise gescannt wurde. 495 Aus Veronika E.s Reisedaten geht wiederum hervor, dass sie am 18.7.2014 von Moskau aus in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku reiste und am 21.7.2014 bereits wieder in Moskau war und nach St. Petersburg flog. 496 Die Vermutung liegt daher auf der Hand, dass sie gemeinsam mit Haub von Baku zurück nach Moskau gereist ist.

Moskau und Tiflis, Georgien (2015)

Den Unterlagen der internen Ermittler zufolge hält sich Karl-Erivan Haub am 28.7.2015 in Moskau auf und reist von dort aus weiter nach Düsseldorf. 497 Seine Einreise in die Russische Föderation ist hingegen nicht hinterlegt. Aus den Reisedaten der jungen Russin geht hingegen hervor, dass sie am 24.7.2015 in die georgische Hauptstadt Tiflis reist und von dort aus am 27.7.2015 zurück nach Moskau. 498 Da Haubs Einreise nach Russland nicht hinterlegt ist, ist es sehr gut möglich, dass er sich vor seinem Aufenthalt in Moskau gemeinsam mit der jungen Frau in Georgien aufgehalten haben könnte.

Moskau (2017)

Im Zeitraum vom 20./21. Juli 2017 gibt es eine Überschneidung der Reisedaten in Moskau. Veronika E. fliegt dann vermutlich weiter nach Kasan, wo sie bis zum 27.7.2017 bleibt. Doch auch hier sind wieder seltsame Doppelbuchungen hinterlegt: Es wäre auch denkbar, dass die Russin am 22.7.2017 nach Madrid und am 31.7.2017 von Amsterdam zurück nach St. Petersburg geflogen ist. 499

Wir können nun also mit Sicherheit sagen, dass sich Veronika E. und Karl-Erivan Haub seit mindestens 2008 mehrfach zur gleichen Zeit an denselben Orten aufgehalten haben. Bei der Nachtzugreise können wir zusätzlich mit Sicherheit sagen, dass die Buchung gleichzeitig und von derselben Person durchgeführt wurde. Dass die junge Frau extra für die gemeinsame Reise aus St. Petersburg anreist und dann ebenjene Strecke keine 24 Stunden wieder zurückfährt, empfinden wir als sehr auffällig. Auch dass die Reise in getrennten Kabinen stattfindet, ist aus meiner Sicht ein Indiz dafür, dass der Kontakt nicht ausschließlich privater Natur war, sondern eher geschäftlich oder nachrichtendienstlich sein könnte. Viele Fragen werfen auch die Kurztrips ins sibirische Omsk, in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku und in die albanische Hauptstadt Tirana auf. Was wollte der Milliardär dort jeweils für wenige Stunden? Warum wusste innerhalb der Firma Tengelmann niemand über diese Reisen Bescheid? Und welche Rolle spielt die junge Russin?

Als Nächstes schauen Sergej und ich uns das Reiseverhalten von Veronika E. nach dem 7. April 2018, dem Tag des Verschwindens, an. Wir wissen, dass sie mit einem Zug von St. Petersburg nach Moskau gefahren ist. Die Buchung erfolgte am Vortag, wenige Minuten nach einem Telefonat mit Karl-Erivan Haub. 500 Der Aufenthalt in Moskau dauert nur wenige Tage, am 11. April geht es dann schon wieder zurück nach St. Petersburg. Kurze Zeit später geht es weiter nach Miami, wo sie knapp zwei Wochen bleibt. Im Anschluss reist sie fast nahtlos weiter nach Frankfurt, wo sie ebenfalls nur wenige Tage bleibt.

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Im Juni 2018, unmittelbar nach der Zeit in Frankfurt, findet die Beschattung der internen Ermittler statt und die junge Frau wird mehrfach dabei beobachtet, wie sie das ominöse »Forschungszentrum« im Gebäude des Marriott Hotels in Moskau aufsucht. 501 Den Standort ihres Autos in dieser Gegend können Sergej und ich anhand der geleakten Daten aus der Park-App ebenfalls bestätigen. Außerdem wissen wir, dass die Recherche der Ermittler vor Ort in dieser Zeit wohl aufgeflogen ist, zumindest gab es laut Abschlussbericht Zermatt RU 2 nach dem Besuch in der Eventagentur eine telefonische Drohung. 502

Das restliche Jahr 2018 verbringt die junge Frau auch weiterhin viel auf Reisen, auch fliegt sie Ende Oktober ein weiteres Mal nach Miami. Ihre Reisen in die USA nehmen ab dem Zeitpunkt des Verschwindens des Milliardärs bis ins Jahr 2021 deutlich zu. 503 Ich verbringe Tage damit, die Reisedaten von Veronika E. zu studieren. Und auch nachdem die RTL- Dokumentation »Tengelmann: Das mysteriöse Verschwinden eines Milliardärs« im Juni 2021 ausgestrahlt ist, öffne ich die Excel-Tabelle immer wieder: Die 201 Seiten lassen mich nicht mehr los.

Im Verlauf der Recherche baute Sergej einen direkten Kontakt mit der Agenturchefin von Russian Event auf: Olga Shishkova. Wir gewinnen den Eindruck: Sie will alles, was mit Veronika E. zu tun hat, möglichst weit von sich fernhalten. Ihren Schilderungen nach hat die junge Frau eigentlich nie wirklich in der Agentur gearbeitet und sowieso hat niemand etwas über sie gewusst. Nach den Worten der Russian Event -Chefin steht nur ein Bruchteil der Reisen in Zusammenhang mit Veronika E.s Tätigkeit in der Eventagentur. Sie sei »niemals« 504 auf Geschäftsreise nach Moskau gegangen, alle Reisen zwischen 2000 und 2010 seien »rein privater Natur« 505 gewesen, ebenso alle Reisen nach 2017. 506 Zwischen 2012 und 2016 sei Veronika E. »zweimal im Jahr« 507 zu verschiedenen Reisemessen gereist, »drei- bis viermal« sei sie in der gesamten Zeit beruflich in Deutschland gewesen. Außerdem weist uns die Agenturchefin darauf hin, dass die uns vorliegenden Reisedaten nicht vollständig seien: Verbindungsflüge innerhalb der EU oder den USA seien gar nicht aufgelistet. 508

Wir hatten uns das aufgrund der seltsamen Buchungsmuster ebenfalls schon gedacht, und Tatsache ist auch, dass wir lediglich auf die Daten aus einem Leak zurückgreifen können. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie nicht vollständig sind. Um sich ihre Wohnung und die vielen Reisen zu finanzieren, muss sie über weitere Geldquellen verfügen. Und die Wahl der Reiseziele (z.B. weniger als 24 Stunden in der autonomen Republik Baschkortostan im Jahr 2018 509 ) lässt vermuten, dass es nicht um Wellnesstrips geht.

Während ich über den seitenlangen Reisedaten brüte und versuche, hinter all den einzelnen Buchungen einen Sinn zu erkennen, denke ich darüber nach, was uns der Leiter der internen Ermittlungen bei unserem ganztägigen Termin am 16. Februar 2021 gesagt hat: Erst nach dem Verschwinden des Milliardärs im April 2018 sei aufgefallen, dass der nun Verschollene mehrfach ohne ersichtlichen Grund in Russland unterwegs gewesen war. Nie habe er Personenschützer mitgenommen, er muss sich vor Ort also sicher und beschützt gefühlt haben. Von wem? Von Veronika, die ihn mehrfach begleitete? Oder von jenen, die hinter der jungen Russin stehen? Der Tengelmann-Sicherheitschef geht ganz klar davon aus, dass der Milliardär in Begleitung von Personen gewesen sein muss, »in deren Gegenwart er sich entweder sehr sicher fühlt« oder die »für seinen Schutz bürgen«. 510

Laut der Agenturchefin Olga Shishkova seien alle Reisen zwischen 2000 und 2010 »rein privater Natur« gewesen. Gleichzeitig bestätigt sie, dass Veronika E. den Milliardär bereits seit der Geburtstagsfeier von Helga Haub im Jahr 2004 kenne. Ich schaue mir daher die Reiseziele aus dieser Zeit noch einmal genauer an.

Der Lebenslauf von Veronika E. weist in den internen Tengelmann-Dokumenten zwischen 2002 und 2007 eine Lücke auf, 511 von ihrer Agenturchefin wissen wir jedoch, dass sie zumindest zwischen 2002 und 2005 ab und zu für Russian Event gearbeitet hat, in dieser Zeit jedoch nie beruflich im Auftrag der Eventagentur verreist sei. 512 Wohin reiste die junge Frau also kurz nach ihrem Uni-Abschluss? Sie war ja quasi nonstop unterwegs. Schauen wir uns beispielsweise einen typischen Reisemonat in dieser Zeit an, den Dezember 2007: 513 Für den 3. Dezember gibt es eine Doppelbuchung. War die junge Frau nun von Astrachan auf dem Weg nach Wolgograd oder doch auf der Krim? Die schlüssigste Variante ist, dass sie am 3. Dezember auf die Krim flog und von dort aus am 5. Dezember weiter nach Moskau reiste, am selben Tag von Moskau in die Millionenstadt Wolgograd flog und drei Tage später, am 8. Dezember, von dort wieder zurück nach Moskau. Dann pendelte sie ein wenig zwischen St. Petersburg und Moskau, bevor es kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember für knappe zwei Tage in die Industriestadt Samara ging, von wo sie am 22. Dezember wieder zurück nach Moskau reiste. Der Dezember 2007 ist exemplarisch für ihr Reiseverhalten: Sie ist viel unterwegs, hat offenbar konkrete Ziele, bleibt selten länger als ein bis zwei Tage. Von den meisten Städten, die sie besucht, habe ich bisher wenig gehört. Aus diesem Grund beginne ich, diese Orte zu recherchieren: Die wenigsten sind für ihre tolle Architektur oder touristische Sehenswürdigkeiten bekannt, fast alle sind Industriestädte, die meisten mit einem Schwerpunkt auf Rüstungsindustrie oder sie sind Standorte russischer Militärstützpunkte.

Reiseziele mit Bezug zu geopolitischen Konflikten

Seit dem international nicht anerkannten Anschluss der Halbinsel Krim an Russland im März 2014 ist Simferopol die Hauptstadt der Autonomen Republik Krim. Zum Zeitpunkt der ersten Reisen von Veronika E. im Jahr 2005 ist die Krim jedoch noch Teil der Ukraine. Man nennt Simferopol auch »das Tor zur Krim«, da hier alle Wege zusammenkommen. Die Krim ist – wie spätestens seit der Annexion durch Russland 2014 allen bekannt sein dürfte – von herausragendem Interesse für die russische Geopolitik. In Sewastopol auf der Krim befindet sich der Standort der russischen Schwarzmeerflotte. Die junge Frau besucht die Krim mehrfach vor der Annexion, und zwar in den Jahren 2005, 2007, 2009, 2010 und 2014. Bis auf den letzten Besuch 2014 (dem Jahr der russischen Annexion) sind ihre Besuche jeweils sehr kurz.

Im Jahr 2006 reist Veronika E. für wenige Tage in die nordkaukasische Industriestadt Stawropol. Ein wichtiger Teil der russischen Streitkräfte ist hier angesiedelt, außerdem hat die Rüstungsfirma Signal hier ihre Werke, die vor allem funkelektronische Spezialtechnik für die Luftfahrt herstellt. Stawropol grenzt im Osten an die Unruheprovinz Tschetschenien, immer wieder kommt es hier zu blutigen Bombenanschlägen. Auch Bergkarabach, die ewige Krisenregion zwischen Armenien und Aserbaidschan, ist nicht weit von Stawropol entfernt.

Im Jahr 2007 reist Veronika E. innerhalb weniger Wochen in die Städte Sotschi, Krasnodar, Novosibirsk, Barnaul, Omsk, Astrachan, Simferopol (Krim), Wolgograd, Kurumotsch und Samara. 514 Die wichtigsten Branchen in der sibirischen Millionenstadt Novosibirsk sind Rüstungsindustrie, Flugzeugbau (Tschkalow-Flugzeugwerke), Maschinenbau, Landmaschinenbau, Metallindustrie, Elektrotechnik und Elektronik, die IT-Branche, die chemische und pharmazeutische Industrie, die Leicht- und Lebensmittelindustrie sowie der Baumaterialiensektor. Im westsibirischen Barnaul wird unter anderem Munition hergestellt, der Name Barnaul ist so etwas wie ein Synonym für russische Munition. 515

Die sibirische Millionenmetropole Omsk gilt als einer der wichtigsten Standorte der russischen Rüstungsindustrie. Nach 1941 gab es hier mehr als 240 Betriebe, die auf die Herstellung von Munition und Waffen spezialisiert waren, das brachte der Region den Spitznamen »Waffenschmiede Russlands« ein. Noch heute hat das Unternehmen Transmash seinen Sitz in der Stadt, es stellt unter anderem Militärfahrzeuge, selbstfahrende Artillerie und Mehrfachraketenwerfer her.

Astrachan ist eine Stadt an der Wolga und ein wichtiger Warenumschlagplatz zwischen Europa und den Anrainern des Kaspischen Meers. Dort befindet sich das Hauptquartier der Kaspischen Flotte der Russischen Marine. Auch Samara gilt als ein wichtiger Standort der russischen Rüstungsindustrie und zählt zu den bedeutendsten Wirtschaftsstandorten der Russischen Föderation. Die wichtigsten Industriezweige sind der Maschinenbau und die Metallverarbeitung, mit der Herstellung von Geräten für die Weltraumtechnik, dem Flugzeugbau (Typ Tupolew) und Flughäfen. In Samara hat die Firma ZSKB Progress ihren Sitz, in der die Sojusraketen gebaut werden, die seit 1966 in den Weltraum fliegen. Wolgograd ist eine russische Millionenstadt an der unteren Wolga. Sie fungiert als bedeutender Verkehrsknotenpunkt und wichtiges Industriezentrum.

Im Mai 2008 reist die junge Russin für knapp zwei Tage nach Saratow an der mittleren Wolga. Bis 1992 war Saratow eine »geschlossene Stadt«, weil dort chemische Waffen sowie Militärflugzeuge hergestellt wurden. Die Rüstungsindustrie prägt die Stadt bis heute: Bis zu 60 Prozent der Unternehmen aus dem Maschinen- und Gerätebau sind auf Rüstungsgüter spezialisiert. In der Saratower Region gibt es 18 große Produktionsvereinigungen der Rüstungsindustrie und acht Forschungs- und Entwicklungsinstitute für Waffenentwicklung.

Im Juni und Juli 2008 hält sich Veronika E. jeweils für knapp zwei Tage in Weißrussland auf. Anschließend fliegt sie dann direkt weiter nach Sotschi, wo sie am 11. Juli 2008 mutmaßlich Karl-Erivan Haub trifft, der sich zeitgleich mit ihr in der weißrussischen Hauptstadt Minsk aufgehalten hat und dann ebenfalls nach Sotschi weiterreist. Obwohl sich Karl-Erivan Haub und die junge Russin zu diesem Zeitpunkt laut Aussage der Agenturchefin Olga Shishkova bereits seit mindestens vier Jahren kennen müssen, ist diese zeitgleiche Reise nach Minsk und Sotschi im Jahr 2008 der erste dokumentierte gemeinsame Aufenthalt. Unmittelbar nach dem mutmaßlichen Treffen mit Haub fliegt die junge Russin dann für knapp 24 Stunden nach Penza, wo sich das Technische Artillerieinstitut Penza befindet. Siebzehn Kilometer südöstlich der Stadt liegt das Chemiewaffenlager Leonidowka, rund 550 Kilometer von Moskau, in der Nähe einer der sieben großen Lagerstätten für Chemiewaffen des Landes. Dort lagern fast 7.000 Tonnen Nervengas. Ebenfalls im Juli 2008 reist Veronika nach Rostow am Don, dem »Tor zum Kaukasus«. Wie lange die junge Frau dort bleibt, ist unseren Datensätzen nicht zu entnehmen.

Sergej und ich versuchen, uns einen Reim auf die Reiserouten und Ziele zu machen. Auf einer Russland-Karte markiere ich für das Jahr 2007/2008 alle Ziele der jungen Frau. Von Karl-Erivan Haub wissen wir sowohl aus den internen Dokumenten als auch durch unsere eigene Recherche, dass er sich zwischen 2008 und 2012 mindestens achtmal in Sotschi, Krasnodar und Astrachan sowie einmal in Wolgograd aufgehalten hat.

Und auch wenn es vielleicht wirklich nur ein Zufall sein könnte: All diese Orte liegen in einer für Russland geopolitisch hochinteressanten Zone, nämlich zwischen der Ukraine auf der westlichen Seite und der Grenzregion Aserbaidschan und Armenien auf der südlichen Seite.

Was haben Veronika E.s Reisen zu bedeuten?

Sergej und ich besprechen unsere Rechercheergebnisse mit dem Geheimdienstexperten Malte Roschinski. Wir alle teilen die Auffassung, dass die Reisen nicht mit einer Tätigkeit in einer kleinen Eventagentur zu erklären sind. Zumal die junge Frau ja laut Aussage ihrer ehemaligen Chefin Olga Shishkova diese Reisen ohnehin nicht im Auftrag der Agentur getätigt haben soll und zudem zeitweise gar nicht dort angestellt war. Gleichzeitig lässt das geringe offizielle Gehalt von Veronika E. den Rückschluss zu, dass diese Reisen nicht von ihrer offiziellen Einkommensquelle bestritten werden. Da wir jedoch in den offiziellen Datenbanken keine Informationen über sonstige Geldquellen finden, bleibt die Frage nach der Finanzierung weiterhin offen.

Der Geheimdienstexperte Malte Roschinski hält es für sehr gut möglich, dass die junge Frau, wie auch aus den internen Tengelmann-Dokumenten hervorgeht, tatsächlich für einen der russischen Nachrichtendienste tätig ist. Auch sind sich sowohl der Tengelmann-Sicherheitschef als auch Malte Roschinski einig: Der Werdegang von Veronika E. lässt darauf schließen, dass es innerhalb des Nachrichtendienstes zu einer Art »Beförderung« gekommen sein könnte, womit sich das veränderte Reiseverhalten ab 2012 erklären ließe. Vor allem ihre Reisen vor 2012 lassen den Verdacht aufkommen, dass die junge Russin in irgendeiner Form etwas mit dem Militär, der Rüstungsindustrie oder sonstigen innenpolitischen russischen Interessen zu tun haben könnte.

Auch die Tatsache, dass sie viel beschäftigt zu sein scheint, obwohl sie teilweise gar keiner offiziellen Arbeit nachgeht, könnte diesen Rückschluss zulassen. Die teilweise sehr kurzen Aufenthalte lassen darauf schließen, dass die Reisen zweckgebunden , also dienstlicher Natur waren, und keine Vergnügungs- und Freizeitreisen. Die vielen Doppelbuchungen, Stornierungen und Umbuchungen könnten Versuche darstellen, die Spuren des eigentlichen Aufenthalts zu verwischen. Zumindest wird auch an dieser Stelle deutlich, dass Geld keine Rolle spielt.

Die Art und Weise, wie die gemeinsamen Reisen von Veronika E. und Karl-Erivan Haub stattgefunden haben, zum Beispiel in getrennten Kabinen im Nachtzug oder zu Zielen wie Omsk, erhärten bei uns die Vermutung, dass die beiden in keiner Liebesbeziehung miteinander stehen – oder zumindest, dass eine Liebesbeziehung nicht der vorrangige Grund der Reisen ist. Mir scheint die Russin eher eine Begleiterin vor Ort zu sein, wie beispielsweise bei der Reise von Minsk nach Sotschi, wo die junge Frau Linie fliegt, während Haub und seine Begleiter im Privatjet reisen.

Der russische Pass

Nach eingehender Analyse der 201 Seiten Reisedaten sind wir uns alle sicher, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmen kann. Da wir bei den Reisen im Einzelnen fürs Erste nicht weiterkommen, nehmen Sergej und ich uns nun den angeblichen russischen Pass vor, den Karl-Erivan Haub laut der internen Dokumente für mehrere Reisen genutzt haben soll. Alleine seine Existenz wäre von herausragender Bedeutung, da der Tengelmann-Chef neben der deutschen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, also eine dritte Staatsbürgerschaft illegal wäre. In jedem Falle würden sich die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland und den USA für diesen Pass interessieren, da sich selbstverständlich die Frage stellt, wie der Milliardär an ihn gekommen ist: über offizielle Quellen sicher nicht.

Aus den internen Tengelmann-Dokumenten 516 geht hervor, dass Karl-Erivan Haub mehrere russische Pässe gehabt haben soll. Bekannt sind zwei Passnummern 52 2436433 und 52 23857585. Diese Informationen stammen von der vor Ort in Russland ermittelnden Agentur, deren beide Vertreter (der ehemalige Mitarbeiter des Militärischen Abschirmdienstes der Bundeswehr und der ehemalige Verbindungsoffizier von Wladimir Putin bei der Stasi) inzwischen tot sind. Als die beiden noch lebten, erklärten sie dem Sicherheitschef und seinem Berater, ihre Informationen über den angeblichen russischen Pass hätten sie aus zwei verschiedenen Quellen bekommen: über persönliche Kontakte beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB und durch Auszüge aus einer Reisedatenbank (jener Datenbank, die auch Sergej und ich angezapft haben).

Sergej und ich wundern uns zunächst, dass die beiden Nummern unterschiedlich lang sind. Bei einer Überprüfung der Daten aus dem Abschlussbericht mit den Daten aus dem Datenleak fällt uns auf, dass in dem internen Dokument bei der ersten Nummer eventuell eine »6« vergessen wurde: Dem Verfasser des internen Berichts wäre hier also ein Versehen passiert. Diese Erkenntnis stellt uns aber vor eine neue Fragestellung: Wir wissen, dass russische internationale Reisepässe NEUN Ziffern haben, russische Inlandspässe jedoch ZEHN. Was also liegt uns hier vor? Ein inländischer Pass oder ein internationaler Reisepass? Russische Pässe sind von den Zahlen her einem genauen Schema zuzuordnen. Es ist recht starr und einfach nachzuvollziehen. Der inländische Pass ist grüppchenweise aufgeteilt: Das erste Ziffernpaar gibt den Ausstellungsort an, im Falle der 52 ist das die Region Omsk. Das nächste Ziffernpaar zeigt das Jahr an, in dem der inländische Pass ausgestellt worden ist. Im Fall von KEH wäre das 1923/1924 oder 2023/2024. Beide Kombinationen ergeben keinen Sinn.

Die Nummer des internationalen russischen Reisepasses besteht aus NEUN Ziffern, oben rechts in der Ecke platziert. Das erste Ziffernpaar gibt dabei an, welche Behörde den Pass ausgestellt hat. Mitglieder der Regierung haben als erste beiden Ziffern beispielsweise eine 10, Diplomaten eine 20. Die 50er-Reihe wird vom Außenministerium ausgegeben; das würde sich mit den internen Ermittlungsakten decken: Dort ist vermerkt, dass das »Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten« den Pass ausgestellt habe. 517 Bleibt nur die Frage, warum in dem Dokument zehnstellige Nummern auftauchen. Wir haben dafür eine mögliche Erklärung gefunden. Oben rechts: die gleiche neunstellige Nummer. Unten links: noch eine zehnte Ziffer vor der Nationalität (RUS) hinzugefügt.

Wir wissen nun also, dass es vom Aufbau der Nummer her theoretisch möglich sein könnte , dass Karl-Erivan Haub einen russischen Reisepass hat. Aus diesem Grund wollen wir ihn in den Datenbanken suchen. Sofern man die vollständige Nummer hat, sollte es möglich sein, über Sergejs Kontakte in den russischen Foren an einen Datenbankauszug heranzukommen. Doch die Wochen verstreichen und Sergej und ich erhalten keine Rückmeldung von seinen Kontakten zu den Pässen. Immer wieder liefern sie uns jedoch Dokumente, die wir schon kennen: Datenbankauszüge von seinen Reisen beispielsweise. Doch auch in diesen Dokumenten wird der Milliardär immer als »deutscher Staatsbürger« geführt. Nicht als russischer Staatsbürger. Vielleicht stimmen diese Information einfach nicht? Oder ist es vielmehr so, wie in den internen Tengelmann-Dokumenten steht, dass »Kopien dieser damals ausgegebenen Dokumente für die Recherchen z.Z. nicht zugänglich« sind? 518 Im Protokoll von Christian Haubs Vertrautem ist zu lesen, dass man »eine Kopie des Passes (…) damals für rund 10.000 Euro [hätte] erwerben können«, dies aber dann nicht getan habe. »Allein die ›Passöffnung‹ im System durch einen dortigen Mitarbeiter habe in Russland ebenso Wellen geschlagen (…) und für Ärger für die betreffenden Beamten geführt«. 519

Welche Version auch immer der Wahrheit entspricht: Sergej und ich können die angeblichen russischen Pässe nicht verifizieren – wir können jedoch auch nicht mit Sicherheit sagen, dass es sie nicht gibt.

Das gescheiterte Tengelmann-Russland-Geschäft

Nachdem Sergej und ich große Teile der internen Dokumente verifizieren konnten, wollen wir uns nun die Hintergründe des gescheiterten PLUS- Russland-Geschäfts genauer anschauen. Wir finden dieses Scheitern besonders auffällig, da Tengelmann mit OBI seit Jahrzehnten erfolgreich auf dem russischen Markt vertreten ist. Das Management, genauer gesagt Karl-Erivan Haub und sein engster Berater, der ehemalige Top-Manager, kennt sich also mit dem dortigen Marktumfeld aus. Was also lief bei PLUS so anders? Zunächst schauen wir uns daher noch einmal das erfolgreiche OBI-Geschäft an: Anfang der 2000er-Jahre baut der Handelskonzern in einem gemeinsamen Joint Venture mit dem russischen Milliardär Igor Sossin das Filialnetz der Baumarktkette auf. Tengelmann gehören dabei 51 Prozent der Anteile und dem Russen 49 Prozent. Das Geschäft ist lukrativ, und 2016 beschließt der Tengelmann-Chef, seinen ehemaligen Geschäftspartner auszubezahlen: OBI gehört nun zu 100 Prozent der Tengelmann Gruppe. 520 Diese Tatsache ist sehr wichtig, denn die Übernahme findet nach der Krim-Krise statt, welche ja laut dem Bericht von Alvarez & Marsal als Grund für das Scheitern des PLUS-Russland-Geschäfts genannt wird: Die Sanktionen, die das PLUS-Geschäft angeblich so stark beeinträchtigt haben sollen, dass es scheiterte, müssen Haub und dem ehemaligen Top-Manager zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen sein.

Die Idee, mit der Supermarktkette PLUS den russischen Markt zu erobern, entstand in den Jahren vor 2010. Doch irgendetwas lief bei dieser Expansion gründlich schief: Mehr als 40 Millionen Euro verschwinden, keine einzige Filiale wird eröffnet. Und schließlich wird das ganze Geschäft 2015 für beendet erklärt. Es bleibt ein Misserfolg auf ganzer Linie. Wie konnte es dazu kommen? Karl-Erivan Haub ist seit 2000 der unangefochtene Herrscher über den Tengelmann-Konzern. Aus vielen Presseartikeln und Gesprächen mit Journalistenkollegen wissen wir, dass er sich von so gut wie niemandem ins Geschäft hat reden lassen. Die einzige Ausnahme: Von seinem langjährigen Berater.

Gemeinsam mit ihm geht Haub das Projekt »Expansion in den Osten« an. Und sowohl aus den internen Tengelmann-Dokumenten als auch aus dem Bericht der Datenforensiker von Alvarez & Marsal geht hervor, dass die Geschäftspartner für das PLUS-Russland-Geschäft über diesen fast väterlichen Freund gesucht und gefunden wurden: Andrej Suzdaltsev, Sergej Grishin und Ilya Brodski. Auf meine Presseanfrage teilt dessen Anwalt jedoch mit, dass er von den dreien lediglich Andrej Suzdaltsev kenne und mit diesem eine rein private Beziehung pflege. 521 Diese »rein private« Beziehung ist jedoch wertvoll genug, um im Jahr 2010 zusammen mit Tengelmann ein gemeinsames Joint Venture zu gründen, in dessen Verlauf die Tengelmann Gruppe über die Plus Russland Holding insgesamt 42,5 Millionen Euro in das Projekt einfließen lässt. Die russischen Partner Suzdaltsev, Grishin und Brodski halten ihre Anteile über die Tecfocus Investments Ltd. mit Sitz im Offshore-Paradies Zypern. 522 Schon während dieser Zeit fällt anderen Mitarbeitern bei Tengelmann auf, dass etwas mit dem Russland-Geschäft nicht stimmt. Laut mehreren internen Quellen sind es jedoch Karl-Erivan Haub und der ehemalige Top-Manager selbst, die eine interne Revision immer wieder verzögern und schließlich im Sande verlaufen lassen. Laut dem Tengelmann-Sicherheitschef und den Prüfern der international renommierten Unternehmensberatung kann außerdem niemand so richtig nachvollziehen, warum für das Russland-Geschäft Uwe K. und Markus S. als Geschäftsführer eingesetzt werden. Beide waren zuvor für PLUS-Gesellschaften in Bulgarien und Rumänien verantwortlich, und in beiden Ländern hatte die interne Revision erhebliche Unregelmäßigkeiten festgestellt. Auch davon wusste Karl-Erivan Haub. Und er billigte es.

Die Wahl der Geschäftspartner Sergej Grishin, Andrej Suzdaltsev und Ilya Brodski wirft indes die größten Fragen auf. Ihre Verwicklung in Betrug, Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Offshore-Geschäfte war teilweise bereits damals öffentlich bekannt. Auch der Zeitraum des gemeinsamen Joint Ventures (2010–2015) ist hochinteressant. In nahezu demselben Zeitraum, zwischen 2010 und 2014, kommt es zu einem der größten Geldwäscheskandale der russischen Geschichte. Im sogenannten Russischen Waschsalon wurden bis zu 80 Milliarden Euro aus Russland herausgewaschen. Zu den Drahtziehern des Skandals gehörte unter anderem die Bank der drei: die Rosevrobank .

Haubs väterlichen Berater fällt mit dubiosen Geschäften in Russland auf

Immer wieder taucht in den Erzählungen des Tengelmann-Sicherheitschefs, aber auch im Protokoll von Christian Haubs Vertrautem sowie im Bericht von Alvarez & Marsal der Name des Familienberaters und ehemaligen Top-Managers auf. Und in allen Fällen wird ihm im Hinblick auf die Ermittlungen nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub und seinen geschäftlichen Verbindungen nach Russland ein mehr oder weniger sonderbares Verhalten nachgesagt.

Während im Bericht der international renommierten Unternehmensberatung vor allem die Wahl der russischen Geschäftspartner sehr negativ auffällt und ihm vorgeworfen wird, die Aufarbeitung des gescheiterten PLUS-Geschäfts in Russland blockiert zu haben, beschreibt der Tengelmann-Sicherheitschef, Karl-Erivan Haubs enger Vertrauter und Berater habe die Ermittlungen nach dem Verschwinden in Russland mehrfach »torpediert«, indem er auf die Familie Einfluss genommen habe und die Ermittlungen daraufhin finanziell nicht weiter unterstützt worden seien. Auf meine Frage, wann er seinen Einfluss geltend gemacht habe, antwortete der Leiter der internen Ermittlungen bei unserem Termin: »Na, kurz bevor wir ihn (Karl-Erivan Haub 523 ) in Russland hatten.« 524 Am weitesten gehen jedoch die Verfasser des Dossiers, die dem ehemaligen Top-Manager vorwerfen, »30 Jahre lang für russische Nachrichtendienste gearbeitet zu haben«, inzwischen aber »nicht mehr für die russische Seite tätig« zu sein. Außerdem sei dieser »in Russland in ›Ungnade‹ gefallen«. 525 Für Sergej und mich stellt dieser Teil der Recherche eine sehr große Herausforderung dar, da fast alle Informationen mehr oder weniger auf »Hörensagen« beruhen. Weder haben wir Zugriff auf die primären Geheimdienstquellen noch haben wir Zugriff auf die Verfasser des Dossiers , die inzwischen tot sind. Wir müssen uns entscheiden, ob wir den Aussagen und Einschätzungen des Tengelmann-Sicherheitschefs vertrauen oder nicht. Lediglich das Dokument von Alvarez & Marsal ist ein unangefochtener Beweis, da die Wirtschaftsprüfer einen umfassenden Zugang zu internen Tengelmann-Dokumenten, Servern und Mitarbeitern hatten, die Auskunft über die Vorgänge rund um das PLUS-Geschäft in Russland geben konnten. Zudem war es Sinn und Zweck der Arbeit, eine forensische, also vor Gericht verwertbare Zusammenfassung zu dem gescheiterten Geschäftsvorhaben in Russland zu erstellen.

Zunächst beginnen Sergej und ich daher mit einer formellen Recherche zu Haubs engem Vertrauten und Berater. Er gilt in der Branche als ein Macher, ein harter Hund. Vor allem in den 1990er-und 2000er-Jahren ist er erfolgreich im deutschen Mittelstand tätig. Dass er laut den Aussagen des Tengelmann-Sicherheitschefs mehrfach die hauseigenen Recherchen nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub boykottiert, wirft natürlich noch ein ganz anderes Licht auf die Situation. Höchst seltsam ist auch die Aussage, der ehemalige Top-Manager sei lange Zeit in »Alkohol- und Zigarettenschmuggel involviert gewesen«. 526

Wie sollen Sergej und ich diese vermeintliche Geheimdiensttätigkeit oder mögliche Verstrickungen in die Organisierte Kriminalität beweisen? Ein Interview lehnt der ehemalige Top-Manager ab. Selbst zu einem inoffiziellen Hintergrundgespräch ist er nicht bereit. Die gesamte Kommunikation mit uns findet nur über seinen Anwalt statt. Anfang März schicke ich daher einen äußerst umfangreichen Fragenkatalog an die Kanzlei, die ihn presserechtlich vertritt. 527 Zunächst weist die Kanzlei alle Nachfragen bezüglich des gescheiterten Russland-Geschäfts ihres Mandanten ab, da dieser nach seinem Ausscheiden nicht autorisiert« sei, »Angaben zu machen«. 528 Wir mögen unsere »Fragen direkt an Tengelmann richten«. 529 Die Antwort ist natürlich Blödsinn, da ja aus den internen Tengelmann-Akten selbst hervorgeht, dass die Rolle des ehemaligen Top-Managers im Rückblick viele kritische Fragen aufwirft.

Weiter geben die Anwälte an, ihr Mandant kenne lediglich Andrej Suzdaltsev persönlich, nicht jedoch einen Mann namens Michael Dokukin, der als enger Kontakt im Dossier genannt wird. Später werden die Anwälte diese Aussage jedoch wieder zurückziehen und erklären, ihr Mandant habe »seine über zehn Jahre alten Terminkalender« überprüft und nun doch festgestellt, dass er Michael Dokukin »einmalig« getroffen habe. Eine geschäftliche Beziehung habe jedoch nicht bestanden. 530

Auf Sergej Grishin gehen die Anwälte nicht ein, obwohl wir auch nach ihm explizit fragen. Auf die Frage, warum bei der Wahl der Geschäftspartner auf eine Überprüfung der Integrität verzichtet wurde, antworten die Anwälte, dass Suzdaltsev »eine rein persönliche Bekanntschaft« sei und es gebe »keinerlei geschäftliche Beziehung«. Es sei daher »nicht üblich und war angesichts des rein persönlichen Verhältnisses auch zu keinem Zeitpunkt angezeigt, die Integrität des Herrn Andre Suzdaltsev zu überprüfen«. 531 Na ja. Immerhin kommt es zwischen dem »rein persönlichen Kontakt« und der Firma Tengelmann zu einem gemeinsamen Joint Venture.

Ich habe den Eindruck, hier will sich jemand aus der Affäre ziehen. Sich an dieser Stelle mit einem »rein persönlichen Kontakt« herauszureden, halte ich für zumindest fragwürdig. Außerdem geben die Anwälte an, ihr Mandant halte »nachweislich keinerlei Unternehmensbeteiligungen in Russland«. 532 Auch diese Aussage werden wir später widerlegen können. Zudem sei »unzutreffend«, dass er »während seiner Tätigkeit als Berater für Tengelmann einen Rückzug des Unternehmens aus dem Russland-Geschäft befürwortet« habe. 533 Diese Aussage steht jedoch in direktem Widerspruch zu den Recherchen der Wirtschaftsprüfer von Alvarez & Marsal, die eine Vielzahl interner Dokumente einsehen und mit damals beteiligten Mitarbeitern sprechen konnten. Auch der Leiter der internen Ermittler und der Krisenmanager haben den Sachverhalt völlig anders in Erinnerung. Zu möglichen Verbindungen des langjährigen Beraters zum russischen Geheimdienst erfahren wir von seinen Anwälten, dass dies »jedweder Grundlage« entbehre, wir über »keinerlei verifizierte Quellenangaben verfügen« könnten, ihr »Mandant zu keinem Zeitpunkt Kontakt zum russischen Geheimdienst FSB« gehabt habe und »auch zu keinem Zeitpunkt für den russischen Geheimdienst FSB tätig« gewesen sei. 534 Ihm sei »kein Haftbefehl des FSB bekannt« und es bestünden »auch keine unserem Mandanten bekannte Gründe, die einen solchen Haftbefehl begründen könnten«. 535

Die russischen Bankkonten gebe es »aufgrund der Trennung von seiner damaligen Frau und der Teilübertragung einer gemeinsam mit seiner Frau gehaltenen Immobilie«. 536 Auch die Existenz eines »privaten Bankkontos in der Schweiz« werde durch den »Mandanten keinesfalls bestritten, da die Existenz des Kontos weder rechtlich zu beanstanden« sei, »noch Anlass zu solchen gegen unseren Mandanten sich richtende Spekulationen« gebe. 537 Rein rechtlich mag das ja stimmen, interessant ist es natürlich trotzdem. Auch der Vorwurf, ihr Mandant habe die internen Ermittlungen nach dem mysteriösen Verschwinden von Karl-Erivan Haub »boykottiert«, wie der Tengelmann-Sicherheitschef sowie der Krisenmanager sagen, sei »falsch« und »unzutreffend«. 538 Die Anwälte erklären, ihr Mandant gehe »fest davon aus, dass Karl-Erivan Haub nicht mehr am Leben« sei. 539

»Unwahr« sei auch die Behauptung, ihr »Mandant sei ›aktiv im Zigaretten- und Alkoholschmuggel‹ tätig gewesen«. 540 Die Anwälte weisen uns in aller Deutlichkeit darauf hin, unsere Anfrage enthalte »ganz offenkundig an Sie und auch an andere uns bekannte Medien lancierte Falschbehauptungen, die unseren Mandanten und auch Teile der Familie Haub gezielt und unter Instrumentalisierung der Medien diskreditieren sollen, um damit von Ihrer Informationsquelle verfolgte, eigene wirtschaftliche Interessen zu befördern«. 541

In diesem Punkt treffen die Rechtsberater des ehemaligen Top-Managers ganz sicher ins Schwarze: Für meine Kollegen und mich steht außer Frage, dass wir die belastenden Informationen nicht aus reiner »Nettigkeit« im Auftrag von Christian Haubs engem Vertrauen erhalten haben. Uns war von Beginn an klar, dass wir als »Instrument« in einem Erbschaftskrieg dienen sollen: Ich konnte es ja sogar schwarz auf weiß in den internen E-Mails zwischen dem Krisenmanager und Haubs Vertrautem lesen. Doch mit diesem Wissen müssen wir unsere Recherche eben besonders gründlich vorantreiben. Und Tatsache ist auch, dass wir bisher einen Großteil der uns gelieferten Informationen durch verschiedene Quellen verifizieren konnten.

Und genau das wollen wir nun beim ehemaligen Top-Manager machen. Sergej und ich beginnen daher, uns seine Geschäftsverbindungen nach Russland genauer anzuschauen. Neben seiner Tätigkeit für diverse deutsche Mittelständler ist der ehemalige Tengelmann-Manager nämlich auch privat geschäftlich in der Russischen Föderation involviert: Im Verlauf der Jahre hat er ein kompliziertes Firmengeflecht in Russland aufgebaut. Eingebunden sind neben ihm auch seine Ex-Frau sowie mutmaßlich ein männliches Familienmitglied der Ex-Frau. Außerdem tauchen sowohl die Ex-Frau als auch seine Tochter in einer zypriotischen Briefkastenfirma auf: der Halbinsel Ltd. 542 Auf die Frage, was eigentlich der Geschäftszweck dieser Offshore-Firma sei, haben wir bis heute keine Antwort von den Anwälten erhalten. Die russischen Firmen des Mannes sind jedoch etwas aufschlussreicher, da aus den russischen Firmenregistern auch der Handelszweck zu entnehmen ist. Entgegen den Behauptungen seiner Anwälte hält (bzw. hielt) er Anteile an einer Reihe von Firmen.

Gleich mehrere dieser Firmen haben laut der Beschreibung einer russischen Firmendatenbank als Ziel angegeben, »Großhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln, Getränken und Tabakwaren, Einzelhandel mit Waren verschiedener Art, Getränken und Tabak« zu betreiben. Und auch mit »Kirchendevotionalien und Ikonen« (Der Firmenname bedeutet zu Deutsch »Bild«, »Gebilde«, »Gestalt« oder »Ikone«). Sergej und ich werden stutzig: Warum würde ein deutscher Manager gleich in mehrere Firmen investieren, die vergoldete Heiligenbildchen und geschnitzte Statuen in Russland vertreiben?

Was hat der ehemalige hochrangige Berater mit der Russisch-Orthodoxen Kirche zu tun? Auch aus dem Schaubild des Dossiers über ihn geht eine klare Verbindung zwischen ihm und der Russischen Kirche, ihrem Patriarchen Kyrill und dem russischen Geheimdienst FSB hervor. Wie kommen die Verfasser des Berichts darauf? Ich bespreche meine offenen Fragen mit einer russischen Kollegin. Sie hat uns bereits in der Vergangenheit bei Recherchen unterstützt. Sie ist eine fantastische Journalistin mit hervorragenden Recherchefähigkeiten, die unter anderem für die Washington Post und CNN arbeitet. Von ihr erfahre ich, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche vor allem in den 1990er-Jahren steuerfrei mit Alkohol und Tabak gehandelt habe und die Kirchen-Oberen nicht selten ehemalige Generäle des KGB oder FSB seien. Sofort überprüfen wir diese Aussagen.

Und tatsächlich: Mit »dubiosen Geschäftspraktiken« 543 fuhr die Russisch-Orthodoxe Kirche offenbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Millionengewinne ein. 544 . 545 Außerdem muss man bedenken, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche ihre Gläubigen nicht mit Steuern belegt. Vielmehr finanziert sie sich aus Einnahmen, die »eigene Unternehmen mit Ikonen, Kerzen und sakralem Zierrat erwirtschaften«. 546 Moment. Eigene Unternehmen? Ist es vorstellbar, dass Karl-Erivan Haubs ehemals engster Berater, ein deutscher Geschäftsmann, eine Firma für den Handel mit Kirchendevotionalien in Russland aufbaut, ohne dass die richtigen Stellen in der Russisch-Orthodoxen Kirche und im Staat damit einverstanden sind, es zumindest genehmigen oder vielleicht sogar schützend die Hand über das Business halten? Ich persönlich halte das für nahezu ausgeschlossen. Wissen tun wir es jedoch nicht.

Durch unsere Recherche erfahren wir weiter, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche sich Mitte der 1990er-Jahre zum »führenden Zigarettenimporteur« 547 Russlands entwickelt habe, indem der Russisch-Orthodoxe Patriarch Kyrill »unter dem steuerbefreiten, gemeinnützigen Banner der orthodoxen Kirche« den Import von »hoch besteuerten Produkten, vor allem Tabak« organisiert habe. 548 Das Privileg von zollfreien Importen von Alkohol und Zigaretten hatte die Kirche dank der Unterstützung des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin erhalten. 549 Die kirchlichen Dumpingpreise für Tabak und Alkohol verdrängen einen Großteil der ursprünglichen Importeure vom Markt, 550 da diese sich an die vom Staat verhängten Steuern auch weiterhin halten müssen. Im Jahr 1996 ist die Russisch-Orthodoxe Kirche dann der »konkurrenzlose Branchenführer«, kein Importeur könne auf »ein ähnlich großes Kontingent verweisen«. 551 Die ganze Causa interessiert uns jetzt erst recht. Sergej und ich können mit diesem Hintergrundwissen vage nachvollziehen, wieso die Verfasser des Dossiers eine Verbindung zwischen der Kirche, dem FSB und ebenjenen Manager in den internen Dokumenten festgestellt haben könnten .

Ein Beweis, dass die Vorwürfe gegen ihn stimmen, ist das jedoch nicht. Dafür ist die Sachlage zu dünn .

Wir schauen uns daher die russischen Unternehmensbeteiligungen ganz genau an. Eine Firma gibt als Haupttätigkeit »Facheinzelhandel mit Andenken, kunstgewerblichen Erzeugnissen, Geschenkartikeln« 552 an. Darunter fallen unter anderem der »Großhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln, Getränken und Tabakwaren, ohne ausgeprägten Schwerpunkt«, »Einzelhandel mit Waren verschiedener Art, Hauptrichtung Nahrungs- und Genussmittel, Getränke und Tabakwaren in Verkaufsräumen mit breit gefächertem Warensortiment« sowie »Facheinzelhandel mit Devotionalien und Bestattungsbedarf in Verkaufsräumen«. 553 Das Unternehmen wurde 2005 gegründet und ist seit 2016 nicht mehr aktiv. Der ehemalige Top-Manager hielt dabei als Mehrheitsanteilseigner 55 Prozent der Anteile, die übrigen Geschäftspartner jeweils 15 Prozent.

Eine weitere Firma, die ebenfalls 2016 aufgelöst wurde, gehörte dem deutschen Manager ebenfalls zu 55 Prozent und den russischen Geschäftspartnern wieder zu je 15 Prozent. Sehr interessant ist, dass das Unternehmen im Jahr 2004 bei den Erlösen einen phänomenalen Sprung von 720 Prozent macht. Der Reingewinn steigert sich daraufhin um 47,37 Prozent. 554 Auch eine weitere Firma ist inzwischen nicht mehr aktiv: Das Unternehmen wurde am 22.2.1999 registriert, am 3.3.2007 kommt es laut den Unterlagen jedoch zu einer Veränderung, vermutlich einer Übernahme durch die Bank. Seitdem gehört das Unternehmen zu 100 Prozent der Inwestizionnyj Republikanische bank , die Beteiligungsquote des ehemaligen Tengelmann-Managers liegt bei 0 Prozent. Aus einem weiteren Dokument geht hervor, das Unternehmen sei eine Tochtergesellschaft der Bank. 555 Über Sinn und Zweck des Unternehmens gibt die Datenbank keinerlei Auskünfte.

Auch eine weitere Firma ist inzwischen nicht mehr aktiv. Diese Firma ist aber deshalb sehr interessant, da der Mann auf den ersten Blick nicht in den Firmendaten auftaucht. Seit 2006 ist jedoch seine Holding zu 100 Prozent als Eigentümerin eingetragen, doch im sogenannten Verbindungsbaum taucht dann auch sein Name persönlich auf. Eine weitere Firma gibt an, Gold und Edelsteine zu bearbeiten. Doch dann taucht auch in dieser Firmenbeschreibung auf, sie betreibe »Großhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln, Getränken und Tabakwaren, Großhandel mit Schmuck, Großhandel mit Gold und anderen Edelmetallen, Einzelhandel mit Waren verschiedener Art, Hauptrichtung Nahrungs- und Genussmittel, Getränke und Tabak«.

Unternehmensbeteiligungen in Russland und Ikonenhandel

Der Anwalt des Top-Managers besteht darauf, dass sein Mandant »nachweislich keinerlei Unternehmensbeteiligungen in Russland« 556 halte. Doch das stimmt nicht . Zum Zeitpunkt unserer Recherche gibt es mehrere aktive Unternehmen in einer russischen Firmendatenbank. An einer Firma hält der Top-Manager seit der Gründung 25 Prozent der Anteile. Überraschenderweise macht das Unternehmen allerdings laut der Datenbank überhaupt keinen Gewinn und hat eine rätselhafte Bilanz. Der Datenbank zufolge sei es »unmöglich, eine Schlussfolgerung über die Höhe der Geldsummen und kurzfristigen Finanzlagen zu ziehen«. 557

Das Unternehmen vertreibt Kirchendevotionalien. Als Verwaltungsorgan wird ein gewisser Andrej Z. 558 genannt. Der ist wiederum laut dem Dossier, das mir Christian Haubs enger Vertrauter übergeben hatte, sein Kontaktmann bei den Russlanddeutschen. Auch eine weitere Firma wurde bereits im Jahr 1996 gegründet und ist laut verschiedenen Datenbanken nach wie vor aktiv. 559 Der deutsche Manager hält 75 Prozent der Anteile, seine Ex-Ehefrau die übrigen 25 Prozent. Die Ex-Frau ist seit 2011 als Generaldirektorin eingetragen. 2019 konnte das Unternehmen seinen Reingewinn um mehr als 1.000 Prozent steigern. In Euro umgerechnet sind das mehr als 600.000 Euro. 560

Auch eine weitere Firma, die erst im Januar 2018 gegründet wurde, 561 ist nach wie vor aktiv. Die Ex-Frau des Managers hält daran 75 Prozent, die übrigen 25 Prozent kommen über ein weiteres Unternehmen (hier hält der Manager drei Viertel der Anteile). Das Unternehmen wird eher schlecht bewertet, zwar konnte der Gelderlös im Jahre 2020 um 1.100 Prozent zulegen, doch es gibt nicht genug Mittel zur Tilgung aller kurzfristigen Verpflichtungen im Fall des Verkaufs der Debitorenverschuldung und Reserven. Die Haupttätigkeit des Unternehmens ist unrentabel. Fremdmittel übersteigen deutlich die Eigenmittel. 562 563 Zusätzlich zu den aktiven Firmen finden wir auch noch weitere, uns und den internen Tengelmann-Ermittlern bisher nicht bekannte Firmenbeteiligungen: Die Firma A. (Registrierung am 5.5.1998, geschlossen am 9.6.2014) ist ebenfalls eine Firma, in der die Beteiligung des Managers erst über Umwege sichtbar wird: Eine seiner anderen Firmen hält hier 42 Prozent der Anteile, weitere 16 Prozent hält der mutmaßliche Verwandte der Ex-Frau. 564 Und auch eine weitere Firma taucht als ehemalige Beteiligung des Managers und seiner Ex-Frau auf. Das Paar hielt das Unternehmen zwischen 2002 und 2003 jedoch nur für rund ein halbes Jahr. 565 Über den Sinn und Zweck dieser Firma konnten wir nichts herausfinden.

Die Verbindungen des deutschen Geschäftsmanns zum Ikonenhandel in Russland sind für mich und meine Kollegen schwer nachvollziehbar. Von außen betrachtet wirkt das Geschäft für einen Ausländer eher undurchsichtig und nur mit sehr, sehr guten Kontakten sowohl in die Russisch-Orthodoxe Kirche als auch zum Staat umsetzbar. Doch älteren Medienberichten ist zu entnehmen, dass der ehemalige Tengelmann-Top-Manager im Ikonenhandel ein boomendes Geschäft sieht und er sich zudem angeblich zusammen mit seinen Geschäftspartnern um die Restaurierung der Kirchen des Landes bemühen wolle. Doch die »Unterwelt hat den Wert der hölzernen Ware längst erkannt«, 566 Kriminelle schmuggeln zu diesem Zeitpunkt die Kirchendevotionalien bereits im großen Stil.

Der Handel ist tatsächlich sehr lukrativ, in den 1990er-Jahren werden Preise bis zu 350.000 Mark erzielt. 567 Gerade deshalb tummeln sich auf dem Ikonenmarkt viele Kriminelle, von Schmugglern bis zu Fälschern. 568 569 Der Ikonenschmuggel entwickelt sich gar zu einem »Hauptzweig der russischen Mafia«, 570 einer der Hauptumschlagplätze ist ausgerechnet Deutschland. 571 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden schätzungsweise »27 Millionen Ikonen ins Ausland geschafft«, was »neun Zehntel des Bestands« betrifft. 572 Der Handel mit Ikonen wirkt für mich dubios und wenig durchsichtig. Aus meiner Sicht ist das kein solides Geschäftsmodell, das regelkonform abläuft. Es scheint nur eine hauchdünne Kluft zwischen der Organisierten Kriminalität und seriösen Antiquitätenhändeln zu geben. Und wie wir nun außerdem wissen, sind diese offiziellen Geschäfte in der Regel im Eigentum der Kirche. Aus dem Umfeld des Managers 573 erfahre ich später, dass er »in den 1970er- und 1980er-Jahren von solchen Typen (gemeint sind Personen aus dem Umfeld der Organisierten Kriminalität 574 ) umgeben war, als er irgendwelche Minister (in Russland 575 ) etc. besucht hat.« Und obwohl der Geschäftsmann mit seinen verschiedenen Mandaten bei großen deutschen Mittelständlern ein hohes Einkommen hat, gibt er sich nach außen hin quasi mittellos. Laut einer Quelle aus seinem engsten Umfeld sei er immer knapp bei Kasse gewesen, weil er sein ganzes Geld in seine Holding gesteckt habe.

Haubs Geschäftspartner: Andrej Suzdaltsev, Sergej Grishin und Ilya Brodski

Sergej und ich nehmen auch die russischen Geschäftspartner von Karl-Erivan Haub unter die Lupe. Für ihre kriminellen Machenschaften gibt es gut dokumentierte Beweise. Während Sergej Grishin ein lauter Typ mit Hang zur schonungslosen Selbstdarstellung ist, sind Ilya Brodski und Andrej Suzdaltsev quasi Phantome. Es existieren keine öffentlich zugänglichen Bilder von ihnen. Und das muss man in der Rolle von einflussreichen Geschäftsmännern und Anteilseignern einer Bank erst einmal schaffen.

Andrej Suzdaltsev

Besonders interessieren Sergej und ich uns für Andrej Suzdaltsev, den Karl-Erivan Haub am 11. März 2018, also kurz nach dem Tod seines Vaters und wenige Wochen vor seinem mysteriösen Verschwinden, innerhalb von nur zwei Minuten viermal anrief. Das Gespräch schien ihm also wirklich wichtig zu sein. Er wählte sowohl Suzdaltsevs russische Handynummer als auch die Schweizer Privatnummer. Der Oligarch ist für uns zusätzlich von besonderem Interesse, weil Karl-Erivan Haubs väterlicher Berater ihn persönlich kennt und dies in einer ersten Presseanfrage geleugnet hat.

Sergej und ich sind sehr erstaunt darüber, dass sich eine Person wie Andrej Suzdaltsev, mit seinem wirtschaftlichen Schwergewicht und seinem gesellschaftlichen Standing, so komplett aus der Öffentlichkeit heraushalten kann. Es gibt über den Oligarchen wirklich gar nichts, keine Bilder und keine Interviews. Als Erstes wollen wir ihm daher »ein Gesicht geben«. Über Kontakte in Russland besorgen wir uns eine Kopie seines Reisepasses.

Mithilfe der Passdaten können wir in einem nächsten Schritt in Leaks nach seinen Reisedaten suchen. Wir werden schnell fündig, jedoch ist die Liste deutlich kürzer als die von Veronika E. Da unsere Daten aus dem Leak lediglich Buchungen aus Russland heraus zeigen, ist es sehr wahrscheinlich, dass viele Reisen aus dem Ausland gebucht wurden oder Suzdaltsev in einem Privatjet reist. Außerdem gibt es teilweise Lücken von mehreren Jahren, es ist daher mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass wir nicht alle Buchungen einsehen können. Aus den uns vorliegenden Dokumenten ergeben sich fast ausschließlich Linienflüge zwischen Moskau und Genf sowie mehrfach Kurztrips (meist nur 1 bis 2 Tage) nach Zypern und auf die Krim. Die Krim-Reisen finden interessanterweise alle erst nach der Annexion im Jahr 2014 statt.

Die Reisen nach Zypern bestätigen Suzdaltsevs Vorliebe für Offshore-Geschäfte. Nicht nur taucht sein Name gleich mehrfach in den sogenannten Offshore Leaks auf: Auch die Tecfocus Investments Ltd ., die für das PLUS-Russland-Geschäft als Joint Venture-Partner im Jahr 2010 diente, hat ihren Sitz auf Zypern. 576 Genau wie eine ganze weitere Reihe von Suzdaltsevs Offshore-Firmen. 577 578

Aus dem Rahmen fallen zwei (Geschäfts-)Reisen im Jahr 2011 und 2013: Zunächst reist der Oligarch für weniger als 24 Stunden nach Kursk, eine bedeutende Industriestadt im europäischen Teil Russlands unweit der ukrainischen Grenze. Kursk ist besonders bekannt für Eisenverarbeitung, die Stadt liegt in der Nähe des weltgrößten bekannten Eisenerzbeckens. Außerdem ist das Kernkraftwerk Kursk nicht weit entfernt. Zwei Jahre später reist Suzdaltsevs nach Ufa, die Hauptstadt der autonomen Republik Baschkortostan. Auf der Landkarte muss ich sie erst mal suchen. Sie liegt gefühlt am Ende der Welt, man muss wirklich gute Gründe haben, für knapp 24 Stunden dorthin zu fliegen. Ufa ist vor allem durch Erdölindustrie geprägt. Die Rosneft-Tochtergesellschaften Baschneft und Ufaneftechim haben dort Unternehmenssitze.

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Zudem sind mehrere Reisen in die USA, nach New York und Los Angeles, im Datensatz zu finden.

Andrej Suzdaltsevs Reiseverhalten lässt für uns zwei Rückschlüsse zu: Obwohl auf seinen Namen in Russland mindestens 44 Firmen registriert sind, 579 lebt der Oligarch offenbar die meiste Zeit in Genf. Dort ist auch eine der Telefonnummern registriert, die Karl-Erivan Haub am 11. März 2018 angerufen hat. Und zweitens: Suzdaltsevs Spuren lassen sich, anders als bei Veronika E., kaum nachverfolgen. Viele seiner Reisen unternimmt er vermutlich mit Privatjets außerhalb des öffentlichen Radars.

Wie schon die Datenforensiker der Unternehmensberatung Alvarez & Marsal und die internen Ermittler mit ihrem Bericht Zermatt RU 3 , stoßen auch Sergej und ich auf Verbindungen von Andrej Suzdaltsev zu kriminellen Strukturen. Sein Name taucht gleich mehrfach in den Datensätzen der Offshore Leaks auf, außerdem ist die Rosevrobank , deren Anteilseigner er zusammen mit Grishin und Brodski ist, eine Schlüsselbank in dem als Russischer Waschsalon bekannten Geldwäscheskandal.

Exkurs 1: Offshore Leaks

Die sogenannten Offshore Leaks sind ein Leak aus dem Jahr 2013. Damals gelangten interne Datenbestände von Offshore-Finanzplätzen über eine anonyme Quelle an das Internationale Konsortium für investigative Journalisten (ICIJ). Die Dokumente enthalten Daten über die Kundenbeziehungen von rund 130.000 Personen aus verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz. Ein Teil der Datensätze kann über eine Suchfunktion eingesehen werden.

Das Dreiergespann Suzdaltsev/Grishin/Brodski, das sowohl hinter der Rosevrobank als auch hinter dem Tengelmann-Joint-Venture-Partner für das PLUS-Russland Geschäft, der Tecfocus Investments Ltd. , steht, findet sich in mehreren Datensätzen der Offshore Leaks , zum Beispiel mit einer Firma namens NLC International Corporation. 580 Aber es gibt noch viele weitere Offshore Firmen, in denen die drei Russen immer als gemeinsame Geschäftspartner auftauchen. 581 582 583

Exkurs 2: Russischer Waschsalon

Zwischen 2010 und 2014 gab es einen riesigen Geldwäscheskandal, der unter dem Namen Russischer Waschsalon in der Öffentlichkeit bekannt wurde. In dieser Zeit wurden umgerechnet zwischen 20 und 80 Milliarden Euro aus Russland hinausgeschleust. Die Zahl ist deshalb so ungenau, weil lediglich rund 20 Milliarden Euro nachgewiesen werden können: Die Dunkelziffer ist jedoch vermutlich um ein Vielfaches höher. Im Zuge des Schemas wird das Geld zunächst nach Moldau, Lettland und Estland transferiert und dann in 96 Staaten gewaschen, darunter auch Deutschland. Das Investigativnetzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) deckte das Ganze 2014 auf. Laut einem Bericht des britischen The Guardian schätzen Ermittler, dass etwa 500 Personen an dem Betrug beteiligt sind, darunter Oligarchen oder Personen, die für den russischen Geheimdienst FSB arbeiten oder mit ihm in Verbindung stehen. 584 Britische Journalisten konnten die polizeilichen Ermittlungen einsehen. Eine Quelle erzählte den Guardian -Journalisten, das gewaschene Geld sei »offensichtlich (…) entweder gestohlen« oder habe einen »kriminellen Hintergrund«. 585 Der Guardian -Artikel 586 stammt aus März 2017, was für unsere Recherche später noch wichtig werden wird.

Im Jahr 2014 untersuchten die OCCRP -Journalisten zusammen mit Medienpartnern aus 32 Ländern die Bankunterlagen und entdecken, dass mehr als 1,3 Millionen Transaktionen stattgefunden haben. Beispielsweise wurden Briefkastenfirmen gegründet und Scheinkredite zwischen den Unternehmen gewährt. Diese wurden jedoch nicht bedient, sodass Gerichte die Zwangsvollstreckung der Zahlungsrückstände anordneten. Die Bürgen, meist Vorsitzende russischer Unternehmen, zahlten daraufhin mit besagtem Schwarzgeld. Allein in der Republik Moldau wurden so ungefähr 22 Milliarden Euro über Korrespondenzbanken an die Empfänger überwiesen. Eine Gruppe von Mitgliedern der mittlerweile geschlossenen lettischen Bank Trasta Komercbanka richtete dann wiederum mit Hunderten von Schattenkonten ein System ein, über das Geld anschließend weltweit in über 1000 Firmen, Immobilien, Jachten, Jets, Industriegüter und andere Vermögensgegenstände umgewandelt bzw. angelegt wurde. 587 Die Journalisten sowie die Ermittlungsbehörden vermuten eine Gruppe sehr reicher Oligarchen als Hintermänner. 588

Die Öffentlichkeit bekam das Ausmaß des Geldwäscheskandals erst ab 2017 im vollen Umfang mit. Weltweit publizierten Medien zu der Geschichte und die Verbindungen in die einzelnen Länder wurden immer deutlicher. Laut dem BKA wurde das gewaschene Geld in Deutschland hauptsächlich in Immobilien investiert. Zusammen mit der Münchner Staatsanwaltschaft gelang es dem Bundeskriminalamt, Immobilien und Konten mutmaßlicher Geldwäscher in Höhe von 50 Millionen Euro zu beschlagnahmen. 589 Bei vielen der Datensätze, die von den Guardian- Journalisten angeschaut wurden, verschwand das Geld aber in Offshore-Firmen, deren wirkliche Besitzer anonym bleiben. Das OCCRP -Netz konnte herausfinden, dass viele der angegebenen Besitzer entweder erfunden sind oder »Platzhalter«-Direktoren aus der Ukraine haben. Insgesamt waren 19 russische Banken an dem Geldwäscheskandal beteiligt. Darunter auch: die Rosevrobank , deren Anteilseigner Andrej Suzdaltsev, Sergej Grishin und Ilya Brodski sind. Allein durch die Rosevrobank wurden zwischen 2010 und 2014 rund 576 Millionen Dollar gewaschen. 590

Und der Rosevrobank wurde bei der Geldwäsche laut den OCCRP -Journalisten eine besondere Rolle zuteil: Sie ist eine »Empfängerbank«, also eine Bank, durch die das im Ausland gewaschene Geld wieder zurück nach Russland fließt. Nach dem Auffliegen des Russischen Waschsalons wurden 15 der 19 an dem Schema beteiligten Banken geschlossen: nicht aber die Rosevrobank . Die russische Presse nennt daher die Bank auch die »kriminellste Bank Russlands«. 591 Nach Auffassung investigativer Journalisten erfolgte die Entscheidung, die Bank nicht zu schließen, aufgrund der Tatsache, dass die Bank unter Schutz einflussreicher »Entscheidungsträger« stehe, die kein Interesse an der Schließung der Bank hätten.

Die Analyse der Geldströme zeigt, dass das meiste gewaschene Geld in die Schweiz und nach Zypern fließt: 592 in die Länder also, die Suzdaltsev regelmäßig besucht und über die er und seine Partner Sergej Grishin und Ilya Brodski ihre Offshore-Geschäfte abwickeln.

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Geldströme des gewaschenen Geldes

Die OCPR-Journalisten gehen davon aus, dass der Russische Waschsalon wahrscheinlich durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB instrumentalisiert wurde. Einige Mitglieder des Nachrichtendienstes sind sogar im Vorstand der Banken, beispielsweise Igor Putin, der Cousin des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er war im Vorstand der Russian Land Bank , durch welche knapp 10 Milliarden Dollar gewaschen wurden. 593

Sergej und ich können inzwischen mit Sicherheit sagen, dass die Wirtschaftsprüfer von Alvarez & Marsal zu Recht alarmiert waren und die warnenden Hinweise in den Berichten Zermatt RU 2 und Zermatt RU 3 in Anbetracht dieses immensen Geldwäscheskandals absolut berechtigt sind. Ein Blick auf den zeitlichen Ablauf verdeutlicht: Das PLUS-Russland-Geschäft und der Russische Waschsalon fallen in die gleiche Zeitspanne.

Offshore-Geschäfte und Geldwäsche im Überblick

Wäre es möglich, dass die russischen Geschäftspartner gar keine PLUS-Supermärkte eröffnen, sondern vielmehr gewaschenes Geld zurück nach Russland bringen wollten ? Und was wusste man im Tengelmann-Management? Was wussten Karl-Erivan Haub und sein engster Berater?

Schauen wir uns das Ganze noch mal genauer an: Beide Joint-Venture-Partner (die Tengelmann- Gruppe auf der einen Seite und die russischen Geschäftspartner Suzdaltsev, Grishin und Brodski mit ihrer Firma Tecfocus Investments Ltd. auf Zypern 594 auf der anderen Seite) stellen ihre finanziellen Mittel den beiden luxemburgischen Gesellschaften Plus Russland Diskont Beteiligung S.á.r.l. und Plus Immobilien Russland Beteiligung S.á.r.l. zur Verfügung. 595 Von diesen beiden luxemburgischen Firmen können nun wiederum die in Russland gegründeten Gesellschaften Plus Development und Plus Discount das Geld abrufen.

Doch aus welchen Quellen stammt das Geld der zypriotischen Tecfocus Investments Ltd.? Warum ist es überhaupt nötig, den Umweg über Luxemburg und Zypern zu gehen? Wäre es beispielsweise möglich, über die hauseigene Rosevrobank aus Russland herausgewaschene Gelder über den Umweg der zypriotischen Firma Tecfocus Investments Ltd. nach Luxemburg zu transferieren, um es dann ganz offiziell innerhalb des Tengelmann-Joint-Ventures zum Zweck des »Aufbaus eines Filialnetzes von PLUS-Supermärkten« nach Russland zu transferieren? Wo es dann aber zum Bau keiner einzigen Filiale kommt? Das Geld »versickert« quasi vor aller Augen und niemand stört sich daran? Mit Ausnahme der internen Tengelmann-Revision, die aber laut Aussagen des Sicherheitschefs und laut dem Bericht von Alvarez & Marsal an der Aufklärung des Sachverhalts gehindert werden: und zwar auf Betreiben von Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub und seinem engen Berater

Ilya Brodski

Ilya Brodski ist Jahrgang 1972 und damit deutlich jünger als Andrej Suzdaltsev und Sergej Grishin. Außerdem ist er, im Gegensatz zu seinen beiden Partnern, kein gelernter Physiker, sondern Banker. Zunächst arbeitete er von Januar 1993 bis Februar 1998 bei der JSB Toribank in der Wertpapierabteilung. Im November 1998 wurde er Vorstandsvorsitzender der Rosevrobank und blieb bis zum Verkauf der Bank im November 2018 in dieser Position, also insgesamt 20 Jahre. Im November 2018 wurde die Rosevrobank von der Sovcombank übernommen und Brodski übernahm auch dort den Platz des Vorstandsvorsitzenden. Die Sovcombank ist vom Vermögen her die drittgrößte Institution Russlands und für die russische Wirtschaft lebensnotwendig.

Der Bank werden äußerst enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin und generell zum Kreml nachgesagt. Als Präsident der Bank verfügt Brodski daher über hervorragende Verbindungen bis in die höchsten Kreise der Macht. Aus diesem Grund verhängen die USA im Rahmen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im März 2022 auch gegen ihn persönlich Sanktionen. 596 597 Das amerikanische Außenministerium gibt an, mit den Strafmaßnahmen »sicherzustellen, dass Russland einen hohen wirtschaftlichen und diplomatischen Preis für seine Invasion in der Ukraine zahlt«. 598

Die Tatsache, dass Ilya Brodski zu den namentlich genannten sanktionierten Oligarchen gehört, zeigt, welche außerordentlich guten Zugänge zur Macht ihm nachgesagt werden: Das amerikanische Außenministerium sieht in ihm »einen Teil der Elite im Umfeld von Putin«. 599 Auch das britische Außenministerium schließt sich im September 2022 den Sanktionen gegen Brodski an und nennt ihn eine »beteiligte Person«, die durch ihre Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der Sovcombank »Vorteile durch Unterstützung der Regierung Russlands« erlangt habe. 600 Und eine interessante Randnotiz: Brodski besitzt neben der russischen Staatsbürgerschaft auch noch einen zypriotischen Pass. 601 Es ist daher wenig verwunderlich, dass auch dieser Geschäftspartner von Karl-Erivan Haub in einer Vielzahl von Offshore-Firmen als Anteilseigner oder Begünstigter auftaucht. 602 603 604

Sergej Grishin

Als Nächstes widmen wir uns Sergej Grishin. Er ist wahrlich eine ganz spezielle Persönlichkeit. Mein Kollege Sergej und ich klappern die Eckpunkte aus den internen Tengelmann-Akten ab: Alle Zahlen, Daten und Fakten stimmen so weit. Zusätzlich besorgen wir uns die Reisedaten von Grishin sowie Kopien seiner Pässe. Aus den uns zugänglichen Datensätzen geht hervor, dass Grishin hauptsächlich zwischen seinem Wohnsitz Los Angeles und Moskau hin und her pendelt. Als Nächstes schauen wir uns seine Internetpräsenz an. Diese ist, man kann es nicht anders sagen, eindrucksvoll.

Im Gegensatz zu den Phantomen Andrej Suzdaltsev und Ilya Brodski gibt Sergej Grishin sehr viel von sich preis. Auf Anhieb findet man viele Fotos und Videos, darunter einige ziemlich furchteinflößende Aufnahmen mit riesigen, halbautomatischen Waffen in der Hand. 605 606 Der Milliardär taucht nicht nur immer wieder in der internationalen Klatschpresse auf, er ist auch in den sozialen Medien aktiv und postet sich dort um Kopf und Kragen.

Er scheint ein größenwahnsinniger Choleriker zu sein, mit Hang zur Brutalität: Immer wieder kommt es zu Gewaltexzessen gegenüber Frauen, weswegen einige Gerichtsverfahren gegen den Russen laufen. Aufgrund des von ihm ausgehenden Psychoterrors leben die Frauen in einem andauernden Zustand der Todesangst, so beschreiben es Betroffene: 607 Jede Minute könnten er oder seine Männer die Opfer überraschen. 608 Einer ehemaligen Geliebten droht er, ihr Kind »zum Waisen« zu machen. 609 Am schlimmsten trifft es jedoch offenbar seine Ex-Frau Anna Fedoseeva: Grishin hält ihr während eines Streits in Moskau eine Waffe mit Schalldämpfer an die Schläfe und schlägt ihr damit dann mehrere Zähne aus. Zusätzlich soll er ihr in einer Textnachricht gedroht haben, sie »in Stücke zu schneiden«, bis er »ihren Kopf erreicht«, 610 und ihr offenbar auch genaue Angaben, wann und wo er sie töten wolle, geschickt haben. 611 Schwer verletzt kann sich die junge Frau während des Streits in eine Nachbarwohnung retten und die Polizei rufen. Obwohl die Verletzungen von Fedoseeva gut dokumentiert sind, unternimmt die russische Polizei nichts. 612 Offenbar ist der Oligarch sehr mächtig.

Sich selbst bezeichnet Grishin als »Killermaschine« 613 und veröffentlicht Morddrohungen sogar über seine Social-Media-Kanäle. Außerdem droht er damit, ehemalige KGB-Agenten auf die Frauen anzusetzen. 614 Gegenüber der Mutter seiner Ex-Frau erklärte er, er habe »jederzeit Zugriff auf Attentäter, die ihre Tochter vor ihren Augen töten« könnten. 615 Immer wieder prahlt er in seinen Unterhaltungen mit seinen »guten Verbindungen zu russischen Gangsterbossen«. 616 Das, was die Öffentlichkeit von Grishin mitbekommt, hat es auf jeden Fall in sich.

Und dass all diese Geschichten überhaupt ans Licht kommen, liegt auch daran, dass der Milliardär sein Luxusanwesen in Kalifornien an niemand Geringeren als Prinz Harry und Ehefrau Meghan verkauft hat. Durch die Verbindungen ins britische Königshaus ist der gewalttätige Oligarch für die britische Klatschpresse ein gefundenes Fressen. Die Journalisten nehmen ihn genau unter die Lupe, und jede neue Geschichte aus seiner kriminellen Vergangenheit wird genüsslich bis ins letzte Detail ausgeschlachtet. Man nennt Grishin »einen der mysteriösesten Banker Russlands«, 617 weil niemand so recht erklären kann, wie er zu seinen Milliarden kam. Während der Recherche erfahren wir, dass Grishin für sein Haus in Santa Barbara 27 Millionen Dollar »in bar« bezahlt habe, 618 dass er den Spitznamen »Scarface Oligarch« trägt und es wohl generell mit Recht und Gesetz eher locker nimmt: Gegen ihn lief ein inzwischen eingestelltes Verfahren wegen versuchten Versicherungsbetrugs in Höhe von 20 Millionen Dollar. 619 Doch die Vorwürfe klingen fast lächerlich klein im Vergleich zu den rund 60 Milliarden Dollar, die Grishin laut eigener Aussage dem russischen Bankensektor in den 1990er-Jahren gestohlen haben will. 620 Zusätzlich kommen die rund 500 Millionen Dollar hinzu, die infolge des Russischen Waschsalons durch seine eigene Bank, die Rosevrobank , gewaschen wurden. 621

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Grishin lebt zum Zeitpunkt unserer Recherche seit rund zehn Jahren fast ausschließlich in den USA und will sich dort den Ruf eines seriösen Geschäftsmanns erarbeiten. Er hat in Amerika mehrere Firmen gegründet 622 und investiert große Summen in verschiedene Internetbeteiligungen, hauptsächlich aus dem Social-Media-Bereich. Eines seiner Unternehmen, 421 Media , hortet beispielsweise Instagram-Kanäle mit mehr als 300 Millionen Followern und bläst über sie virale Inhalte von Food Porn bis hin zu Nageldesign in die Welt hinaus, in der Hoffnung, so namhafte Werbekunden zu erreichen. 623 Doch die Inhalte gehen deutlich weiter: Sie reichen von »politisch aufrührerisch über grenzwertig pornografisch bis hin zu geradezu bedrohlich«. 624 Nach dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 posten beispielsweise verschiedene von Grishin kontrollierte Instagram-Kanäle das Statement »WIR DAS VOLK SIND ANGEPISST! Was denkt ihr?« («WE THE PEOPLE ARE PISSED! What are your thoughts?«) 625 – und tragen damit zur politischen Destabilisierung in den USA bei. Ganz im Sinne der russischen Geopolitik. Doch mit seinen Firmen und seinen Internetbeteiligungen macht Grishin ein Vermögen, verkehrt mit Silicon-Valley-Größen und den reichsten Familien des Landes 626 sowie mit renommierten Investoren wie Warren Buffett 627 und wird auch immer wieder zu Wirtschaftsthemen befragt. 628

Und damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Auch wenn Sergej Grishin nach außen hin einen mehr als fragwürdigen Eindruck von sich abgibt: Geschäftlich müssen seine Partner, allen voran Andrej Suzdaltsev und Ilya Brodski, einiges von ihm halten, denn Grishins wirtschaftlicher Erfolg spricht für sich. Und die Partnerschaft der drei Russen dauert ohne Unterbrechung nun schon seit den 1990er-Jahren an. Suzdaltsev und Brodski halten offenbar trotz der offen zur Schau getragenen Brutalität und den handfesten Skandalen bislang an ihrem Jugendfreund fest.

Doch im Jahr 2017 passiert etwas Seltsames im Leben des Oligarchen: Er bricht alte Verbindungen ab und verkauft später sogar seine Anteile an der Rosevrobank . Es scheint so, als hätte sich in seinem Leben etwas grundlegend verändert. Als befinde er sich auf der Flucht. Aber vor wem oder vor was? Dass etwas im Leben des Oligarchen brodelt, bekommt die Öffentlichkeit jedoch erst ein knappes Jahr später, am 3. Dezember 2018, durch ein Video mit, das er vermutlich im Frühherbst 2018 selbst aufgenommen hat. Das Video wird über eine Bekannte seiner Ex-Frau an die russische Presse geleakt, vermutlich um ihre Position in der anstehenden Scheidungsschlacht zu stärken. Nachdem sich Sergej Grishin nun mehrere Jahre fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und seinen Lebensmittelpunkt in die USA verlegt hat, lässt er in seinem Gulfstream Privatjet eine Bombe platzen: Der Miteigentümer der Rosevrobank behauptet in wirren Sätzen und gebrochenem Englisch, er sei nach wie vor »in Geschäfte in Russland involviert« und habe »das russische Bankensystem in den 1990er-Jahren praktisch zum Zusammenbruch gebracht«, indem er »das größte Bankbetrugsprogramm aller Zeiten« initiiert habe. Damit habe er den russischen Bankensektor »zweimal« geplündert: einmal in den 1990er-Jahren und dann noch einmal mit dem Russischen Waschsalon . Grishin behauptet weiter, er werde nun von »russischen Kriminellen« und »einigen Vertretern der Regierungsstrukturen« gejagt. Er verdiene es nicht, so behandelt zu werden, und wolle nun »auspacken«, wenn er dafür im Gegenzug die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielte: 629

Wörtlich sagt er:

»Hallo ihr alle. Ich bin Sergej Grishin, (…) Ich werde Ihnen eine wunderbare Geschichte darüber erzählen, wie ich das russische Bankensystem zum zweiten Mal ausgeraubt habe, (…). – Ich bin bereit, allen Interessierten zu sagen, wer und wann solche Fälle gedreht werden, alle mir bekannten Namen zu nennen. Ich erzähle das nur zu meiner eigenen Sicherheit. Ich bin jetzt von russischen Kriminellen und einigen Vertretern der führenden Strukturen des Landes gejagt worden. Und ich habe diese Einstellung nicht verdient. Ich hasse es, so behandelt zu werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, einen schönen Tag noch.« 630

Offenbar, so sagte Sergej Grishin später gegenüber einem russischen Journalisten, stellte er in seinem engsten Umfeld im Herbst/Winter 2017 einen großen Betrug fest: Sein Geschäftspartner Michael Dokukin hätte ihn in eine Art »Honigfalle« gelockt und ihn dazu gebracht, seine Frau zu heiraten. Grishin ist sich sicher: Sie alle wollten nur sein Geld. 631 Moment. Michael Dokukin? Den Namen kennen wir ebenfalls schon aus den internen Tengelmann-Dokumenten: Dokukin wird im Dossier über den ehemaligen Top-Manager als möglicher Geschäftspartner von diesem geführt. Außerdem taucht Dokukin mehrfach als Direktor verschiedener Firmen von Andrej Suzdaltsev auf, darunter auch als Direktor der russischen PLUS-Firma.

Aber zurück zu Sergej Grishin. Ende 2017 stellt er nach eigener Aussage also den »großen Betrug« in seinem engsten Umfeld fest. Anfang 2018 reicht er daraufhin die Scheidung von seiner Frau Anna Fedoseeva ein. Doch irgendetwas bringt ihn dann wieder von seinem Plan ab und er zieht den Scheidungsantrag nur einen Monat später zurück: im März 2018. Aus unseren Datensätzen von Grishins Reisen wissen mein Kollege und ich, dass sich der Oligarch von Anfang 2018 bis Juni 2018 durchgehend in den USA aufhielt, obwohl er zuvor in sehr regelmäßigen Abständen zwischen Moskau und Los Angeles gependelt ist. Offenbar scheut er die Rückkehr nach Russland. Warum? Im Herbst 2018 nimmt Sergej Grishin an Bord seines Privatjets das besagte Video auf, in dem er ankündigt »auszupacken«, wenn er als Gegenleistung die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Offenbar fühlt sich Grishin von den Schatten der Vergangenheit, in seinem Fall ist das wohl die russische Mafia, bedroht und er empfindet die Flucht nach vorne als sicherste Variante. Wörtlich spricht er davon, von »russischen Kriminellen und einigen Vertretern der führenden Strukturen des Landes« gejagt zu werden. Er bietet an, alle am Bankenbetrug beteiligten Personen öffentlich preiszugeben. Diese Informationen seien auch »für das FBI von Interesse«. 632 Eine ungeheuerliche Drohung, die eine Menge Menschen beunruhigen dürfte. Grishin scheint es jedoch wirklich ernst zu meinen. In einer weiteren Botschaft richtete er sich direkt an den amerikanischen Präsidenten Donald Trump:

»Mr. President, ich muss Ihnen etwas sehr Wichtiges mitteilen. Ich habe eine sehr gründliche Recherche gemacht und dafür eine halbe Million Dollar aus eigener Tasche gezahlt. Und jetzt kann ich Ihnen versichern: Dieses Land und das Leben seiner Bürger, das friedliche Leben und der gute Ruf sind in Gefahr. Ich bin bereit, heute Nacht alle Details via FedEx zu schicken. Und wenn ich als Gegenleistung um etwas bitten darf, so ist es die US-Staatsbürgerschaft (…).« 633

Grishin zündete also im Herbst/Winter 2018 eine Bombe – und sie verfehlt nicht ihren Zweck. Mitte Dezember 2018 beleuchtet in Russland ein großer TV-Beitrag alle Facetten der Geschichte. 634 Das Video wirbelt ordentlich Staub auf und eine Menge Menschen dürften ziemlich wütend auf den Oligarchen sein. Schließlich bringt er nicht nur sich selbst in Verbindung mit dem Bankenbetrug und der russischen Mafia, sondern impliziert damit ja auch indirekt, dass seine damaligen Geschäftspartner und Anteilseigner der Rosevrobank ebenfalls alle in das Betrugsschema involviert sein könnten. Doch wie reagierten die amerikanischen Sicherheitsbehörden FBI und CIA auf Grishins Aussagen? Sollte es bis zu diesem Moment zu keinem Gespräch mit dem Milliardär gekommen sein, so kann man sicherlich davon ausgehen, dass die amerikanischen Behörden Grishin spätestens ab der Veröffentlichung des Videos genau beobachteten.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass Sergej Grishin an einer schweren psychischen Störung leidet. Bei der Durchsicht der Videos wird mir teilweise ganz anders: Wie kann jemand in diesem Zustand vor eine Kamera treten? Der Oligarch hat immer wieder große Probleme, Sätze überhaupt zu beenden, sein Blick irrt wirr durch den Raum. Man könnte meinen, der Milliardär stehe unter dem Einfluss einer Menge sinnstörender Substanzen. Grishin selbst gibt gegenüber seiner Ex-Frau Anna Fedoseeva an, an einer bipolaren Störung zu leiden und daher auf Medikamente angewiesen zu sein. 635 Doch an dieser Stelle ist Vorsicht geboten: Sergej Grishin schlicht als psychisch krank und nicht zurechnungsfähig zu bezeichnen und ihn deshalb nicht ernst zu nehmen, hilft der Wahrheit sicherlich nicht auf die Sprünge.

Der Oligarch ist, nach allem was man über seinen beruflichen Werdegang lesen kann, nicht nur skrupellos, sondern auch hochintelligent und äußerst geschickt. Er scheint einen absolut sicheren Riecher für dreisten Betrug, große Geschäfte und viel Geld zu haben. Trotz seiner zum Teil haarsträubenden, brutalen zwischenmenschlichen Ausfälle, seiner gut dokumentierten Eifersucht und Paranoia, 636 hat er als Geschäftsmann und Investor großen Erfolg. Die Tatsache, dass er ausspricht, was sowieso schon jeder vermutet, nämlich dass er und andere Oligarchen nicht durch ehrliche Arbeit an ihre unvorstellbaren Reichtümer gelangt sind, spricht sogar eher für ihn. Es zeigt, dass er die Tragweite dessen, was er getan hat, sehr gut einschätzen kann und es jetzt als Waffe gegen diejenigen verwenden will, die nach ihm trachten.

Während Grishin in Russland jedoch relativ ungestört seine Ex-Frauen und Ex-Freundinnen bedrohen kann, läuft in den USA inzwischen ein 125-Millionen-Dollar-Gerichtsverfahren gegen ihn wegen »Online-Belästigung von Frauen, Verursachen von emotionalem Stress, häuslicher Gewalt und Erpressung«. 637 Infolge dessen verlässt der Oligarch Ende 2018 mehr oder weniger fluchtartig die USA und verkauft sein Anwesen im kalifornischen Montecito an Prinz Harry und Ehefrau Meghan für die Hälfte des gefragten Preises. 638 Vermutlich, um seinen Besitz in den USA vor Beginn des Verfahrens loszuwerden. Dann taucht Grishin erst einmal ab und taucht erst knapp zwei Jahre später, im Juli 2020, wieder auf. Überraschenderweise gibt sich der Milliardär schwer reumütig. In einem Fernsehinterview will er erklären, wie es zu seinen seltsamen Äußerungen im Jahr 2018 gekommen war. Er entschuldigt das Gesagte mit dem großen Stress, unter dem er in seinem Privatleben und wegen des Verkaufs der Rosevrobank gestanden habe:

Wörtlich sagt er:

»Ich verhandelte den Kauf der Bank, habe andere geschäftliche Probleme gelöst, all das ging voran, während ich in einem sehr gestressten Zustand war. Kurz davor hatte ich von einer großen Täuschung in meinem Zirkel erfahren. Ich war entsetzt über das Ausmaß dieser Täuschung und begann unüberlegte Schritte zu gehen. Das wurde und wird auch jetzt noch von einer ganzen Menge Leute zu ihrem Vorteil genutzt.« 639

Den Vorwurf, um ihn herum habe ein großer Betrug stattgefunden, zieht er also nicht zurück. Vielmehr schiebt er seine Äußerungen auf den Einfluss von Alkohol und Medikamenten:

»Ich muss zugeben, ich habe wirklich zu viel Alkohol getrunken, zusammen mit der Medizin, die ich einnehmen muss. Deswegen: Alle Dinge, die ich in der damaligen Zeit gemacht und gesagt habe, die nicht so ganz nachvollziehbar waren, all das hat mit dem Alkohol zu tun und dem Stress.« 640

Nach Monaten der in der Öffentlichkeit ausgetragenen Tiraden und Bedrohungen ist diese Erklärung zumindest fragwürdigt. Für mich persönlich klingt es eher so, als ob jemand Grishin »richtig den Kopf gewaschen« und ihn »wieder auf Spur« gebracht hätte.

Ergebnisstand unserer journalistischen Recherche

Nach wochenlangem Zusammensetzen der verschiedenen Puzzleteile können mein Kollege Sergej und ich fast alle Aussagen der internen Tengelmann-Ermittlungsberichte durch unsere eigenen Quellen belegen. Dort, wo ein hundertprozentiger Nachweis nicht gelingt (z.B. bei den russischen Pässen oder den Aussagen im Dossier über den ehemaligen Top-Manager), können wir zumindest nachvollziehen, auf Grundlage welcher Informationen die inzwischen toten Privatermittler ihre Vermutungen aufgebaut haben könnten. An dieser Stelle wäre es zwingend notwendig, offizielle Ermittlungen durch deutsche Strafverfolgungsbehörden zu initiieren.

Aufgrund unserer Erkenntnislage ergibt sich ein interessantes Bild, mit einer möglichen Erklärung, in welchem Licht das mysteriöse Verschwinden von Karl-Erivan Haub zu sehen sein könnte:

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Die über mehrere Quellen nachgewiesenen Verbindungen von Karl-Erivan Haub zu hochkriminellen Russen, die engste Kontakte zur politischen Führung in Moskau, zu Geldwäsche und dem nachrichtendienstlichen Umfeld haben, sollte – unter normalen Umständen – den deutschen Bundesnachrichtendienst, den Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt interessieren. Doch die internen Ermittlungsergebnisse rund um das Verschwinden von Karl-Erivan Haub scheinen zum Zeitpunkt unseres gemeinsamen Gesprächs nicht mit den Behörden geteilt worden zu sein.

Nach allem, was wir bisher wissen, ist die Verbindung den Behörden selbst bisher nicht aufgefallen – oder man hat sich dagegen entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen. Aus unserer Sicht kann es daher nur zwei Möglichkeiten geben: entweder die belastenden Informationen werden von Familie Haub oder vom Unternehmen Tengelmann bewusst zurückgehalten oder der Druck auf die deutschen Behörden ist aufgrund der politischen Verbindungen der Familie schlicht zu hoch.