U m Ostern 2021 kommt mir im letzten Gespräch mit den Tengelmann-Vertretern der Verdacht, dass sie den Beweis für den Verbleib von Karl-Erivan Haub erbracht haben und es mir verheimlichen. Doch im Moment kann ich das nicht beweisen und muss mein Gefühl, hintergangen worden zu sein, erst einmal verdrängen. Der Fokus für meine Kollegen und mich liegt nun in erster Linie auf den Dreharbeiten in Zermatt und hoffentlich bald auch in Russland. Das Sendedatum rückt immer näher und wir haben bisher noch so gut wie keine bewegten Bilder. Auch das »dubiose Pärchen« aus dem Hotel in Zermatt konnten Sergej und ich bislang nicht ausfindig machen. Es liegt also noch viel Arbeit vor uns.
Immerhin gibt es von Tengelmanns Seite nun eine große Bereitschaft, uns bei den Dreharbeiten zu unterstützen. Der Krisenmanager wird sogar damit beauftragt, für einige Tage nach Zermatt zu reisen, um einige Schlüsselbeteiligte von damals einzeln davon zu überzeugen, vor unsere Kamera zu treten. Mit dieser hochoffiziellen Unterstützung im Gepäck gelingt es ihm tatsächlich, den Rettungschef, die Bergretter, den Chef von Air Zermatt und einen engen Freund von Karl-Erivan Haub als Protagonisten unserer Dokumentation zu gewinnen. Lediglich seitens des Hotels The Omnia wird sich beharrlich geweigert.
Die Dreharbeiten sollen Ende April für eine knappe Woche in Zermatt stattfinden. Zu unserer neu erwachten Zusammenarbeit mit den Tengelmann-Vertretern gehört, dass neben meinen RTL-Kollegen und mir auch der Krisenmanager und der PR-Stratege zum Dreh in die Schweiz reisen werden. Sie sollen uns »zur Seite stehen«, damit es »mit der Kommunikation mit den Zermattern klappt« – am Ende wird es aber eher so sein, dass die beiden die Schweizer keine Sekunde aus den Augen lassen, damit keiner von ihnen mit uns Journalisten auch nur einige Sekunden alleine sein kann. In Zermatt soll auch das Interview mit dem Krisenmanager stattfinden. Vor diesem Gespräch graut es mir am meisten, denn es ist für mich völlig klar, dass der ehemalige KSK-Soldat entgegen seiner eigenen Überzeugungen die Unfall-Theorie in der Gletscherspalte in den Vordergrund rücken soll. Noch ist mir nicht ganz klar, wie ich das von Tengelmann erhobene Frageverbot zu Russland, zu dem »dubiosen Pärchen« und zu FBI und CIA umgehen soll.
Unterstützung bei den Dreharbeiten
Ende April reisen wir nach Zermatt. Sergej bleibt in Köln, er verfolgt die digitalen Spuren der russischen Geschäftspartner und der vermeintlichen Geliebten Veronika weiter. Außerdem steht mir mein Kollege rund um die Uhr für Fragen zur Verfügung, die sich vielleicht vor Ort ergeben. Seit meinem ersten Besuch Ende Januar sind nun fast auf den Tag genau drei Monate vergangen und in den Alpen ist es Frühling geworden. Der Himmel ist strahlend blau und die Sonne wärmt schon ganz ordentlich. Auf der Fahrt in die Berge kommen wir an den ersten blühenden Rapsfeldern vorbei, die Natur ist nun deutlich lieblicher als im Januar und die Straßen sind weit weniger gefährlich.
Für mich fühlt es sich völlig unwirklich an. Beim letzten Mal versank die Welt um uns herum im Schnee, wir krochen trotz Allradantrieb im Schneckentempo auf unser Ziel zu und konnten kaum mehr als zwei Meter weit sehen. Und danach waren wir für mehrere Tage eingeschneit. Doch noch etwas ist bei diesem zweiten Besuch anders: Inzwischen weiß ich viel mehr über die Hintergründe des mysteriösen Verschwindens von Karl-Erivan Haub. Nicht nur habe ich Einblick in streng vertrauliche Dokumente erhalten, Sergej und ich haben weite Teile der Tengelmann-internen Ermittlungen durch eigene Quellen verifiziert und sind nach wie vor damit beschäftigt. Was vor drei Monaten als eine wilde Geschichte mit vielen Dramen und unbestätigten Gerüchten in der Klatschpresse begann, hat sich in den vergangenen Wochen zu einem realen Thriller mit enormer Sprengkraft entwickelt.
Während wir über die Schweizer Autobahnen fahren und an den Abzweigungen nach Zürich und Genf vorbeikommen, denke ich an Karl-Erivan Haubs engste russische Kontakte, Veronika E. und Andrej Suzdaltsev. Über Leaks aus den Reisebuchungsportalen wissen wir inzwischen, dass sich beide oft in diesen Städten aufgehalten haben und Suzdaltsev auch am Genfer See lebt. Der Oligarch bringt in der Schweiz vermutlich sein Vermögen in Sicherheit und koordiniert im Schatten des Mont Blanc sein Offshore-Imperium. Aber was hat die junge Frau hier gemacht?
Zum ersten Mal merke ich, dass auch ich mich in den letzten drei Monaten sehr verändert habe. War ich zu Beginn der Recherche von einer fast kindlichen Neugierde getrieben, welche verrückte Wendung diese Geschichte als Nächstes nehmen würde, so bin ich inzwischen aufgrund der Skrupellosigkeit und der Lügen der handelnden Akteure in meinem Weltbild ziemlich erschüttert. Getrieben von einer schier unendlichen Gier sind diese superreichen Menschen augenscheinlich dazu bereit, alle Grenzen und Gesetze zu missachten. Als ob sich die Welt der Milliardäre in einem anderen Tempo drehen würde. Ich habe das Gefühl, in den vergangenen Wochen in die Abgründe der menschlichen Psyche geblickt zu haben. Und alle haben bisher weggeschaut: die Schweizer Behörden, die sich von der schwerreichen deutschen Familie den Ausgang der Pressekonferenz diktieren ließen, aber auch die deutschen Behörden, die trotz mehrfacher medialer Hinweise nicht einmal bei Tengelmann angeklopft haben, was es denn mit den hauseigenen Ermittlungen auf sich habe. Um ehrlich zu sein beschäftigt mich dies tatsächlich am meisten: Nach dem Artikel Ende Februar mit der Überschrift »War zu 95 Prozent kein Unfall: Hatte Haub Kontakt zum russischen Geheimdienst? « 682 gab es weder bei uns Journalisten noch bei den Tengelmann-Ermittlern Rückfragen. Das finde ich schon sehr erstaunlich. Wäre ein Geheimdienstkontakt von einer politisch und wirtschaftlich so gut vernetzten Person wie Karl-Erivan Haub nach Russland nicht eine Gefahr für die nationale Sicherheit? Und natürlich wundere ich mich auch über meine Pressekollegen. Bisher hat niemand außer uns RTL-Journalisten die Herkunft der internen Tengelmann-Ermittlungen hinterfragt oder gar angezweifelt. Niemand hat Kontakt zum Sicherheitschef oder dem Krisenmanager aufgenommen, um die Quellen zu überprüfen.
Die internen Ermittler haben mir während unseres letzten Treffens in Hamburg nicht die Wahrheit gesagt. Davon bin ich zu 100 Prozent überzeugt. Und diese Taktik könnte dazu führen, dass mögliche Lebenszeichen des verschollenen Milliardärs zurückgehalten werden.
Während die Schweizer Landschaft an uns vorbeizieht, versuche ich, mich in Karl-Erivan Haub hineinzuversetzen: Was mag er – mit all den Russland-Verbindungen, über die wir jetzt Bescheid wissen – bei seinem letzten Aufenthalt in Zermatt wohl gedacht haben? Was ging ihm durch den Kopf, als er seinem Piloten das neue Ziel nannte? Was, als er kurz nach der Landung Veronika E. anrief? Was dachte er, als er im Heli-Taxi von Sion nach Zermatt flog? Schaute er wehmütig auf das geliebte Skigebiet zu Füßen des Matterhorns? Mit welchen Gedanken ging er ins Bett, nachdem er zuvor 1,5 Stunden mit der jungen Frau telefoniert hatte? Ich nehme mir vor, die nächsten Tage in Zermatt so viel wie möglich »mit Karl-Erivan Haubs Augen« zu sehen.
Da wir verschiedene Reiserouten haben, treffen meine Kollegen und ich erst am Matterhorn Terminal Täsch aufeinander. Meine Crew besteht aus zwei Kameramännern, einer Tonassistentin, einem Producer und einer betreuenden Redakteurin. Sie alle sind gute Skifahrer, das zählte bei diesem Dreh zu den Voraussetzungen. Wir wollen direkt zum Ort des Geschehens: tief ins Gletschergebiet, dorthin, wo die Gefahr eines Spaltensturzes am größten ist. Außerdem wollen wir schauen, wie realistisch eine Abfahrt auf die italienische Seite des Matterhorns nach Cervinia ist. Die kleine Tengelmann-Delegation, bestehend aus dem PR-Strategen und dem Krisenmanager, erwarten wir gegen Abend. Als Übernachtungsort haben wir das Hotel eines engen Freunds von Karl-Erivan Haub gewählt. Außerhalb der Saison sind einige Hotels schon geschlossen und wir möchten ihn ja ohnehin in unserer Doku auftreten lassen. Warum also nicht in seinem Hotel übernachten und ihn auch abseits der Dreharbeiten kennenlernen? Da das Hotel auch noch in unmittelbarer Nähe zur kleinen Gondelstation liegt, ist es also nahezu perfekt.
Nach dem Check-in sammeln wir uns in der Hotellobby und besprechen die Dreharbeiten der nächsten Tage. Geplant ist, dass wir zwei Tage lang mit Helikoptern von Air Zermatt in das Gletschergebiet fliegen. Am ersten Tag werden wir aus der Luft Aufnahmen der Berge, des Gletschers und der Spalten machen. Am zweiten Tag wollen wir direkt im Spaltengebiet landen und uns dort mithilfe der Bergretter in eine Gletscherspalte abseilen. Am dritten Tag wollen wir zu Karl-Erivan Haubs letztem Point of Contact , der Bergstation Klein Matterhorn, und dann von dort aus mit den Skiern ins Tal abfahren und die Möglichkeit einer »unerkannten Abfahrt« nach Italien prüfen. Außerdem will ich überprüfen, ob mein iPhone während der Fahrt nach oben extremer Kälte ausgesetzt ist oder ob am Gipfel der Empfang zu schlecht ist, sodass das Handy möglicherweise einfach nutzlos geworden sein könnte. Am letzten Tag der Dreharbeiten wollen wir Themenbilder von Zermatt filmen. Während mein Team und ich noch den Drehplan besprechen, trudeln nacheinander der PR-Stratege und der Krisenmanager ein und stellen sich meinen übrigen Kollegen vor. Unsere kleine Truppe ist bunt durcheinandergewürfelt: wir Journalisten auf der einen Seite, der Krisenmanager und nun noch ein Kommunikationsfachmann, der für die weitere Schadensbegrenzung zuständig ist, auf der anderen Seite. Der PR-Stratege sieht daher verständlicherweise auch etwas angespannt aus. Während der Krisenmanager bestens trainiert und in Profi-Sportbekleidung so wirkt, als könne er das Matterhorn ohne Seil erklimmen, scheint der PR-Stratege mit nigelnagelneuen und wohl extra für diesen Anlass gekauften Wanderstiefeln und einer Bommelmütze des 1. FC Köln auf dem Kopf in seiner Freizeit weniger Sport zu machen und eher selten ins Hochgebirge zu gehen. So wie wir gerade in der Lobby beisammenstehen, werden die Zermatter unser Outfit gewiss belächeln. Aus den wenigen Gesprächen seit unserer Ankunft hat sich ergeben: Die Menschen hier glauben an einen Bergunfall und halten alles andere für Verschwörungstheorien. Rund um das Matterhorn seien seit 1905 180 Personen vermisst, 683 warum also nicht auch der Milliardär Karl-Erivan Haub? Dass ein deutscher Fernsehsender nun eine aufwendige Doku produziert, die auch gegenteilige Optionen in Betracht zieht, halten die Menschen im Dorf schlicht für verrückt. Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn in dem Moment, in dem ich das erste Mal das Gletscherspaltengebiet unter mir sehe, werfe auch ich meine bisherige Meinung (zumindest für kurze Zeit) über Bord.
Mit Air Zermatt in eine Gletscherspalte
Beim Beginn einer Recherche ist es vermutlich ähnlich wie beim Beginn einer Ermittlung bei der Polizei: Man muss sich erst mal einen Eindruck vom Ort des Geschehens machen, um ein Gefühl für die Lage zu bekommen. Wir beschließen daher, mit den Helikopterflügen über das Gletschergebiet und rund ums Matterhorn zu beginnen. Ich will den Ort, an dem Karl-Erivan Haub so spurlos verschwinden konnte, von oben sehen. Ich möchte mich selbst genau dabei beobachten, wie es mir ergeht, wenn ich das erste Mal das Eis und die Skipisten unter mir erspähe, die in unmittelbarer Nähe an den Spalten vorbeiführen.
In Zermatt liegt zu dieser Jahreszeit kaum noch Schnee, doch weiter oben am Berg ist nach wie vor alles von einer dicken weißen Decke überzogen. Wir starten unsere Dreharbeiten bei Air Zermatt, am Hubschrauber-Hangar am unteren Ortsende. Zusammen mit dem örtlichen Rettungschef werden wir neben dem Spaltengebiet auch die Route der Patrouille des Glaciers (PDG) überfliegen. Normalerweise leisten sich vor allem gutbetuchte Touristen die Flüge um das Matterhorn, für meine Kollegen und mich wäre so ein Ausflug unbezahlbar. Die Dreharbeiten der nächsten zwei Tage sind extrem aufwendig. Allein den Helikopter zu mieten ist sehr kostspielig und ich versuche daher, den Flug auch ein wenig zu genießen, aber mir wird so übel, dass ich mich gleich am ersten Tag übergeben muss. Direkt nach dem Start dreht sich der Helikopter stark nach rechts ein und fliegt die knapp 60 Kilometer lange Route der PDG 684 von Zermatt über Arolla nach Verbier ab.
Unter Extremsportlern genießt die Patrouille des Glaciers Kultstatus: Das Rennen geht auf die Grenzbesetzung im Zweiten Weltkrieg zurück und wird von der Schweizer Armee organisiert. Da es nur alle zwei Jahre stattfindet, trainieren die Wettkämpfer teils jahrelang, um teilnehmen zu können. Der Schwierigkeitsgrad ist hoch, untrainierte Sportler scheitern sofort. Die PDG geht durch die gefährliche Hochgebirgsregion der Walliser Alpen und fordert auch immer wieder Verletzte und Tote: Eine ganze dreiköpfige Militärpatrouille verunglückte 1949 in einer Gletscherspalte, 685 woraufhin die PDG für lange Zeit verboten wurde. Karl-Erivan Haub, so erzählten es mir Menschen aus seinem Umfeld immer wieder, sei sich der enormen Gefahr und der hohen körperlichen Herausforderung bewusst gewesen und habe daher intensiv mit seiner Personal Trainerin für das Rennen trainiert. Außerdem, das hatte mir ja auch die Wirtschaftsjournalistin Ursula Schwarzer gesagt, sei Haub in einem hohen Maße eitel und wollte daher aller Wahrscheinlichkeit nach mit seinem Team besonders gut abschneiden.
Während wir die Route überfliegen, sehe ich immer wieder Skitourengeher, in Grüppchen oder auch einzeln. In manchen Abschnitten der Route kämpfen sie sich auf weiten Schneefeldern stetig nach oben, auf anderen Abschnitten müssen sie an engen, steilen Stellen fast klettern. Es sieht von oben wahnsinnig anstrengend aus, doch die Schönheit der umliegenden Berge, der weißen, unberührten Flächen im hochalpinen Gelände, rauben mir fast den Atem: Die Menschen sind hier nahezu auf Augenhöhe mit den umliegenden Gipfeln, das Matterhorn überragt mit seiner unverwechselbaren Form und Schönheit alle anderen Berge. Wir fliegen an Berghütten vorbei, die man nur auf Skiern oder aus der Luft erreichen kann. Hier oben kommt man nur hinauf, wenn man wirklich außerordentlich fit ist und sich mit den Gefahren der Bergwelt auskennt.
Innerhalb weniger Minuten lassen wir die halbwegs sichere Route hinter uns: Vor uns liegt mit einer Breite und Länge von vielen Hunderten von Metern der Gletscher. Von oben gut zu sehen: Tausende Gletscherspalten. Tatsächlich hatte ich mir – und das wird mir erst in diesem Moment bewusst – noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie eine Gletscherspalte konkret aussieht . Von oben sieht man sie ja auch so gut wie nie. Wenn man als Skifahrer unterwegs ist, dann sieht man nicht, was sich einige Meter weiter hinter einer Schneewehe verbergen könnte. Und genau darin liegt ja auch die Gefahr. Doch von oben betrachtet reiht sich eine Spalte an die nächste. Wir können aus der Vogelperspektive gut erkennen, dass manche Spalten sichtbar sind, andere wiederum teilweise unter Schnee verdeckt sind, also »zugeweht« wurden. Zu meinem Entsetzen befinden sich zwischen den Spalten auch immer wieder Skifahrer. Sie sehen die Gefahr in ihrer unmittelbaren Nähe einfach nicht. Der Zermatter Rettungschef neben mir kommentiert das Ganze damit, dass viele Skifahrer hier »schlicht lebensmüde« seien, ständig würden er und seine Leute ausrücken und Menschen aus den Spalten bergen. Ein Unfall ende dabei auch nicht zwingend tödlich, da viele Wintersportler in diesem Gebiet in Gruppen unterwegs seien und bei einem Unglück schnell Hilfe gerufen werde. Bei einem Sturz könne es dann dazu kommen, dass man »in das Eis hineinschlittere«, bis es »nicht mehr weitergeht«: Irgendwann sei die Gletscherspalte in der Regel so eng, dass der Körper ausgebremst werde. Die Körpertemperatur der Skifahrer sorge dann dafür, dass sie sich regelrecht im Gletscher »festschmelzen«. Eine schreckliche Vorstellung. Während des Flugs über die Spalten gelobe ich mir, dass ich niemals und unter keinen Umständen in so einem Gebiet abseits der Pisten unterwegs sein werde. Meinen Kollegen geht es nicht anders. Der Blick von oben führt uns die Gefahr klar und deutlich vor Augen. Von oben kann man die Spalten nicht nicht sehen. Teilweise führen die Spuren der Skifahrer sogar über Spalten hinüber, da sie von Schnee überweht wurden.
Immer wieder schließt sich der Rettungschef mit der Hubschrauberpilotin kurz, sie sehen quasi ihre nächsten »Klienten« schon unter sich. Und tatsächlich: Während unserer Dreharbeiten kommt es in unmittelbarer Umgebung zu einem schweren Unfall. Ein Skifahrer stürzt nur wenige Meter neben der Piste in eine Gletscherspalte und verletzt sich schwer, wir können die Bergungsarbeiten beim Überfliegen beobachten. Nach allem, was ich über den so sicherheitsbewussten Karl-Erivan Haub weiß, kommt es mir nun völlig abwegig vor, dass er sich ganz entgegen seiner normalen Gewohnheiten ohne ortskundigen Bergführer in dieses lebensgefährliche Gebiet begeben haben soll. Karl-Erivan Haub kennt Zermatt und die Skigebiete rund ums Matterhorn seit seiner Kindheit, er ist seit vielen Jahren Stammgast im Alpendorf. Ihm müssen die Gefahren bewusst gewesen sein .
Nach unserer Landung am Heliport gehe ich zum Krisenmanager. Der PR-Stratege und er konnten uns aufgrund der begrenzten Sitzplätze im Helikopter während des Rundflugs nicht begleiten. Jetzt, wo ich mich mit eigenen Augen von den offensichtlichen Gefahren des Gletschers überzeugen konnte, will ich noch mal mit ihm sprechen. Der ehemalige Soldat wirkt in sich gekehrt, als ob er mental zurück im April 2018 ist. Er erzählt mir, gerade in den vergangenen Tagen habe er noch einmal für sich persönlich eine Einschätzung der Situation von damals vorgenommen. Es sei für ihn »ausgeschlossen«, dass Karl-Erivan Haub alleine in das Gletschergebiet aufgebrochen sei. Einige Tage zuvor sei er selbst noch einmal auf Skiern die Schwarztor Abfahrt hinuntergefahren. Diese sehr anspruchsvolle Route ist bei der Suchaktion vor drei Jahren besonders im Fokus der Suchmannschaften gewesen, weil sie als einzige Route zu Trainingszwecken für die Patrouille des Glaciers einen Sinn ergeben hätte: Von der Bergstation Klein Matterhorn , wo es den letzten Point of Contact mit Haub gegeben hat, geht es zunächst flach über das Breithorn-Plateau. Eine einfache Route für Skitourengeher. Doch dann steht man nach einigen hundert Metern vor dem Schwarztor , von wo aus eine lange Abfahrt durch ein Labyrinth aus Gletscherspalten und hohe, steil aufragende Türme aus Gletschereis führt, sogenannten Séracs. Am Ende der Abfahrt wartet als Ziel Zermatt. Für die außerordentlich schwierige Tour empfehlen die Schweizer Behörden neben der gängigen Skitourenausrüstung auch einen Klettergurt, ein Lawinenverschütteten-Suchgerät sowie einen Rucksack mit Schaufel und Sonde mitzunehmen. Außerdem solle nur abfahren, wer den »Parallelschwung in allen Schneearten« beherrsche und bei »guter physischen Fitness« sei. 686
Über eben jener Abfahrt wurde mir am Vormittag beim Überflug ganz anders zumute, als ich die Skifahrer über verwehte Gletscherspalten fahren sah und auch Spuren, die teilweise nur wenige Zentimeter neben einer offenen Spalte entlangführten. Der Krisenmanager, der als ehemaliger KSK-Soldat auch im Hochgebirge ausgebildet wurde, sagt, dieser Tag vor wenigen Wochen habe ihm noch mal den Schwierigkeitsgrad der Schwarztor Abfahrt vor Augen geführt und er habe sich erneut darin bestätigt gesehen, dass Karl-Erivan Haub diese Skitourenabfahrt »ganz sicher niemals, unter keinen Umständen« alleine gefahren wäre. Einem vorsichtigen Menschen wie Haub springe das Risiko für Leib und Leben ja förmlich entgegen und Haub habe sich immer streng an Vorgaben gehalten.
Während des Überflugs habe ich mich immer wieder gefragt, wie es sich wohl anfühlen mag, wenn man in eine Spalte stürzt. Laut dem Zermatter Rettungschef überleben ja viele Sturzopfer zunächst, weil die Spalte enger wird und den fallenden Körper ausbremst. Mit diesen schaurigen Gedanken gehe ich nach unserem ersten Drehtag ins Bett. Am nächsten Tag werde ich mit meinem Kameramann selbst ins Ewige Eis abtauchen.
Tief unten im Ewigen Eis klingelt das Handy
Wie fühlt es sich an, in einem Grab aus Eis gefangen zu sein? Diese Gedanken gehen mir die ganze Nacht durch den Kopf und ich wache nach wenigen Stunden aus einem unruhigen Schlaf auf. Der heutige Tag wird für mein Team und mich sehr anstrengend werden. Wir planen, mehrere Stunden zwischen den Spalten in einem der gefährlichsten Abschnitte des Gletschers zu drehen. Alles, was wir für den Tag brauchen, müssen wir mit auf den Berg nehmen. Die Schweizer haben uns eindringlich ans Herz gelegt, auf keinen Fall unsere Sonnenbrillen zu vergessen, da der Schnee dort oben die Sonne so stark reflektiere, dass die Gefahr bestehe, die Netzhaut zu verbrennen. Außerdem kann man dort oben natürlich nirgends auf die Toilette gehen. Während ich meinen Rucksack packe, bin ich hin und hergerissen, ob ich nun viel oder wenig Trinkwasser für den Tag einpacken soll …
Das Team von Air Zermatt fliegt schließlich mein Kamerateam und mich sowie acht Bergretter, den PR-Strategen und den Krisenmanager in mehreren Etappen auf den Gletscher. Die Bergretter haben aus der Luft eine gute Stelle entdeckt, wo wir genug Platz für die Landung haben und unser ganzes Equipment auspacken können. Anschließend wollen sich der Rettungschef, mein Kameramann und ich uns ins Eis abseilen. Die paar Quadratmeter, in denen wir uns aufhalten werden, wurden von den Bergrettern im Vorfeld mit einem roten Band abgesteckt: Der Bereich ist etwa fünf Meter breit und 50 Meter lang – davor, dahinter und daneben weitere Spalten. Nachdem der Hubschrauber uns abgesetzt hat, atme ich erst einmal tief ein. Nur die wenigsten Menschen bekommen überhaupt jemals die Chance, auf einen Gletscher zu fliegen – und dann auch noch zwischen den Spalten zu landen. Der Ort ist so unberührt, so magisch, die Natur so gewaltig. Was für eine unglaubliche Gelegenheit, an so einem Ort drehen zu können! Ich schaue zu den Bergrettern, die gerade dabei sind, Schneeüberhänge mit Schaufeln zu entfernen, damit das sogenannte Dreibein über der Gletscherspalte aufgestellt werden kann. Dieses Metallgestell mit Spezialseilwinde kann rasch über einer Gletscherspalte in eine günstige Position gebracht werden, damit sich Retter und Notärzte abseilen können. Fast alle Rettungshubschrauber, die in den vergletscherten Zentralalpen ihre Einsätze fliegen, haben diese spezielle Ausrüstung für Spaltenbergungen an Bord. Für unsere Dreharbeiten werden wir zwei Dreibeine brauchen: eins für den Rettungschef und mich, ein zweites für den Kameramann, der sich einige Meter entfernt von uns abseilen wird. Er soll uns während des Gesprächs filmen.
Während mein Team und ich darauf warten, dass die Bergretter alle notwendigen Sicherungen getroffen haben, erzählt mir der Rettungschef, dass das Gletschergebiet durch den Klimawandel immer gefährlicher werde, da die Spaltenzonen nun noch unberechenbarer und zerklüfteter seien. Durch die steigenden Temperaturen würden die Schneebrücken dünner und der Schnee mürbe. Seine Rettungsmannschaft und er seien beinahe täglich mit dem Suchen und Bergen beschäftigt. Und manchmal komme es sogar vor, dass sie dabei weiter unten in einer Spalte die Überreste einer schon viel länger vermissten Person fänden, die der Gletscher erst jetzt, bei tauendem Wetter, freigebe. Diese Vorstellung empfinde ich als zutiefst beunruhigend und sehr gruselig. Unweigerlich frage ich mich, ob auch wir gleich jemanden finden werden.
Dann ist es so weit. Die Bergretter haben die beiden Dreibeine ausreichend gesichert und wir können mit dem Abseilen beginnen. Die Spalte, die die Schweizer für uns ausgesucht haben, ist circa 60 bis 70 Meter tief. Ich bete, dass der Klettergurt, den ich angelegt bekommen habe, auch halten wird. Durch die Seilwinde gesichert, trete ich nach vorne und mache einen Schritt ins Leere. Der Gurt um meine Hüften spannt sich sofort, ich lasse mein ganzes Gewicht in Gurt und Seile fallen. Das Dreibein und die Seilwinde befinden sich nun wenige Zentimeter direkt über mir, der Zermatter Rettungschef hängt direkt hinter mir. Unter uns öffnet sich der Gletscher und gibt den Blick in eine schwarze Tiefe frei. In meiner unmittelbaren Umgebung ist das Eis unter mir wunderschön klar und strahlend hellblau. Je weiter es nach unten geht, desto dunkler wird es. Den tiefschwarzen Boden der Spalte erkenne ich schon gar nicht mehr: Ob es nun 60 oder 600 Meter sind, kann man von oben nicht sagen. Langsam lassen die Bergretter uns in den Abgrund gleiten. Die Geräusche verstummen, je weiter wir uns ins Eis vorarbeiten. In den makellos glatten Wänden der Spalte gibt es kaum Einschlüsse oder Vorsprünge. Immer wieder hören wir es knacken und knarzen. Als ob wir von einem Lebewesen umgeben wären. Der Gletscher arbeitet, er bewegt sich. Auch wenn es nur wenige Millimeter am Tag sind: Die Spalten werden kleiner oder größer – und manchmal schließen sie ihre Opfer auf ewig ein. Nach etwa 30 Metern geht es für uns nicht mehr weiter nach unten. Wir sind nun zu breit und passen nicht mehr durch. Würde man jedoch von oben hinunterfallen , so würde sich der Körper durch die Wucht des Aufpralls regelrecht nach unten bohren , sich schließlich im Eis verkeilen und durch die Körpertemperatur einschmelzen. Durch die angeschnallten Skier kommt es in der Regel zu schwersten Verletzungen, Brüchen und ausgekugelten Gelenken. Eine grauenhafte Vorstellung.
Ich blicke nach oben. Der Himmel über mir ist nun nur noch als schmaler, hellblauer Spalt zu erahnen. Die Stimmen der Bergretter, des PR-Strategen, des Krisenmanagers und meiner übrigen Teammitglieder sind nicht mehr zu hören. Hier unten herrscht absolute Ruhe. Bis auf das Knarzen und Ächzen des Gletschers, der sich millimeterweise verschiebt. Wenn man das Glück hat, nach einem Spaltensturz noch am Leben zu sein, dann ist man im jahrtausendealten Eis gefangen. Sollte man theoretisch noch in der Lage sein, nach Hilfe zu rufen: Oben an der Oberfläche könnte einen kaum jemand hören. Ich bitte den Rettungschef und meinen Kameramann um einen Moment Ruhe. Ich schließe die Augen, ertaste mit meinen Händen die glatten Wände und lausche der Stille. Welch unbändige Verzweiflung einen Menschen packen mag, der hier lebend gefangen ist? Die Lage könnte nicht misslicher sein: Ein Entkommen aus eigener Kraft ist angesichts der spiegelglatten eisigen Wände ausgeschlossen. Doch mitten in die Stille hinein klingelt mein Handy: Ich habe auch in der Tiefe des Gletschers 4G-Netz. Karl-Erivan Haub war ganz plötzlich unerreichbar, schießt mir in diesem Moment durch den Kopf. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass er in diesem Gebiet, wo die Netzabdeckung offenbar hervorragend ist, ausgerechnet da unterwegs gewesen sein soll, wo es keinen Empfang gibt. Und während wir an den Seilen in der Gletscherspalte hängen, bestätigt mir auch der Rettungschef, dass es in der Schweiz tatsächlich nur sehr wenige Blind Spots bei der Netzabdeckung gebe: Überall seien inzwischen 4G- oder 5G-Antennen aufgebaut. Nach circa einer halben Stunde ziehen uns die Bergretter an der Seilwinde wieder nach oben. Den Moment, wo wir aus dem eisigen Grab der Gletscherspalte wieder in die Welt der Lebenden, in den Sonnenschein, auftauchen, werde ich wohl nie vergessen. In mir breitet sich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit aus. Den Ausflug in die Gletscherspalte haben wir nicht wegen eines Notfalls am Berg gemacht. Das Abtauchen ins Ewige Eis hat mich dennoch beeindruckt: Umgeben von der unvorstellbaren Kraft der Natur wurde mir die Vergänglichkeit von uns Menschen bewusst: Selbst wenn man einen Spaltensturz überlebt, gibt es ohne fremde Hilfe kein Entkommen.
Auf der Suche nach dem vermissten Milliardär wurden jedoch etliche Spalten abgesucht, Rettungsmannschaften durchkämmten tagelang das Gelände. Es wurden keinerlei Spuren gefunden, die auf einen Bergunfall hindeuten könnten. KEINE. Und jetzt, da ich wieder bei den Bergrettern und meinen Kollegen an der Oberfläche stehe und bei gutem Wetter unsere eigenen Spuren im Schnee betrachte, denke ich, dass bei den anfänglich sehr guten Witterungsverhältnissen am 8. und 9. April 2018 doch zumindest etwas hätte gefunden werden müssen .
Zumindest, wenn es einen Unfall gegeben hätte.
Abfahrt auf Skiern nach Cervinia
Doch was, wenn es eben kein Unfall war? Was, wenn Karl-Erivan Haub sein Verschwinden absichtlich geplant hätte? Wenn es, wie es die internen Ermittler inzwischen glauben, zu einer Exfiltration durch einen der russischen Geheimdienste gekommen war? Welche Optionen hätte es dafür gegeben? Da der letzte Point of Contact am 7. April 2018 um 9:09 Uhr bei der Bergstation Klein Matterhorn war, wissen wir, dass Karl-Erivan Haub von dort aus vermutlich nur drei Optionen gehabt hätte: Abfahrt nach Zermatt, die wir jedoch aufgrund der guten Kameraüberwachung und -auswertung ausschließen können. Flucht mit einem Helikopter, der den Milliardär irgendwo am Berg hätte aufsammeln können. Doch diese Option können wir ebenfalls ausschließen, da an diesem Tag (jenseits der Rettungs- und Heli-Ski-Hubschrauber) keine weiteren Hubschrauber unterwegs gewesen sind. Bleibt also als einzige Option die Abfahrt auf die italienische Seite des Matterhorns, nach Cervinia. Diese Möglichkeit wollen wir uns heute anschauen.
Der dritte Drehtag in Zermatt wird aber auch von einem Eklat mit dem PR-Strategen und dem Krisenmanager geprägt, der die Dreharbeiten kurzfristig komplett gefährdet. Doch zunächst beginnt der Morgen entspannt. Nach dem Frühstück packen wir alle unsere Skier auf die Schultern und laufen Richtung Gondel. Wir wollen hoch zum Klein Matterhorn und dann von dort ins Tal abfahren. Ursprünglich wäre ich auch gerne bis auf die italienische Seite nach Cervinia abgefahren, doch in Italien gibt es andere Corona-Schutzmaßnahmen als in der Schweiz. Die Pisten auf der italienischen Seite des Matterhorns sind geschlossen und nicht präpariert. Auch die Gondeln fahren nicht. Wir können uns also die Abfahrt nach Cervinia nur von der Schweizer Seite aus anschauen.
Die Gondelfahrt hoch in Richtung Klein Matterhorn ist mir besonders wichtig. Zusammen mit Sergej habe ich ausgerechnet, dass die letzte registrierte Einwahl von Haubs iPhone in das Mobilfunknetz um 8:33 Uhr 687 am Tag des Verschwindens kurz vor Erreichen der Bergstation stattgefunden haben muss. Wir wissen, dass der Milliardär das Hotel gegen 7:30 Uhr verlassen hat und um 9:09 Uhr von einer Überwachungskamera dieser letzten Station aufgezeichnet wurde. 688 Ich möchte nun also herausfinden, ob es entlang der Strecke, vor allem aber im letzten Drittel des Abschnitts, Funklöcher gibt oder der Empfang möglicherweise am Gipfel ganz verschwindet. Nach meinem kleinen Abenteuer am Vortag in der Gletscherspalte kann ich es mir zwar eigentlich nicht vorstellen, da ich dort selbst in 30 Metern Tiefe 4G-Netz und guten Empfang hatte, doch während der Fahrt nach oben habe ich mein Handy immer im Blick. Die reine Fahrtdauer beträgt um die 40 Minuten, inklusive der Umsteigezeiten an den Zwischenstationen. Die Strecke führt entlang des zerfurchten, von Spalten überzogenen Gletschergebiets. Auch aus der warmen Kabine der Gondel heraus müssen Karl-Erivan Haub an jenem Morgen die alpinen Gefahren präsent gewesen sein. Durchgehend haben sowohl meine Kollegen als auch ich eine hervorragende Netzabdeckung. Lediglich unmittelbar kurz vor der letzten Station Klein Matterhorn sinkt der Empfang für einige Sekunden ein wenig. An dieser Stelle »sackt« die Gondel kurz ab, bevor sie dann sehr nahe an den Felsen entlang den steilsten Abschnitt nach oben nimmt. Obwohl die Bergstation Klein Matterhorn mit 3.883 Metern über dem Meer die höchste Europas ist, liegt die Netzabdeckung bei nahezu 100 Prozent.
Die Luft ist sehr dünn und ich bekomme direkt nach dem Aussteigen ein wenig Kopfweh. Wir sind so hoch, dass wir beinahe auf die uns umliegenden Berge hinunterschauen können. Mit Ausnahme des Mont Blanc natürlich, der nochmal fast 1.000 Meter höher ist als unser Standort. Am Horizont meine ich das Mittelmeer zu erkennen, und auch das Matterhorn scheint zum Greifen nah. Das Skigebiet besitzt in der Tat einen außergewöhnlichen Charme und ich kann gut verstehen, dass Karl-Erivan Haub seit seiner Kindheit immer wieder hierher zurückgekehrt ist: Eine einmal entfachte Liebe für diesen Ort erlischt wohl nie wieder.
Mein Team und ich schauen uns um. Zu unserer linken Seite breitet sich das Breithorn Plateau aus. Diese Route müsste Karl-Erivan Haub von hier aus theoretisch gegangen sein, hinter dem Plateau beginnt die sagenumwobene Schwarztor Abfahrt . Auch heute sind einige Tourengeher unterwegs, ausnahmslos kleine Grüppchen. Heute wagt also keiner diese schwierige Abfahrt alleine. Auf unserer rechten Seite befinden sich die präparierten Pisten, auf denen die überwiegende Mehrheit der Wintersportler ins Tal abfährt. Bei meinem ersten und bisher einzigen Besuch in Zermatt rund zehn Jahre zuvor bin auch ich diese Pisten gefahren.
Unser Plan: Haubs mögliche Exit-Strategie nach Italien anzuschauen. Mein Team und ich schnallen uns die Skier unter die Füße. Sowohl der Rettungschef als auch der Krisenmanager begleiten uns. Den PR-Strategen konnten wir trotz guten Zuredens nicht davon überzeugen, mit uns den Hang hinabzuwedeln.
Beim Aussteigen aus der Gondel werden die Wintersportler auf neongelben Schildern sofort auf die große Gefahr durch Gletscherspalten hingewiesen: innerhalb der Station, außerhalb der Station und dann regelmäßig entlang der Piste. Man kann die gelben Warnhinweise eigentlich nicht übersehen. Nachdem wir zwei Tage zuvor mit dem Helikopter über einen frischen Spaltensturz geflogen sind, wagt auch keiner von uns, die Piste für einen Schwung durch den Tiefschnee zu verlassen. Nach etwa zehn Minuten Fahrt erreichen wir die Gabelung, an der eine Piste zur italienischen Seite der Alpen abbiegt. Doch aufgrund der Corona-Pandemie ist das gesamte Gebiet gesperrt. Ein rot-weißes Flatterband riegelt den kompletten Pistenabschnitt für die Abfahrt ab. Von hier aus bräuchte man nun nochmal circa 15 bis 20 Minuten bis nach Italien. Es wäre für den Milliardär kinderleicht gewesen, vom Klein Matterhorn aus innerhalb einer guten halben Stunde nach Italien zu fahren und von dort aus in die Anonymität einzutauchen. Ein in der Tat nahezu perfektes Exit-Szenario. Während wir am Rand der Piste stehen und in das italienische Tal hinabblicken, spinne ich den Gedanken weiter. Ich frage mich, was in diesem Moment in dem Tengelmann-Chef vorgegangen sein könnte. Genau hier wäre der Punkt gewesen, wo er entweder nach rechts in Richtung Zermatt gefahren wäre, zurück in sein altes Leben. Oder eben nach links , nach Italien. War es eine Fahrt in eine ungewisse Zukunft? Oder lief alles nach einem sorgfältig ausgeklügelten Plan? Würde es sich anfühlen wie eine Flucht? Oder doch eher wie ein Befreiungsschlag?
Ich schaue mich um. Die bergseitige Piste fällt bis zu unserem Standort stark ab und läuft dann über mehrere Meter fast horizontal aus. Man braucht genügend Schwung, um es über die Schneekante auf die Piste nach Italien zu schaffen. Man muss sich regelrecht »einen Stoß« geben, um hinüberzufahren. Kurz: Man tut es äußerst bewusst. Vor meinem inneren Auge stelle ich mir in diesem Moment vor, wie Karl-Erivan Haub, von der Bergstation Klein Matterhorn kommend, die steile Piste nach unten nimmt und dann aus der Hocke heraus so viel Geschwindigkeit wie möglich sammelt, um mit ausreichend Schwung in sein neues Leben zu fahren. Ist es so gewesen? Zumindest betrachten die internen Ermittler dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent als die wahrscheinlichste Variante. 689
Während ich noch ins Tal hinabblicke und versuche, mir vorzustellen, wie es bei Karl-Erivan Haubs möglicher Flucht dann weitergegangen sein mag, drängt mich mein Team zum Aufbruch. Unser Weg führt über die rechte Piste Richtung Zermatt. Wir haben es ein wenig eilig, denn für den Nachmittag haben wir das Interview mit dem Krisenmanager vereinbart. Auch wenn ich explizit nichts zu Haubs Russlandverbindungen, dem »dubiosen Pärchen« oder dem Treffen mit FBI und CIA fragen darf, habe ich natürlich genau das vor: Nach dem gemeinsamen Treffen vom 16. Februar weiß ich, dass der Krisenmanager – genau wie der Tengelmann-Sicherheitschef – einen Unfall nahezu komplett ausschließt, die Wahrscheinlichkeit liege bei gerade einmal 5 Prozent. 690 Es erscheint mir absurd, dass er diese Theorie nun ausgerechnet vor der Kamera stürzen soll.
Zerwürfnisse vor dem Interview
Nach einer kurzen Ruhepause im Hotel treffen wir auch den PR-Strategen wieder. Ich habe den Eindruck, dass es ihm nicht ganz recht ist, dass wir Journalisten mit dem Rettungschef und dem Krisenmanager am Vormittag alleine unterwegs waren. Umso wichtiger scheint es ihm nun, bei diesem Interview dabei zu sein. Er wirkt auf mich ziemlich angespannt: Ging es in den vergangenen Tagen vor allem um »schöne Bilder« von Zermatt, dem Gletscher und den Bergen, so kommen wir jetzt ans Eingemachte: Was wollte der amerikanische Geheimdienst in der Schweiz? In was ist Karl-Erivan Haub womöglich verwickelt? Auch meine Kollegen spüren die Anspannung – und meine leichte Gereiztheit. Der Kommunikationsstratege sitzt mir im Nacken, ich fühle mich von ihm ständig beobachtet. Es herrscht definitiv keine Wohlfühlatmosphäre.
Nachdem meine beiden Kameramänner die Technik für das Interview aufgebaut haben und der Krisenmanager vor mir Platz genommen hat, will der PR-Stratege noch einmal die Fragen absprechen. Genau das hatte ich befürchtet, doch darauf will ich mich nicht einlassen: Ich werde mir die Fragen nicht vorschreiben lassen, ich frage was und wie ich will. Damit ist der Kommunikationsstratege nicht einverstanden, er will im Vorfeld meine Zusage, dass ich vor der Kamera die besprochenen Themen meide. Seine Sorge ist vermutlich, dass ich etwas zu Haubs Russland-Kontakten oder dem Treffen mit FBI und CIA frage und der Krisenmanager dann im On die Antwort verweigert. Für unseren Film wäre das ein starkes Statement, das Bände spricht – und genau das soll vermieden werden. Es folgt eine hitzige Diskussion. Es fällt mir sehr schwer, bei dieser offenkundigen Beeinflussung ruhig zu bleiben. Ich erkläre dem PR-Strategen, dass ich mir von ihm keine Fragen vorschreiben lasse – und dann platzt das ganze Interview. Ich schäume vor Wut.
Der Kommunikationsfachmann und der Krisenmanager verlassen den Raum und mein Team und ich bleiben zurück. Nach ratlosen Minuten packen wir unsere Kameratechnik wieder ein. Ich bin angespannt und enttäuscht, weil uns nun ein wichtiges Element für die Doku fehlt. Gleichzeitig kann ich nicht akzeptieren, dass man uns verbietet, Fragen zu stellen, die Christian Haub diskreditieren könnten. Ich fühle mich den Tengelmann-Vertretern ausgeliefert, die ja wissen, wie wichtig die Interviews für uns sind. Doch ich will mich nicht benutzen lassen – und genau so fühlt es sich für mich gerade an; so kommen wir nicht weiter. Ich schnappe mir meinen Mantel und gehe an die frische Luft. Nicht weit vom Hotel beginnt die wilde Natur, ein kleiner Wanderweg schlängelt sich den Berg hinauf. Ende April liegt hier auch kein Schnee mehr, der Boden ist trocken. Wütend stapfe ich los und rufe erst mal Sergej an. Er ist inzwischen mein engster Vertrauter, niemand steckt so tief in den Recherchen wie wir beide. Bei ihm lasse ich nun meinen Frust der vergangenen Stunden ab – und Sergej kann mich tatsächlich etwas beruhigen. Auch wenn ich hier in Zermatt in puncto FBI und CIA und dem »dubioses Pärchen« nicht weiterkomme – meinem Kollegen ist ein kleiner Durchbruch gelungen: Mithilfe einer aufwendigen Fotosuche über Social Media konnte Sergej die Frau des Zweiergespanns aus dem Hotel The Omnia ausfindig machen. Meine Stimmung verbessert sich augenblicklich. Sergej erklärt mir, er habe das Foto aus dem Ausweis der Frau genommen und über eine Bildersuche im Internet geprüft. Auf diese Weise habe er in einem russischen Forum namens OK.ru eine Frau identifizieren können, die der gesuchten Frau auffallend ähnlich sehe. Und auch der Name stimme. Er habe sie auch schon angeschrieben, doch statt einer schriftlichen Antwort habe er einen Anruf von einem vermeintlichen Schwager mit osteuropäischem Akzent erhalten. 691 Der Mann und die Frau, die wir von den Passkopien kennen, seien inzwischen tatsächlich verheiratet und wohnten in Bremerhaven. Dort betreibe der Mann einen Security Service («Bewachungsgewerbe«). 692 Er werde sich bald bei Sergej persönlich melden. Doch eins will der Anrufer schon vorab loswerden: Sein Bruder, Nerses B., sei »Alpinist« und daher für einen »spontanen Kurztrip« mit seiner damaligen Verlobten Tanja Q. in Zermatt gewesen.
Auf dem kleinen Trampelpfad am Hang hinter dem Hotel beginne ich schallend zu lachen. Ein »Alpinist« aus Bremerhaven, der ohne Ausrüstung und ohne adäquate Kleidung mit seiner Verlobten »spontan« für zwei Tage nach Zermatt reist, vom Auto aus zielsicher in der nobelsten Unterkunft des Orts ein Zimmer bucht und dann in bar bezahlt. Ein angeblicher Bergsportler, der die zwei Tage im Alpendorf hauptsächlich damit verbringt, in der Lobby herumzulungern und den Besprechungsraum der internen Ermittler zu beobachten. Von der tollen Natur und dem kleinen Ort bekommt er so gut wie nichts mit. Höchst verdächtig.
Sergej berichtet mir amüsiert, wie sich der vermeintliche Bruder um Kopf und Kragen geredet habe: Nerses B. habe ein »unruhiges Gemüt«, mit ihm sei »nicht zu spaßen«. Er komme aus Armenien und habe eine militärische Ausbildung bei den Speznas absolviert und auch im Bergkarabach-Konflikt gekämpft. Hinter den Speznas verbirgt sich eine Spezialeinheit des russischen Militärnachrichtendiensts GRU . Und der GRU ist, wie wir inzwischen wissen, der brutalste von allen russischen Diensten. Mir wird ganz schwindelig. Wenn das alles stimmt: Warum sollte ein ehemaliger russischer Elitesoldat mit Anbindungen an den GRU zufällig in Zermatt auftauchen, während zeitgleich ein deutscher Milliardär vermisst wird, der offenkundig höchst zweifelhafte Kontakte nach Russland hat?
Während mir diese Fragen durch den Kopf gehen, stelle ich zufrieden fest, dass die Informationen der internen Ermittler auch in diesem Punkt offenbar glaubwürdig sind: Das »dubiose Pärchen« scheint tatsächlich aus dem Umfeld des russischen Geheimdiensts zu kommen! Der vermeintliche Bruder von Nerses B. hat es meinem Kollegen Sergej ja selbst erzählt.
Gespräch mit Haubs altem Freund
Beschwingt mache ich mich auf den Rückweg zum Hotel und beschließe, mich nicht weiter über die beiden Tengelmann-Vertreter und ihre Vorstellungen, wie wir Journalisten unserer Arbeit nachzugehen haben, zu ärgern. Meine Kollegen und ich werden unser eigenes Ding machen – und davon müssen die beiden Männer ja auch nicht unbedingt etwas mitbekommen.
Es erweist sich nun als gute Entscheidung, dass wir im Hotel des alten Freundes von Karl-Erivan Haub abgestiegen sind. Hier kennen einige Personen den deutschen Milliardär. Mit einem von ihnen möchte ich sprechen. Ich habe den Schweizer nun schon einige Male in der Lobby oder auf den Gängen getroffen. In einem Gespräch in einem günstigen Moment unter vier Augen erzählt er mir, dass er die Familie Haub seit seiner Kindheit kennt, schon sein Vater sei als Bergführer mit dem Patriarchen und seinen drei Söhnen unterwegs gewesen. Auch dem Zermatter ist seine Liebe zur Bergwelt anzusehen, er wirkt durchtrainiert, verbringt viele Stunden an der frischen Luft und ist auch im Winter braungebrannt. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist er in erster Linie ein Freund von Karl-Erivan und Katrin Haub, nicht so sehr von Christian Haub und dessen Familie. Er scheint mir ein ehrlicher und aufrichtiger Mensch zu sein, dem die Dreharbeiten rund um das mysteriöse Verschwinden seines Freundes nicht recht angenehm sind. Ich vermute, dass er durch die jahrelange Freundschaft mit dem deutschen Milliardär auch persönlich von den nun auftretenden Gerüchten und Skandalen betroffen ist. Vermutlich fällt es ihm schwer, das alles zu glauben. Er hat Karl-Erivan Haub sicher ganz anders wahrgenommen. Russische Oligarchen, Geldwäsche und Geheimdienstverbindungen sind eher nicht die Themen, die einen bodenständigen Walliser beschäftigen. Für ihn, so hatte er mir bereits ein paar Tage zuvor gesagt, sei ein Bergunfall ganz klar Ursache für das Verschwinden. Alles andere seien nur böse Gerüchte, die die Klatschpresse säen würde, um mehr Zeitschriften zu verkaufen. Und zur Klatschpresse zählt er offenbar auch mein Team und mich.
Genau aus diesem Grund möchte ich ihn noch mal unter vier Augen sprechen. Ich möchte ihm zeigen , was uns und vor allem auch intern bei Tengelmann vorliegt. Er stimmt zu, am späten Nachmittag kurz bei mir im Hotelzimmer vorbeizukommen und einen Blick auf meinen Laptop zu werfen. Um ihn nicht mit den ganzen Details unserer Recherche zu erschlagen, zeige ich ihm ein Dokument: die Liste der abgehenden Telefonverbindungen nach Russland. Ich habe die Telefonate mit Veronika E. und Andrej Suzdaltsev rot markiert und bitte Karl-Erivans Freund, in der ersten Spalte der Excel-Tabelle selbst mit der Maus herunterzuscrollen. Die Aufzeichnungen beginnen am 1. Februar 2018. Zunächst ist die Liste vollkommen schwarz. Die erste rote Markierung taucht am 14. Februar auf. Ein Gespräch mit der jungen Russin. Könnte es ein Anruf zum Valentinstag sein? Es würde die Theorie einer Liebesbeziehung stützen. Mit angespannter Mine scrollt der Mann weiter. Als er sich den Eintragungen von Mitte März nähert, versteinert sich seine Mine. Tatsächlich habe ich noch nie einen Menschen gesehen, dem tatsächlich die Farbe aus dem Gesicht gewichen ist. Doch der Jugendfreund von Karl-Erivan Haub verändert seine Hautfarbe vor meinen Augen von rosig zu kreidebleich. Mit fassungslosem Blick scrollt er durch den März, der bis auf wenige Ausnahmen völlig rot eingefärbt ist. Er lauscht angespannt meinen Erklärungen, beispielsweise der zeitlichen Abfolge zwischen Karl-Erivan Haubs Anrufen spät nachts am 5. April und der darauffolgenden Nachricht an den Piloten, das Ziel zu ändern: dem Anruf am 6. April unmittelbar nach der Landung und Veronikas zeitgleicher Zugbuchung von St. Petersburg nach Moskau sowie den außergewöhnlich langen Telefonaten spät in der Nacht vor seinem Verschwinden. »Man kann halt doch nicht einfach in die Menschen hineinschauen.« Der Satz kommt aus dem tiefsten Inneren des Mannes, der wie erstarrt vor mir sitzt. Von allen Gesprächen, die ich während der Recherche mit den verschiedensten Personen geführt habe, bleibt mir diese kurze Unterhaltung mit dem Freund von Karl-Erivan Haub in ganz besonderer Erinnerung: Es ist bis zum heutigen Tag das ehrlichste und authentischste Gespräch geblieben. Der Schweizer hat keinerlei persönliche Interessen, ihm geht es nicht um das Erbe, nicht um seinen Ruf und für ihn gibt es keinen Grund, etwas zu verheimlichen: Ihm geht es einzig und allein um seinen verschollenen Freund. Seine körperlichen Reaktionen, der Moment, als die Farbe aus seinem Gesicht wich, als er wohl zum ersten Mal realisierte, dass an den schier unglaublichen Gerüchten doch mehr dran sein könnte, als er bisher angenommen hatte: Das kann man nicht spielen. Ich konnte ihm quasi dabei zuschauen, wie sich der Schock in Wellen in seinem Bewusstsein ausbreitete. Nach einer guten halben Stunde verlässt Karl-Erivan Haubs alter Freund mein Zimmer sehr in sich gekehrt. Vermutlich muss er das Gesehene erst mal sacken lassen und sich darüber mit seiner Familie austauschen.
Einige Tage später, am Ende unseres Aufenthalts, erfahre ich von ihm, dass er nun auch aus Tengelmann-Kreisen 693 die Auskunft erhalten habe, dass es tatsächlich »inzwischen handfeste (…) Indizien für die Berichterstattung von RTL« 694 gebe. Wovon ich die ganze Zeit überzeugt war, nämlich dass der finale Beweis inzwischen vorliegt, bestätigt sich für mich in diesem Moment.
Ein Interview mit dem Krisenmanager ist für uns dennoch sehr wichtig ist, um in der Doku einen exklusiven Blickwinkel auf die Geschichte zu bieten, bemühe ich mich um einen Kompromiss mit dem PR-Strategen – keine Fragen zu Russland und FBI und CIA, dafür aber zum »dubiosen Pärchen«. Der PR-Stratege willigt ein und wir vereinbaren einen neuen Termin für ein Interview mit dem Krisenmanager einige Tage später in seinem Büro in Deutschland.
Die Zeit in Zermatt vergeht wie im Flug, unsere Drehtage sind allesamt vollgepackt mit viel Arbeit. Erschöpft packen wir am letzten Tag unser Equipment zusammen und Karl-Erivan Haubs Freund fährt uns mit dem hoteleigenen Elektrotaxi zum Bahnhof. Falls ich je herausfinden werde, was mit dem Milliardär wirklich passiert ist, werde ich es ihm als einem der Ersten sagen. Das nehme ich mir auf der Zugfahrt nach Täsch vor. Von der Schweiz aus fahren mein Kamerateam und ich dann nicht wie geplant zurück nach Köln und Berlin, sondern in die süddeutsche Grenzstadt, wo der Tengelmann-Berater seine Firma hat.
Zweiter Anlauf: Das Interview mit dem Krisenmanager
Nach dem Eklat einige Tage zuvor in Zermatt bemühen wir uns nun alle um eine gute Stimmung für den zweiten Interviewversuch. Wir werden im Büro des Tengelmann-Beraters freundlich empfangen, es warten Croissants und andere gute Dinge zum Verzehr. Die Situation ist eigentlich verrückt. Den beiden Tengelmann-Vertretern ist vermutlich ziemlich klar, dass sie gerade versuchen, uns Journalisten auf eine aus meiner Sicht völlig offenkundig falsche Fährte zu locken. Sowohl der PR-Stratege als auch der Krisenmanager wirken daher auch trotz der vordergründig freundlichen Stimmung sehr angespannt. Das Interview beginnt und als Erstes befrage ich den Krisenmanager in aller Ausführlichkeit über den Ablauf der Such- und Rettungsarbeiten unmittelbar nach dem Verschwinden des Milliardärs. 695 696 Vieles ist zu diesem Zeitpunkt ja schon bekannt, deshalb entwickelt sich ein teilweise absurdes Gespräch: Die Tatsache beispielsweise, dass Haub am Vorabend des 7. April 2018 mit einer russischen Nummer Kontakt hatte, will der Berater nicht in den Mund nehmen. 697 Die Spur soll nicht nach Russland führen. Punkt. Der PR-Stratege steht neben uns wie ein Wachhund. Als ich zu den Fragen rund um das »dubiose Pärchen« komme, steht die Luft vor Anspannung im Raum. Der Krisenmanager ist hochkonzentriert und wägt jedes seiner Worte genau ab. Ich registriere, dass seine Augenlieder mehr flattern als bei den übrigen Fragen, er wippt mehrfach während des Gesprächs nach oben: Der sonst so kontrollierte Mann steht unter gehörigem Druck. Die Veränderung in seiner Gestik ist minimal, aber eben doch wahrnehmbar. 698
Auch wenn wir über die aus meiner Sicht relevantesten Themen mit dem Krisenmanager nicht sprechen konnten, ist das Interview für meine Kollegen und mich gut gelaufen. Es wird die Doku definitiv bereichern, denn mit einer Person, die so nah an der Familie Haub und den internen Ermittlungen dran ist, hat bisher kein anderer Journalist gesprochen.
Nach dem Interview fährt das Kamerateam zurück nach Köln und für mich geht es nach Berlin zurück. Ob Vadim wohl schon Neuigkeiten zu meinem Russland-Visum hat? Und konnte Sergej inzwischen das »dubiose Pärchen«, Nerses B. und seine Frau, von einem Interview überzeugen? Auf der Rückfahrt nach Berlin frage ich mich, ob ich das mysteriöse Verschwinden des Milliardärs nach den Tagen in Zermatt nun anders bewerte als zuvor. Und tatsächlich: ja. Im Vorfeld hatte ich nur eine sehr abstrakte Vorstellung von den Gefahren eines Gletschergebiets. Natürlich weiß man, dass es gefährlich ist. Aber ich hätte nicht gedacht, dass man die Gefahr so deutlich sehen kann. Bei meinen bisherigen Skiurlauben habe ich Gletscher eher am Rande wahrgenommen. Die Helikopterflüge haben uns eine Vogelperspektive ermöglicht. Zeitweise dachte ich sogar, die Chance, in eine Spalte zu fallen, sei größer, als nicht hineinzufallen. Es gibt einfach so verdammt viele! Und die Spuren der Skifahrer führen halsbrecherisch nah am Abgrund vorbei. Als ich das Gebiet das erste Mal von oben sah, dachte ich: Wir können aufhören zu suchen, Karl-Erivan Haub liegt hier bestimmt irgendwo begraben. Doch nach den vielen Gesprächen mit den Bergrettern ist eben auch klar: Nur eine bestimme Anzahl der Spalten kommt überhaupt infrage, Haub musste ja dort irgendwie hinkommen: Sie müssen also in der Nähe einer halbwegs befahrbaren Route sein, der Milliardär kann sich ja nicht in die Mitte des Gletschers »beamen«. Und alle Spalten, bei denen auch nur eine entfernte Möglichkeit bestanden hat, dass man sie auf Skiern erreichen kann, wurden akribisch abgesucht. Da Kosten bei der Suche nach dem Verschollenen keine Rolle spielten, wurden darüber hinaus auch viele weitere Spalten abgesucht, um nichts unversucht zu lassen. »Wir haben alles Menschenmögliche getan, um Haub zu finden«, sagten mir sowohl der Rettungschef, seine Bergretter als auch Haubs Freund, der Hotelbesitzer. Und ich glaube es ihnen aufs Wort.
Später erfahre ich über Umwege, dass der Rettungschef während unserer Dreharbeiten die Tengelmann-Vertreter gefragt hat, ob ihnen eigentlich schon während der Phase der akuten Suche im April 2018 »klargewesen« sei, dass »der Haub da oben gar nicht liegt«, und ob die Tengelmann-Leute eigentlich »bewusst das Leben der Bergretter riskiert« hätten, obwohl man intern schon ganz andere Spuren verfolgte. Eine vollkommen berechtigte Frage, denn jeder Einsatz am Berg ist auch für die Retter lebensgefährlich. Offenbar, so denke ich auf der Rückfahrt, haben unsere Dreharbeiten auch bei den Menschen in Zermatt Fragen aufgeworfen: Auch sie werden gerade unschuldig in diese mysteriöse Geschichte hineingezogen – und vielleicht sogar in dem Milliardenstreit für eigene Interessen benutzt: Gespielt wird nach den Regeln der Familie, und zum Zuge kommt nur, wer sich im Kampf um die Firmenanteile als nützlich erweisen könnte. Ich habe das Gefühl, dass wir alle wie Figuren auf einem Schachbrett der Milliardäre bewegt werden: Journalisten, die Bewohner Zermatts, die Bergretter, die internen Ermittler – und die Behörden.
Auf der Rückfahrt nach Deutschland frage ich mich, was eigentlich das Amtsgericht Köln zu den Indizien sagen würde. Schließlich läuft dort das Aufgebotsverfahren, und jeder, der Informationen über den Verbleib von Karl-Erivan Haub hat, ist aufgefordert, sich beim zuständigen Sachbearbeiter in Zimmer 814 zu melden. Die Frist läuft in wenigen Tagen, am 12. Mai 2021, ab. 699 Mein anfänglicher Verdacht, Christian Haubs Seite könne planen, den finalen Beweis gegenüber dem Amtsgericht Köln zu verheimlichen, hat sich nach der Aussage gegenüber dem Schweizer Familienfreund, dass es »inzwischen handfeste Beweise/Indizien für die Berichterstattung von RTL« 700 gebe, und der Tatsache, dass der Krisenmanager im Interview mit mir jegliche Russlandverbindungen von Karl-Erivan Haub totschweigen musste, aus meiner Sicht bestätigt.
Schon während des Gesprächs mit Christian Haubs engem Vertrauten im Januar hatte ich das Thema angesprochen: Wenn die Indizien so eindeutig seien, wie es mir der Mann schon damals beschrieben hat, müsste dann nicht Christian Haub selbst vor Gericht seine Zweifel am Tod seines Bruders vortragen? Mein Gesprächspartner winkte damals lachend ab: Wer solle den derzeitigen Tengelmann-Chef denn zu so einer Aussage zwingen ? Selbst wenn es stimmt? Wo kein Kläger, da kein Richter! Ich empfinde das Vorgehen als skrupellos und moralisch höchst verwerflich. Es geht hier schon lange nicht mehr um die vermeintliche Suche nach dem Bruder: Es geht einzig und alleine um Macht und Einfluss bei Tengelmann. Und natürlich um noch ein paar Milliarden mehr auf dem Konto von Christian Haub. Doch nach allem, was wir inzwischen wissen, gibt es mindestens eine weitere Person, die berechtigte Zweifel am Tod des verschollenen Milliardärs vortragen kann: ich.
Das Aufgebotsverfahren: Ich informiere das Amtsgericht
Unmittelbar nach meiner Rückkehr in Berlin kontaktiere ich das Amtsgericht Köln und den zuständigen Sachbearbeiter. Ich möchte persönlich vorstellig werden und den Mitarbeiter des Gerichts über die Geschehnisse der letzten Wochen informieren; vor allem über die Aussagen des Sicherheitschefs von Tengelmann und seines Beraters sowie über unsere RTL-Rechercheergebnisse. Mein Vorhaben wird innerhalb der Redaktion kontrovers diskutiert. Zwar hegt keiner meiner Kolleginnen und Kollegen ernsthafte Zweifel, dass uns etwas verheimlicht werden soll: Das ist eigentlich allen klar. Vielmehr besteht die große Sorge, die Tengelmann-Riege könne unseren Sendetermin für die Doku gefährden, indem sie beispielsweise mit einer einstweiligen Verfügung die Ausstrahlung verhindere. Das wäre aus Sendersicht eine Katastrophe. Dennoch: Bei allem, was wir inzwischen wissen, wäre es falsch und fahrlässig , unser Wissen nicht mit dem Gericht zu teilen. Wir kommen daher überein, dass ich am 3. Mai zum Amtsgericht Köln fahre und den Sachbearbeiter über unsere Zweifel informiere. Der Termin soll montags um 11:30 Uhr im Zimmer 814 stattfinden.
Es ist ein wunderschöner sonniger Maitag, jedoch für mein Empfinden noch etwas frisch. Als ich den Raum des Rechtspflegers betrete, bin ich ziemlich überrascht. Das kleine Zimmer ist voller Pflanzen, es sieht aus wie im Urwald: an den Fenstern, auf den Tischen, im Regal, auf dem Boden. Und wo keine Blumentöpfe stehen, nehmen Akten und Papierstapel den Platz ein. Obwohl der Raum chaotisch wirkt, scheint der Mitarbeiter des Amtsgerichts eine gewisse eigene Ordnung entwickelt zu haben. Er hat zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene, lange, hellgraue Haare und trägt einen buschigen Schnauzbart. Er ist sehr schlank und ganz in Schwarz gekleidet. Alles in allem wirkt er eher wie ein zerstreuter Künstler und nicht wie ein klassischer Jurist – später erfahre ich, dass seine Leidenschaft tatsächlich die Malerei ist. Der Mann ist mir gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen. Ich gewinne den Eindruck, dass er die Zweifel am vermeintlichen Tod von Karl-Erivan Haub bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen kann. Gleichzeitig macht er mir keine allzu großen Hoffnungen, dass das Gericht angesichts eines Kalibers wie der Familie Haub Christian Haub vorladen würde und ihn und/oder seine internen Ermittler unter Eid vernehmen würde. Mir kommt es in diesem Moment so vor, als sei eine Milliardärsfamilie aufgrund ihres Reichtums über jeden Verdacht erhaben. Als hätten sie es nicht nötig , etwas zu verheimlichen. Immer wieder betone ich im Gespräch, das Amtsgericht solle alle an den internen Ermittlungen beteiligten Personen vorladen. Sie wissen alles. Zumindest aber sollte das Gericht sie schriftlich nach dem Kenntnisstand der Ermittlungen fragen. Denn so wie ich es einschätze, könnten sich die Beteiligten des Betrugs strafbar machen, wenn sie belastbare Hinweise gegenüber dem Gericht verheimlichen: Die Vorlage des finalen Beweises würde aller Wahrscheinlichkeit nach eine Todeserklärung von Karl-Erivan Haub verhindern – und damit auch den Verkauf seines Drittels der Anteile an Christian Haub. Beim Verschweigen belastbarer Hinweise würde Karl-Erivan Haub daher im Umkehrschluss durch Vorspiegelung falscher Tatsachen für tot erklärt werden und damit die Grundlage für Christian Haubs Deal bereitet werden. Die an den internen Ermittlungen beteiligten Personen würden sich zu Handlangern des Milliardärs machen – und sich unter Umständen zusammen mit ihm strafbar machen. Es wäre nichts anderes als ein Betrug in Milliardenhöhe. Würden sie das riskieren? Oder würden sie gegenüber einem Gericht nicht vielleicht doch die Wahrheit sagen? So wie ich den Sicherheitschef und seinen Berater bisher erlebt habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ihre eigenen Existenzen für Christian Haubs Milliarden riskieren. Ich halte sie auch schlichtweg für nicht so raffiniert. Aus meiner Sicht gilt für sie: »mitgehangen, mitgefangen«. Ich hege daher die große Hoffnung, dass die beiden Männer gegenüber einer Behörde die Wahrheit sagen würden.
Nach wenigen Stunden verlasse ich das Amtsgericht Köln dennoch mit einem deprimierten Gefühl. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der Rechtspfleger unsere Zweifel überhaupt in aller Ernsthaftigkeit dem Gericht vortragen wird. Die Tage vergehen und es passiert nichts. Als ob mein Besuch nicht stattgefunden hätte. Doch so einfach will ich das nicht auf mir sitzen lassen. Aus diesem Grund lasse ich dem Amtsgericht meine Zweifel einige Tage später noch einmal schriftlich zukommen. 701 Nun sind sie schwarz auf weiß hinterlegt. Sicher ist sicher. Per E-Mail kläre ich das Gericht darüber auf, dass wir »mehrfach von Personen aus dem direkten Umfeld von Herrn Christian Haub erfahren« haben, »dass sich Herr Haub laut ihrem Kenntnisstand derzeit in Russland« aufhalte und sie »bis Ostern 2021 belastbare Beweise für diese Aussagen erhalten werden«. Außerdem sind wir »davon überzeugt, dass diese belastbaren Hinweise inzwischen vorliegen«. Aus unserer Sicht könne »Karl-Erivan Haub nicht für tot erklärt werden, solange das Gericht diesen Hinweisen nicht dahingehend nachgegangen ist, dass Herr Christian Haub sowie die mit dem Fall intern betrauten Personen zu ihrem Kenntnisstand vom Gericht vollumfänglich befragt werden«. Und um es noch deutlicher zu machen: »… aus unserer Sicht könnte Herr Christian Haub das Amtsgericht Köln über die Tatsache getäuscht haben, dass sein Bruder tot ist, indem er und die damit intern betrauten Personen trotz positivem Wissen über den Verbleib von Karl-Erivan Haub das Aufgebotsverfahren initiiert haben und weiterhin daran festhalten«. Im letzten Absatz fordere ich das Gericht daher auf, sicherzustellen, dass Christian Haub offenlegen müsse, »welche Kenntnis er, sowie die mit dem Fall intern betrauten Personen, über den Verbleib des Ehemanns und Vaters, Karl-Erivan, haben«.
Bevor ich auf »senden« drücke, halte ich kurz inne. Es ist klar, dass die schriftliche Darlegung unserer Zweifel nichts weniger als eine Kriegserklärung gegenüber Christian Haub ist. Alle Bemühungen der Tengelmann-Medienrechtlerin und des PR-Strategen, den von Christian Haubs engem Vertrauten verursachten Schaden vom Unternehmen und vom Tengelmann-Chef fernzuhalten, sind damit hinfällig. Sollte das Gericht seiner Arbeit ordentlich nachkommen und sowohl die internen Ermittler als auch Christian Haub vorladen, könnte innerhalb weniger Tage bekannt werden, seit wann und mit welchem Aufwand die Spuren nach Russland verfolgt wurden. Es würden sich innerhalb kürzester Zeit höchst unangenehme Fragen für die gesamte Familie stellen: Warum wurden weder die deutschen noch die Schweizer Behörden über die Verdachtsmomente der russischen Geheimdienstverbindungen informiert? Warum wurde das Interesse der amerikanischen Geheimdienste FBI und CIA niemandem gemeldet? Welche Rolle spielen die verschwundenen Tengelmann-Millionen im gescheiterten PLUS- Russland-Geschäft? Ist das Unternehmen in einen der größten Geldwäscheskandale aller Zeiten verwickelt, den Russischen Waschsalon ? Fragen, die alle Strafverfolgungsbehörden in Deutschland interessieren sollten.
Ich drücke auf »senden«.
Von jetzt an gibt es kein Zurück mehr: Unsere Zweifel am Tod von Karl-Erivan Haub und die Verwicklungen seines Bruders Christian Haub sind schwarz auf weiß beim Amtsgericht Köln hinterlegt. Wie zu erwarten, erzielen die schriftlich vorgetragenen Bedenken eine deutlich stärkere Wirkung als das mündliche Gespräch mit dem Sachbearbeiter einige Tage zuvor: Die gesamte Tengelmann-Riege ist vor Wut außer sich, allen voran Christian Haubs Vertrauter. Offenbar bittet das Amtsgericht Köln nach meinem Schreiben sowohl Katrin Haubs Seite als auch Christian Haubs Seite über ihre Anwälte um eine Stellungnahme zu den im Raum stehenden schweren Vorwürfen. Und wie nicht anders zu erwarten, fährt Christian Haubs enger Berater schwere Geschütze auf. Zwei Tage vor Ablauf der Frist besteht eine reelle Möglichkeit, dass das Gericht die Todesklärung nicht aussprechen könnte. Es entsteht ein enormer Druck seitens Tengelmann: Offenbar werden alle Möglichkeiten in Betracht gezogen, eine Ausstrahlung der Doku zu verhindern. Und auch bei uns in der Redaktion entsteht eine Diskussion. Haben wir für diese Vorwürfe wirklich genug Beweise? Ich, die sich so intensiv mit dem Fall beschäftigt hat, bin davon überzeugt. Dass es daran auch intern Zweifel gibt, muss man als Journalistin aushalten können. Und dennoch braut sich in mir ein Sturm der Gefühle zusammen. Als Reporterin war ich in den vergangenen Monaten immer als Gesicht dieser Recherche an der Front, immer in Kontakt mit den Tengelmann-Vertretern. Ich habe viele persönliche Gespräche mit ihnen geführt. Sergej und ich haben fast fünf Monate lang unsere Tage und auch Nächte mit der Verifizierung der internen Unterlagen verbracht. Wir haben auf den Ergebnissen aufgebaut und eine Vielzahl weiterer Indizien gesammelt. Ich weiß, was ich weiß.
Meine Rettung kommt schließlich aus unverhoffter Richtung: Der Reporter eines anderen Mediums 702 lässt mir ein aktuelles mehrseitiges Schreiben von Haubs Anwälten an das Amtsgericht Köln zukommen: Der Brief soll das Gericht von Christian Haubs Unschuld überzeugen und gleichzeitig meinen Sender und mich in die Schmuddelecke stellen. Auf seinem Feldzug gegen uns Journalisten hat man den Brief jedoch nicht nur an das Amtsgericht Köln, sondern auch wieder an alle möglichen anderen Redaktionen verschickt. Und so landet er am Ende eben auch bei uns. In einer für den Anlass ungewöhnlich emotionalen Art und Weise diffamiert man meine Person und unsere Recherche und wird sehr persönlich. Aber das ist wenig überraschend, ein solches, nicht sachliches Verhalten zeigen einige der Tengelmann-Vertreter ja nicht zum ersten Mal. Im Schreiben an das Gericht unterstellt man mir »eigensüchtige Motive« und stellt »strafrechtliche Konsequenzen« 703 gegen mich in Aussicht. Der in jeglicher Hinsicht leeren Drohung folgen dann jedoch nie Taten. Vermutlich zielt Christian Haubs Seite vor allem darauf ab, das Gericht zu beeindrucken.
Im Schreiben an das Gericht wird behauptet, durch die Übereinkunft, die die Rechtsbeistände von beiden Parteien für die verfeindeten Familienstämme vereinbart hätten, sei ein neu gewonnener Familienfrieden entstanden, welcher eine Gefahr von 90.000 Arbeitsplätzen 704 durch die potenzielle Zerschlagung des Unternehmens verhindere. Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass unsere auf einer monatelangen Recherche beruhenden Zweifel an Karl-Erivan Haubs Unfalltod diese 90.000 Jobs gefährden könnten. Umgehend leite ich die vier Seiten bei uns im Sender weiter. In Anbetracht der herablassenden Art und Weise, wie man über den Sender, die Doku und mich spricht – und mit dem Wissen, dass man uns ja selbst den Zugang zu den Informationen gewährt hat, die sich jetzt gegen die Absender wenden – treffen wir gemeinsam die Entscheidung, meine vorgetragenen Zweifel nicht zurückzuziehen. Einerseits bin ich nun erleichtert, andererseits fühle ich mich wie ein geprügelter Hund. Doch während ich die hochemotionalen und beleidigenden Worte lese, die vermutlich durch Christian Haubs engen Vertrauten gewählt wurden, muss ich schon wieder schmunzeln. Versucht man, durch diesen durchschaubaren Versuch die Verantwortung für das Fortbestehen von 90.000 Arbeitsplätzen in die Hände des Gerichts zu legen? Will man den Richtern Angst machen, um so ihre Entscheidung zugunsten der Familie zu beeinflussen? Dem Schreiben ans Gericht ist eine vier Punkte umfassende eidesstattliche Versicherung von Christian Haub beigefügt. Ich lese sie mit Erstaunen. Christian Haub macht einen riesigen Fehler. Diese DIN-A4-Seite wird ihm und seinen Rechtsbeiständen eines Tages ordentlich um die Ohren fliegen: Die eidesstattliche Versicherung ist meiner Meinung nach in mehreren Punkten falsch. Und damit ist nach Paragraf 154 StGB der Tatbestand einer Straftat erfüllt.
Am 10. Mai 2021 schrieb Christian Haubs enger Berater im Auftrag von Christian Haub an das Amtsgericht Köln unter Punkt 1, es lägen »keine belastbaren Hinweise, geschweige denn Beweise« dafür vor, dass sein Bruder »Charlie« noch leben könnte. Unter Punkt 2 gibt Christian Haub an, er sei »von Anfang an davon überzeugt« gewesen, dass sein Bruder tödlich verunglückt sei. 705 Unter Punkt 3 stellt er außerdem fest, dass er »erstmals« nach einem Bericht in der Zeitschrift »Bunte« im November 2020, wonach sein Bruder das Verschwinden inszeniert haben könnte, einen »externen Sicherheitsdienst« beauftragt habe, »diesen Gerüchten auf den Grund zu gehen«. 706 Im letzten Punkt wird mir persönlich vorgeworfen, nur unsere RTL-Dokumentation besser vermarkten zu wollen. Es sei eine »Unterstellung«, dass er »vorsätzlich Informationen zurück halte, die bewiesen, dass [sein] Bruder noch lebt.« Dies sei »ungeheuerlich« und davon sei »kein einziges Wort wahr«. 707
Während ich die eidesstattliche Versicherung staunend durchlese, frage ich mich, was in aller Welt Christian Haub und sein Umfeld dazu veranlasst hat, das Schreiben in dieser Form aufzusetzen. Waren die Rechtsanwältin sowie der PR-Stratege nicht in die Kommunikation involviert? Punkt 2 und 3 sind schon zum damaligen Zeitpunkt auch für Außenstehende als falsch zu enttarnen; das hätten die pragmatische Anwältin und der PR-Stratege angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, doch nie durchgehen lassen: Es ist ziemlich ersichtlich, dass Christian Haub nicht »von Anfang an davon überzeugt war«, dass sein Bruder tödlich verunglückt ist, denn wenige Monate zuvor schloss er ja, wie ich von seinem engen Vertrauten selbst weiß, einen erfolgsabhängigen Vertrag mit dem Tengelmann-Sicherheitschef für die Suche nach Karl-Erivan Haub ab, dessen Ziel eindeutig war, Karl-Erivan Haub lebend zu finden. Und mehr noch: Bevor es zur Bezahlung dieser erfolgsabhängigen Vergütung kommen könne, müssten laut Haubs engem Vertrauten mehrere unabhängige Gutachter in der Lage sein, die vorgelegten Belege zu bestätigen. Ebenso wenig stimmt, dass Christian Haub »erstmals« über die Zeitschrift BUNTE im November 2020 davon erfahren haben will, dass sein Bruder sein Verschwinden möglicherweise inszeniert haben könne, und erst dann »einen externen Sicherheitsdienst damit beauftragt« habe, »diesen Gerüchten auf den Grund zu gehen«. Über die Dreistigkeit dieser Aussage bin ich ein wenig erschüttert, denn die Russland-Spuren wurden unmittelbar nach dem mysteriösen Verschwinden im April 2018 aufgenommen und intern vom Tengelmann-Sicherheitschef koordiniert, der auch aktuell noch an Christian Haub direkt berichtet. Im Bericht Projekt Zermatt RU 2 werden schließlich die »möglichen aktuellen Kontakte des KEH in die Russische Föderation« 708 gesucht. Eindeutiger kann bereits im Sommer 2018 die Möglichkeit eines absichtlichen Untertauchens von Karl-Erivan Haub ja nicht benannt werden.
Punkt 1, nach dem »keine belastbareren Hinweise« vorlägen, sowie die Beteuerung in Punkt 4, Christian Haub halte nicht »vorsätzlich Informationen« zurück, werden sich im Laufe der nächsten Monate ebenfalls als falsch herausstellen. Doch dass er auch in diesem Punkt nicht die Wahrheit sagt, ist zum Zeitpunkt der eidesstattlichen Versicherung im Mai 2021 bereits einem kleinen Kreis von Menschen bekannt: Die belastenden Indizien liegen zu diesem Zeitpunkt schon vor.
Die Erde im Tengelmann-Reich bebt nach meinem Besuch beim Amtsgericht Köln, die Erde bei uns aber leider auch: Selbstverständlich würde ich die Widersprüche gerne sofort veröffentlichen; der Text ist schnell geschrieben, er fließt mir nur so aus meinen Fingern. Es sind ja alles Tatsachen, die ich ohne Probleme belegen kann. Die eidesstattliche Versicherung halte einer »Tatsachenüberprüfung« in Teilen »nicht stand«, wie es unter Juristen so schön heißt. Doch die Veröffentlichung wird auf unbestimmte Zeit verschoben: Im Fokus steht jetzt erst einmal unsere 90-minütige Dokumentation. Ich bin sehr enttäuscht, ich hätte gerne zusätzlich den Artikel veröffentlicht. Sergej kann meinen Frust verstehen. Wir teilen das gleiche Wissen und die gleiche Überzeugung. 709
Die Frist des Aufgebots läuft am 12. Mai 2021 schließlich ohne weitere Vorkommnisse ab und zwei Tage später wird der verschollene Karl-Erivan Haub vom Amtsgericht Köln für tot erklärt. 710 Das Gericht hat Christian Haubs eidesstattlicher Versicherung offenbar nicht ausreichend hinterfragt: Die internen Tengelmann-Ermittler wurden nie zu ihrem Kenntnisstand befragt. Das Durcheinander bei Tengelmann sorgte dennoch für öffentliches Interesse und andere Journalisten wurden ebenfalls skeptisch. Einem Reporter gelingt es in der Folge, sich Zugang zu den internen Tengelmann-Ermittlungsberichten zu verschaffen. Es sind jene Abschlussberichte, von denen ich bis zu diesem Zeitpunkt dachte, niemand außer meinen RTL-Kollegen und mir kenne sie. Erstaunt stellt der andere Journalist fest, wovon ich überzeugt bin: Dass die eidesstattliche Versicherung offenbar auf Unwahrheiten beruht. 711 712 Das Vorgehen sei »seltsam«, »mysteriös« und »eigenartig«. Christian Haub habe »unaufgefordert eine eidesstattliche Versicherung« abgegeben, wonach er »vom Tod seines Bruders überzeugt« sei. Und das, obwohl »ein Ermittlerteam (…) unmittelbar nach dem Verschwinden von KEH im Jahr 2018 sehr aktiv« war und »zuversichtlich« gewesen sei, dass Karl-Erivan Haub »noch leben« könnte. Dies belege »der Bericht namens ›Zermatt RU 2‹, der von Ermittlern im Auftrag von Tengelmann erstellt wurde« 713 und welcher seiner Redaktion nun ebenfalls vorliege. Außerdem seien die internen Ermittler »von Tengelmann selbst immer dann gestoppt und zurückbeordert« worden, wenn sie eine »vermeintlich heiße Spur« 714 gefunden hätten. Der Reporter befragt auch das Amtsgericht Köln, ob es bei dieser starken Indizienlage die internen Ermittler befragt hätte, doch der Pressesprecher des Gerichts beantwortet die Frage nicht konkret. Er äußert sich standardmäßig: »Zu Art und Umfang der durchgeführten Ermittlungen« werde »keine Stellung genommen«. 715
Es wurde einfach nichts unternommen, so einfach ist das.
Ich bin froh, dass inzwischen weitere Kollegen über diese Geschichte berichten, dass irgendjemand die Wahrheit an die Öffentlichkeit bringt. Für Christian Haub und sein Team bleibt jedoch auch diese Veröffentlichung ohne Konsequenzen. Weder der Bundesnachrichtendienst noch der Verfassungsschutz oder das Bundeskriminalamt kommen auf die Idee, zu reagieren. Vor allem aber frage ich mich, warum das Gericht den offensichtlichen Gang zum Sicherheitschef von Tengelmann und seinem Berater scheut. Sowohl meine schriftlich vorgetragenen Zweifel als auch der gerade publizierte Artikel des anderen Kollegen präsentieren dem Kölner Amtsgericht alles quasi auf dem Silbertablett. Warum versteckt es sich vor der Wahrheit? Warum schaut es »trotz einiger Zweifel« 716 weg? Auf welcher Grundlage entscheiden die Richter, dass die Hinweise »irrelevant« 717 seien, wie es der andere Reporter schreibt? Oder wird am Ende politischer Druck ausgeübt, in diesem Fall nicht so genau hinzuschauen? Diese Frage stelle ich mir bis heute – und kann die Antwort nur vermuten.
Doch – und auch das ist eine seltsame Eigenart bei dieser Recherche – ich habe kaum Zeit, über die Motive des Gerichts nachzudenken. Um mich herum geht alles Schlag auf Schlag: Auf die Ernüchterung des Aufgebotsverfahrens folgt wenige Tage später die einmalige Chance, das »dubiose Pärchen« aus dem Hotel The Omnia persönlich zu treffen. Und nicht nur das: Vadims »gute Freunde« haben tatsächlich dafür gesorgt, dass mir die Einreise nach Russland doch noch genehmigt wird. Bevor unsere Doku also Anfang Juni gesendet werden kann, haben wir noch zwei wichtige Rechercheschritte vor uns.
Das »dubiose Pärchen«: die Spuren führen nach Deutschland
Sergej hat ein bemerkenswertes Telefonat mit Nerses B. geführt: Nach der ursprünglichen Kontaktaufnahme durch dessen angeblichen Bruder meldet sich unser »Verdächtiger« tatsächlich telefonisch bei meinem Kollegen. Das Gespräch dauert ca. eine Viertelstunde und Nerses B. trifft darin einige höchst fragwürdige Aussagen: 718 Sein Besuch in Zermatt sei »spontan« gewesen, er wisse auch nicht mehr genau, von wo er angereist sei. Das Hotel The Omnia habe er »auf Empfehlung des Taxifahrers« gebucht, der ihn vom Bahnhof in Zermatt zum Hotel gefahren habe. Wir wissen jedoch, dass am Vorabend der Anreise, am 8. April 2018, gegen 22 Uhr telefonisch aus einem Auto heraus gebucht wurde. Offenbar lügt uns der angebliche »Alpinist« an und versucht, die Hintergründe seiner Anreise zu verschleiern. Zudem sind weder Nerses B. noch seine damalige Verlobte und heutige Ehefrau das typische Klientel des Luxushotels – selbst wenn er einen Taxifahrer nach einem guten Hotel gefragt hätte, wäre das The Omnia vermutlich nicht die erste Wahl des Befragten gewesen. Doch die mit Abstand seltsamste Antwort erhält Sergej auf die Frage, warum das Paar eigentlich die ganze Zeit in der Lobby verbracht habe: Nerses B. gibt an, »ihn« im Hotel gesehen zu haben. Ihn? »Ja, den der verschwunden ist.« Ohne dass Karl-Erivan Haub im Gespräch zwischen Sergej und dem Deutsch-Armenier bisher ein größeres Thema gewesen ist, lenkt Nerses B. den Fokus unvermittelt auf den vermissten Milliardär. Damit gibt er unbewusst mehr Hintergrundwissen preis, als ihm lieb sein dürfte. Der Security-Mann will auf der einen Seite große Erinnerungslücken rund um seine Anreise haben, behauptet dann aber wiederum, jemanden gesehen zu haben, der zum Zeitpunkt des Aufenthalts des Paars seit mehreren Tagen als spurlos verschwunden gilt und nach dem Hunderte Menschen suchen. Was reimt sich der Typ da zusammen? Ich bin sprachlos – und zwar aufgrund der Naivität, die uns gerade entgegenschlägt. Niemals kann das ein professioneller russischer Spion sein: Der Typ redet sich ja schon am Telefon um Kopf und Kragen und ist außerdem auch noch bereit, Sergej und mich persönlich zu treffen, um uns von seiner Geschichte zu »überzeugen«. Nerses B. fragt auch gar nicht nach, wie wir an seine Kontaktdaten gekommen sind. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass ihm sogar bewusst ist, dass er da in irgendwas verwickelt ist, dass wir aus gutem Grund gerade bei ihm anklopfen. Es scheint ihn tatsächlich gar nicht zu überraschen und er stellt es auch nicht infrage! Am Telefon befindet er sich die meiste Zeit im Rechtfertigungsmodus.
Sergej und ich vereinbaren einen sehr zeitnahen persönlichen Termin wenige Tage später. Als Treffpunkt definieren wir einen gut einsehbaren Parkplatz eines Discounters in Bremerhaven. In unmittelbarer Umgebung befindet sich der Elektronikmarkt, in dem Nerses B. als Sicherheitsmann arbeitet. Dass er in der Sicherheitsbranche tätig ist, hatten wir schon vor einigen Wochen über eine Abfrage im Registeramt herausgefunden. 719 Sein Business scheint eine kleine One-Man-Show zu sein, mit dem er einen Aufenthalt im The Omnia definitiv nicht aus der Portokasse bezahlen kann. Sergej und ich haben eine versteckte Kamera bei uns. Auch zu unserer Sicherheit wollen wir das ganze Gespräch filmen. Ein Kamerateam wartet außerdem in einem Van auf dem Parkplatz und filmt unsere erste Begegnung von dort aus. Sergej gibt telefonisch Bescheid, dass wir da sind, und wenig später sehen wir Nerses B. in Richtung Discounterausgang eilen.
Er ist nicht besonders groß, ganz in Schwarz gekleidet und hat eine drahtige Figur und kurze Haare. Nerses B. wirkt verunsichert. Nach einer kurzen Begrüßung bittet er uns, ihn in sein »Büro« zu begleiten. Es befindet sich im hintersten Winkel des Elektronikmarkts unter einer Treppe und ist nur wenige Quadratmeter groß. Überall sind Monitore zur Beobachtung des Markts von innen. Auf dem Weg in sein kleines Reich ist Nerses B. anzumerken, dass ihm unsere Anwesenheit vor seinen Kollegen unangenehm ist. Er versucht, so schnell wie möglich aus ihrem Blickfeld zu verschwinden, und schließt sofort die Tür hinter uns.
Während Sergej und ich auf zwei drehbaren Bürostühlen Platz nehmen, setzt sich der Security-Mann auf die Tischkante seines Schreibtischs und versperrt uns damit mehr oder weniger den Weg nach draußen. Eine für mich sehr unangenehme Situation. Ich versuche, mir einen ersten Eindruck zu machen: Vor uns sitzt ein hochnervöser Mann, der seiner Jobbeschreibung nach über kein besonders großes Einkommen verfügen dürfte. Er ist mir eigentlich sympathisch, er hat nette, leicht naive Augen. Nervös rutscht Nerses B. auf der Tischkante hin und her. Offenbar hat er sich aber auf dieses Gespräch besser vorbereitet als auf das erste Telefonat mit Sergej. Es ist sogar so etwas wie ein »roter Faden« zu erkennen. Der Tenor, der bei uns hängen bleiben soll: Ich bin unschuldig, ich habe nichts zu verbergen, alles Zufall, keine Ahnung, was ihr von mir wollt. Doch so einfach machen wir es ihm nicht. Zunächst erzählt uns Nerses B. noch einmal, wie es zu dem »spontanen« Besuch in Zermatt kam: Er sei, so berichtet Nerses B., ein »Extrem-Bergsteiger«, der »auch mal für einen Tag nach Bayern« reise, um dort den »Großen Watzmann« zu besteigen. In Zermatt sei er gewesen, um »neue Routen am Matterhorn auszukundschaften«. Nachdem ich gerade ebenjene Gegend in der Schweiz inspiziert habe, halte ich diese Aussage für sehr verwegen: neue Routen am weltberühmten, sagenumwobenen Matterhorn? Und das während eines zweitägigen Aufenthalts, den er hauptsächlich in einer Hotellobby verbracht hat? Ohne Ausrüstung? Ich halte das für sehr wenig glaubwürdig. Kurz: Ich halte es für eine Lüge. Für seine Frau sei Nerses B. jedoch »nichts zu teuer«, daher habe er für sie »nur das beste Hotel« gewollt. Er bezahle zudem »immer in bar«, um »keine Spuren zu hinterlassen«. Das sei ihm sehr wichtig und er habe auch sehr mit seiner Frau geschimpft, nachdem Sergej sie über ein Foto auf Social Media gefunden hatte. Er sei »nicht lesbar«, daher hätten manche Menschen eben ein Problem mit ihm. Auf die Ungereimtheiten rund um die Buchung angesprochen, behauptet er, er könne sich an nichts Genaues mehr erinnern – ob er nun telefonisch gebucht habe oder spontan auf Empfehlung des Taxifahrers ins The Omnia gereist sei. Nerses B. erzählt uns, dass er bereits im Krieg gekämpft habe, einer militärischen Spezialeinheit angehört hätte und nun in seiner Freizeit in Polen schießen gehe, da dort die Regularien nicht so streng seien. Außerdem sei er von einem ehemaligen Mossad-Agenten in Israel als Personenschützer ausgebildet worden. Es klingt alles wild und wenig nachvollziehbar. Zu meiner allergrößten Überraschung – und Verwirrung! – kann Nerses B. jedoch tatsächlich auf seinem iPhone eine Vielzahl Fotos vorweisen, die ihn gut ausgerüstet als Kletterer in alpinem Gelände zeigen. Die Fotos sind teilweise mehrere Jahre alt, sodass wir ausschließen können, dass er sie in der Woche zuvor spontan aufgenommen hat. Ich bin völlig sprachlos: Rein gar nichts an diesem Mann wirkt so, als ob die »Alpinisten«-Story stimmen könnte. Doch die Fotos sprechen eine andere Sprache: Es besteht eine reale Möglichkeit, dass an der Geschichte zumindest der Hauch einer Wahrheit sein könnte. Mein Bild von Nerses B. gerät in diesem Moment ins Wanken. Mein Gefühl sagt mir klar und deutlich, dass der Mann uns eine Lügengeschichte auftischt. Zu 100 Prozent. Er versucht, etwas zu verheimlichen, da bin ich mir ganz, ganz sicher. Doch die Fotos verunsichern mich: Und wenn er wirklich aus Liebe zu seiner Frau mehr als 1000 Kilometer von Bremerhaven nach Zermatt zurückgelegt hat, um spontan im besten Hotel des Dorfs zwei Nächte zu bleiben, dieses Mal aber seine Ausrüstung zu Hause ließ, weil er nicht als »Alpinist« ins Gebirge gehen, sondern einfach mal ganz entspannt mit ihr in der Lobby sitzen wollte? Was, wenn es einfach Zufall ist, dass die beiden zeitgleich mit dem Verschwinden des Milliardärs dort aufgetaucht sind? Ich kann es mir eigentlich wirklich nicht vorstellen. Aber theoretisch ist es möglich.
Wieder einmal frage ich mich, warum die deutschen oder Schweizer Behörden nie richtig ermittelt haben. Warum die Familie Haub die Beobachtungen rund um das »dubiose Pärchen« nicht mit der Polizei geteilt hat. Warum das Hotel des The Omnia nicht mehr gemacht hatte – einem Mitarbeiter war das Paar ja anfänglich wegen ungewöhnlichem Verhalten aufgefallen. Warum? Vor drei Jahren hätten die Strafverfolgungsbehörden ja ganz andere Möglichkeiten gehabt. Man hätte Handydaten auswerten können. Mit wem haben die beiden unmittelbar vor der Buchung telefoniert? Wen haben sie auf der Rückfahrt angerufen? Wen vor Ort? 720
Wir verlassen Nerses B.s kleines Büro unter der Treppe nach etwa einer halben Stunde wieder. Ich habe das sichere Gefühl, dass er versucht hat, uns eine Geschichte aufzutischen, die uns von weiteren Recherchen in seinem Umfeld abhält. Er wollte uninteressant erscheinen. Doch es gibt rund um das Auftauchen von Nerses B. und seiner Frau in Zermatt zu viele Ungereimtheiten, zu viele Zufälle hätten zusammenspielen müssen. Man hätte diese Spur unbedingt verfolgen müssen . Und ich bin auch heute noch der Meinung, dass Nerses B.s Hintermänner einer der Schlüssel zur Aufklärung des mysteriösen Verschwindens von Karl-Erivan Haub sein könnten.
Sergej und ich können uns jedoch jetzt nicht mehr weiter um das »dubiose Pärchen« kümmern. Unser Sendedatum Anfang Juni rückt immer näher und eine letzte entscheidende Vor-Ort-Recherche fehlt: die Reise nach Russland.
Unsere Dreharbeiten in Russland: Wir werden überwacht
Zurück in Berlin gibt es hervorragende Neuigkeiten: Mein Russland-Visum liegt abholbereit im russischen Visa-Zentrum in Berlin Mitte vor. Vadim hat Wort gehalten. Unmittelbar nach der Rückkehr aus Bremerhaven hole ich es ab. Doch einen Wermutstropfen gibt es: Leider erhalte nur ich ein Visum – vor Ort muss ich auf ein russisches Kamerateam zurückgreifen. Sicher kein Zufall, meiner Redaktion und mir ist völlig klar, dass wir auf diese Weise enger im Auge behalten werden sollen. Und vermutlich ist es auch kein Zufall, dass ich seit Wochen seltsame Anrufe auf meine Privatnummer erhalte. Es ist die Nummer, mit der ich Vadim das erste Mal kontaktiert habe; ohne nachzudenken hatte ich nicht mit meinem Diensthandy angerufen. Nun bekomme ich ständig sogenannte Ping-Anrufe . Doch anders als bei normalen Lockanrufen entstehen keine hohen Kosten. Das finde ich ungewöhnlich und nehme mir vor, Vadim bei Gelegenheit mal darauf anzusprechen. Ich werde den Deutsch-Russen ja schon in wenigen Tagen persönlich treffen. Vielleicht hat er eine Antwort.
Mitte/Ende Mai fliege ich zusammen mit einem RTL/n-tv-Russland-Korrespondenten nach Moskau. Mein Kollege besitzt neben der deutschen auch die russische Staatsbürgerschaft und braucht daher kein Visum. Außerdem spricht er fließend Russisch, auf seine Übersetzungen und seine Expertise kann ich mich verlassen. Im Vorfeld zu unserer Reise wurde er vom russischen Außenministerium angerufen. Sein dortiger Kontakt teilte ihm mit, dass er »gut auf die Journalistin aufpassen« und ich »keine dummen Fragen« stellen solle. Eine unverhohlene Drohung. Mein Kollege hat als Russland-Korrespondent schon viel erlebt und wundert sich daher über nichts mehr. Ich treffe ihn direkt vor dem Abflug am Flughafen Berlin-Brandenburg. Zuletzt haben wir uns hier vor einem knappen halben Jahr gesehen, als der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nach seiner Nowitschok-Vergiftung von Berlin zurück nach Moskau flog. 721 Dieses Mal werden nun also wir beide in ein Flugzeug in die russische Hauptstadt steigen. Ich bin wahnsinnig gespannt, was in den nächsten Tagen passieren wird.
Vadim hatte bereits einige Tage zuvor angekündigt, er habe sich mehrmals mit seinen »guten Freunden« getroffen und müsse nun dringend mit mir persönlich sprechen. Zuvor hatte er mir auch vorausschauend die aktuelle Adresse von Veronika E. übermittelt: Es handelt sich um die gleiche Anschrift in dem Luxus-Hochhaus, die wir schon aus den internen Tengelmann-Berichten kennen. Vadim hat die letzten Wochen gut genutzt, das merke ich. Ich freue mich, ihn in den nächsten Tagen persönlich kennenzulernen. Während der Flieger abhebt und Berlin unter uns immer kleiner wird, frage ich mich, wie Russland wohl so ist. Bisher war ich noch nie dort, ich habe keine rechte Ahnung, was mich erwartet. In den vergangenen Monaten habe ich viel über die Welt der Oligarchen gelesen, über die Welt von Grishin, Suzdaltsev und Co. In Moskau und St. Petersburg wird es für Menschen wie sie jeden erdenklichen Luxus geben: glänzende Fassaden, Boutiquen und schnelle Autos. Doch nur ein minimaler Bruchteil der Russen zählt zu den Superreichen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen lebt knapp oberhalb der Armutsgrenze. Der Durchschnittslohn beträgt circa 600 Euro, der Mindestlohn liegt gar bei 160 Euro im Monat. 722 Und jeder fünfte Russe hat keinen Zugang zur Kanalisation und erledigt seine Notdurft in offenen Plumpsklos. 723 Kaum vorstellbar für einen Westeuropäer. Angesichts solch gravierender Missstände bröckelt das Bild der Weltmacht arg. Während des Anflugs auf Moskau sehen wir jedoch nichts von der Armut: Große Villen mit eigenen Wäldern und Seezugängen liegen im Speckgürtel der Hauptstadt nah beieinander.
Nach der Landung wollen wir schnell in unser Hotel. Es ist schon spät und durch den Feierabendverkehr werden wir sicherlich ein bis zwei Stunden zu unserer Unterkunft brauchen. Unser Hotel liegt in unmittelbarer Nähe des Leningrader Bahnhofs , jenes Bahnhofs, von dem Karl-Erivan Haub und Veronika E. zu einer gemeinsamen Nachtzugreise aufbrachen. In den nächsten Tagen will ich mir den Ort genauer anschauen. Wie würde ich mich als deutscher Milliardär in einem russischen Bahnhof fühlen? Während ich darüber nachdenke, stehe ich an der Zollkontrolle des Flughafens. Just in dem Moment, in dem ich den Grenzbeamten passiere, klingelt mein Privathandy zweimal an. Da ich mich noch im Zollbereich befinde, telefonieren hier verboten ist (und ich die russische Nummer auch nicht kenne), gehe ich nicht ran. Wer sollte mich hier kontaktieren? Wir sind mit niemandem verabredet. Und niemandem (außer Vadim ) ist diese Nummer bekannt. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Sollte mir dieser Anruf gerade noch einmal vor Augen führen, dass ich mich ab jetzt an die russischen Spielregeln halten muss? War das gerade eine kleine Drohung? Mein Kollege sieht es so – und ich beschließe, gleich nach der Ankunft im Hotel bei Vadim anzurufen und zu fragen, was da los ist. Vielleicht bin ich durch die Recherchen der vergangenen Monate etwas paranoid geworden, aber ich traue den Menschen um mich herum inzwischen so einiges zu. Vom Moment der Ankunft in Moskau an fühle ich mich beobachtet. Ich untersuche das Hotelzimmer ganz genau nach versteckten Kameras oder Wanzen und komme mir dabei ziemlich dämlich vor. Während mein Kollege und ich ein spätes Abendessen in der Lobby des Hotels einnehmen, erreiche ich schließlich meinen lokalen Kontakt. Vadim erklärt ein wenig entschuldigend, diese Überwachung sei »normal«, der FSB wolle »halt wissen«, wo ich bin. Auf meinem Handy sei eine Spionagesoftware, die »unbemerkt auf sämtliche Daten zugreifen« könne. Inzwischen, so sagt es der Deutsch-Russe, gebe es auch zero click- Angriffe, man habe eine Möglichkeit gefunden, ohne das Zutun der Zielperson auf das Gerät zu gelangen. 724 Für mich ist das alles irgendwie eine Nummer zu groß. Ich kann dem Gesagten entweder Glauben schenken – oder eben nicht. Fest steht: Seit Wochen erhalte ich diese Anrufe, und fest steht auch, sie begannen in der Hochphase unserer Russland-Recherche. Ich erinnere mich auch konkret an eine Situation, die vielleicht der Auslöser gewesen sein könnte: Zusammen mit meinem Kamerateam und einem Producer drehte ich einige Szenen vor dem Brandenburger Tor. 725 Von dort aus hat man einen guten Blick auf das Hotel Adlon und die dahinterliegende Russische Botschaft. Als stilistisches Element für die Doku wollten wir eine Schärfenverlagerung zwischen der deutschen Flagge auf dem Hotel und der russischen Flagge auf der Botschaft drehen. Nach einiger Zeit bemerkten wir einen Mann, der uns zu beobachten schien: ein großer Kerl mit breiten Schultern und sehr kräftigen Armen. Er hatte einen Stiernacken und ein sehr bulliges, fast brutales Gesicht. Er trug eine glatte, hüftlange Jacke aus braun-schwarzem Kunstleder. Immer wieder lief er an uns vorbei und schaute verstohlen herüber, schließlich stellte er sich in die Schlange eines Starbucks in unmittelbarer Nähe. Aufgrund der geltenden Coronaregeln war die Schlange außerhalb des Cafés. Kunden durften nur einzeln eintreten. Der Mann zückte ein Gerät, vermutlich ein Telefon, und drehte es hüfthoch immer wieder in unsere Richtung. Fotografierte er uns? Dafür wirkte das Gerät zu alt. Es schien eher so ein uraltes Klapphandy zu sein. Meine Kollegen scherzten, dass er gerade sicherlich unsere »Handydaten abgreifen« würde, es war einfach eine bizarre Situation. In dem Moment, in dem der komische Typ an der Reihe gewesen wäre, den Starbucks zu betreten, drehte er sich jedoch um und ging weg. Er wollte also offenbar gar keinen Kaffee holen. Zwei Stunden später begannen bei einigen aus meinem Team und mir die komischen Anrufe. Gab es eine Verbindung zu dem Mann? Ich glaube schon, wir wissen es aber nicht – und mein Recherche-Kollege Sergej glaubt bis heute an einen Zufall. Da wir es letztlich nicht beweisen können, dass wir abgehört werden, lasse ich Vadims Aussagen so stehen und beschließe, mein Handy nach diesen Dreharbeiten einfach auszutauschen und bis dahin auch keine vertraulichen Informationen mehr über dieses Gerät zu teilen.
Die erste Nacht in Moskau schlafe ich unruhig. Das Hotelzimmer ist riesig, das Bett ebenfalls. Obwohl wir in einem westlichen Hotel übernachten, ist der Standard verhältnismäßig niedrig, die Teppiche und das Bad wirken abgenutzt. Die Matratze ist sehr hart und die Decke ein wenig zu dünn. Obwohl es inzwischen Ende Mai ist, friere ich die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen treffen wir als Erstes das Kamerateam. Es besteht aus vier jungen Russen: einem Kameramann, einem Tonassistenten, einem Drohnen-Operator und einem Fahrer. Leider sprechen sie so gut wie kein Englisch. Ich kann mich mit ihnen also nicht direkt verständigen und muss immer den Umweg über meinen Kollegen gehen. Bei den Dreharbeiten für eine Reportage ist so etwas immer schlecht, da der Kameramann eigentlich in der Lage sein müsste, das Geschehen inhaltlich mitzubekommen, um so die Bilder einzufangen, die wir für die Dokumentation brauchen. Wenn ich beispielsweise als Reporterin vor der Kamera über etwas spreche, das hinter mir stattfindet, so sollte er in der Lage sein, das zu verstehen und dann die Schärfe in den Hintergrund zu verlagern. Aber gut. Es ist jetzt halt so und wir werden mit diesem Problem klarkommen. Als Erstes möchte ich mit und den vier Russen einmal die Kreuzung überqueren und den Leningrader Bahnhof besuchen. Bei einer Millionenstadt wie Moskau ist es wirklich ein glücklicher Zufall, dass wir fußläufig zu einer unserer Drehlocations wohnen.
Leningrader Bahnhof: Wieso fuhr Karl-Erivan Haub mit dem Nachtzug nach St. Petersburg?
Der Leningrader Bahnhof wurde im Jahr 1851 fertiggestellt und ist damit nicht nur der älteste Bahnhof Moskaus, sondern sogar ganz Russlands. Der Kopfbahnhof befindet sich am Komsomolskaja -Platz, dem wichtigsten Schienenverkehrsknotenpunkt der russischen Hauptstadt. Mehrere Metrostationen, verschiedene Straßenbahnen und gleich drei der neun Moskauer Bahnhöfe liegen hier nebeneinander, weshalb der Platz umgangssprachlich auch Platz der drei Bahnhöfe genannt wird. Von diesem Platz aus starten Züge, die ein Drittel der Erde umrunden! Von hier aus erreicht man mit der weltweit längsten durchgehenden Schlafwagenverbindungen Peking und Wladiwostok. Das riesige Russische Reich läuft an diesem Platz zusammen. Er ist ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten. Mehr als eine Million Reisende passieren diesen Platz täglich. Doch was wollte Karl-Erivan Haub hier?
Inzwischen ist es später Vormittag und auf dem Weg zum Leningrader Bahnhof sehe ich Pendler, vermutlich aus den Vororten der Hauptstadt, die gerade auf dem Weg zur Arbeit sind. Doch es gibt auch viele Menschen mit einem deutlich asiatischen Einschlag, möglichweise Usbeken, Mongolen, Tadschiken und andere Bewohner des russischen Vielvölkerstaats. Sie kommen offenbar gerade nach bis zu zehntägigen Reisen am Platz der drei Bahnhöfe an, sind mit Koffern und Taschen schwer beladen. Ihre Herkunft aus den eher strukturschwachen ehemaligen Sowjetrepubliken sieht man ihnen an. Es fällt mir schwer, mir den verschollenen Milliardär mitten in so einem Gewusel vorzustellen. Ein Mann, der äußersten Luxus gewohnt ist, der mit einem Privatjet verreist: Was würde er an einem Ort wie diesem machen? Würde er sich mit einer Limousine vor den Leningrader Bahnhof chauffieren lassen, um dann in einen Nachtzug zu steigen? Würde ein Mann seines Formats, ein Mann mit seinem Vermögen, nicht viel eher auch für die Strecke Moskau – St. Petersburg einen Privatjet benutzen? Aus den Daten der internen Tengelmann-Ermittler wissen wir ja, dass viele der Flüge nach Russland mit einem Privatflugzeug stattgefunden haben. Warum also nicht auch diese Strecke? Und welche Rolle spielt die Russin Veronika E.? Aus ihren 201 Seiten umfassenden Reisedaten wissen wir zweifelsfrei, dass beide Buchungen zeitgleich aus Russland heraus vorgenommen wurden, zu einem Zeitpunkt, als Karl-Erivan Haub sich nicht im Land aufhielt. Vermutlich buchte Veronika für beide eine Fahrt im Nachtzug in getrennten Abteilen. Warum?
Das Empfangsgebäude des Bahnhofs ist wuchtig, die leicht orangene Fassade erinnert an eine Mischung aus Renaissance und traditioneller Alt-Moskauer Baukunst. Beim Eintreten nehme ich einmal mehr wahr, wie viele Menschen sich um uns herum drängen. Ich höre viele verschiedene Sprachen, ein einziges Durcheinander. In der Vorhalle gibt es einige Essensstände und kleine Geschäfte und sogar ein Spielcasino und ein kleines Gefängnis. 726 Ziemlich verloren stehe ich in der Mitte des großen Raums: Wo geht es denn zu den Gleisen? Ich kann sie nirgends entdecken. Und alle Schilder und alle Anzeigetafeln sind in kyrillischer Schrift geschrieben. Nirgends ist der Weg auf Englisch ausgeschildert. Wenn ich nicht meinen Kollegen dabei hätte, wäre ich hier völlig verloren. Ging es Karl-Erivan Haub damals genauso? Hatte er sich besser zurechtgefunden als ich? Oder war das vielleicht der Grund, warum Veronika E. ihn begleiten musste ? Damit er sich auf dem Weg zu seinen Terminen zurechtzufinden konnte, warum auch immer er sie mit dem Zug wahrnehmen wollte? Ich nehme mir vor, später am Abend Sergej von meinen Gedanken zu berichten, und finde einmal mehr bestätigt, wie wichtig es doch ist, sich vor Ort ein Bild der Situation zu machen. Auf dem Bahnsteig betrachte ich die Züge, die die 660 Kilometer lange Strecke nach St. Petersburg zurücklegen. Die Expresszüge sind allesamt nicht die Variante »Orientexpress«, sie gehen vielmehr auf die dritte Generation des deutschen ICE zurück und werden von Siemens produziert. 727 Sie wirken sauber und einigermaßen modern. Aber definitiv nicht wie ein rollendes Hotel, in dem man gemütliche Stunden zu zweit verbringt. Die Fahrt nach St. Petersburg in einem dieser hochmodernen Züge dauert etwa vier Stunden. Und damit wären wir auch schon bei meinem nächsten ungeklärten Punkt: Der Nachtzug braucht zwischen acht und neun Stunden. 728 Wenn Karl-Erivan Haub also unbedingt Zug fahren wollte, warum wählte er nicht die deutlich schnellere Verbindung? Ich stehe ratlos auf dem Bahnsteig und schaue den Reisenden beim Einsteigen in den Schnellzug zu. Egal aus welcher Perspektive ich es betrachte – ob Nachtzug oder Schnellzug –, diese Art des Reisens ist nicht die eines romantischen Abenteuers, das ich mir bei einem vermeintlichen Liebespaar vorstelle. Zumal Karl-Erivan Haub und die junge Frau ja auch in getrennten Kabinen unterwegs waren. Es muss eine andere Erklärung geben . Und neben dem Verschollenen selbst gibt es nur eine Person, die mir die Frage beantworten kann: Veronika E. Ich hoffe sehr, dass Vadims » wichtige Neuigkeiten« für mich sind, dass die Frau bereit ist, sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte ihn einige Wochen zuvor darum gebeten, dass seine »guten Freunde« mal mit der Frau reden und meinen Interviewwunsch platzieren sollten. Da wir ja davon ausgehen, dass die Russin in irgendeiner Art und Weise mit dem FSB (oder vielleicht auch einem der anderen russischen Dienste) verbandelt sein könnte, klingt es erst einmal etwas unwahrscheinlich, dass der FSB selbst die mutmaßliche Agentin vor eine Kamera schicken würde. Doch Tatsache ist auch, dass solche Vorgänge in der Vergangenheit durchaus stattgefunden haben, nämlich immer dann, wenn ein Interview mit den Beschuldigten die offizielle Linie des FSB, wonach man nichts mit den Vorwürfen zu tun habe und seine Hände in Unschuld wasche, unterstützen könnte. Dies war unter anderem auch nach dem Attentat auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal der Fall, dessen mutmaßliche Attentäter schließlich gegenüber dem russischen Propaganda-Sender Russia Today angaben, auf Sightseeing-Tour in der »wunderschöne(n) Stadt« 729 Salisbury gewesen zu sein. Das Treffen mit Vadim ist für den Vormittag des nächsten Tags geplant. Am Nachmittag möchte ich dann weiter zum Luxus-Hochhaus von Veronika E.
Kontakt mit dem FSB: Mein erstes persönliches Treffen mit Vadim
Mein RTL-Kollege und ich treffen Vadim zu einem späten Frühstück in einem Café in der belebten Fußgängerzone in der Innenstadt. Der Mann, der uns gegenüber an einem kleinen Tisch im Außenbereich des Cafés Platz nimmt, entspricht ziemlich exakt meinen Vorstellungen nach unseren wenigen Telefonaten. Vadim ist Mitte/Ende 30, circa 1,80 Meter groß, hat kräftige Schultern und Arme und einen kleinen Bauchansatz. Vadims Haare sind kurz und dunkelblond, er trägt keinen Bart. Seine Augen sind strahlend hellblau, jedoch weicht er meinem Blick ständig aus. Wenn er mit mir redet, schaut er fast ausschließlich meinen Kollegen an. Vadim trägt eine etwas zu enge Jeans, ein blau gestreiftes Hemd mit Kragen, das ein wenig über dem Bauch spannt, und eine braune Jacke aus glattem Leder. Zum Frühstück bestellt sich der Deutsch-Russe einen Espresso und ein Croissant mit Schinken und Käse. Ich trinke genau wie mein Kollege einen großen, frischen Orangensaft. Ich bin ein wenig überrascht, dass Vadim im persönlichen Gespräch weit weniger selbstbewusst wirkt als am Telefon. Er erzählt uns, alle Versuche seiner »guten Freunde«, Veronika E. vor unsere Kamera zu bringen, seien leider bisher gescheitert. Sie sei zu keinem Interview bereit. Der FSB habe darauf auch eigentlich keinen Einfluss, da die Russin »eher für den GRU oder SWR« arbeite, also für einen der mit dem FSB konkurrierenden Geheimdienste. Man habe sie »ordentlich unter Druck« gesetzt, es gebe auch etwas in Richtung Steuerhinterziehung, was man im Gespräch mit ihr als Druckmittel eingesetzt habe. Zunächst, so erzählt Vadim , seien seine »guten Freunde« und er sehr sicher gewesen, dieses Druckmittel reiche aus, um sie zur »Kooperation« zu bewegen. Doch Veronika E. weigere sich hartnäckig, auch mehrere persönliche Treffen der »guten Freunde« mit ihr hätten daran nichts geändert. Sie sei »tiefenentspannt«, er glaube daher, jemand halte »seine schützende Hand« über sie. Vadim wirkt aufrichtig ratlos. Für eine erfolgreiche Vermittlung des Interviews wären wir bereit, ihm eine Provision zu zahlen. Ein nicht unübliches Prozedere. Und die wollen sowohl er als auch seine »guten Freunde« haben, das ist klar. Vadim berichtet weiter, Karl-Erivan Haub habe in Russland mit Leuten verkehrt, mit denen er eventuell auch aktuell noch verkehre, die »bei Putin im Büro nicht mal anklopfen müssen«. Die Information stimmt sicherlich zumindest teilweise, denn mindestens einer von Haubs ehemaligen Geschäftspartnern, Ilya Brodski, steht wegen seiner Nähe zum Kreml auf mehreren internationalen Sanktionslisten.
Ob Karl-Erivan Haub tot sei oder hier in Russland lebe, könne er mir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht sagen. Fest stehe jedoch, dass alle Aktivitäten seiner »guten Freunde« beim FSB aufgefallen seien und intern zu unangenehmen Nachfragen geführt hätten. Ähnliches hatten mir auch die internen Ermittler über die Recherchen der Privatermittler erzählt: Die Abfrage in den behördlichen Systemen habe damals »hohe Wellen« geschlagen. Doch kann ich Vadim das glauben? Ich kenne mein Gegenüber ja kaum. Seine angeblichen »guten Freunde« sind für mich wie eine Blackbox. Ich habe keine Ahnung, wer sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt, ob es diese Personen gibt oder ob er sich etwas zusammenreimt. Vadim scheint sich jedoch tatsächlich näher mit Veronika E. befasst zu haben: Im Gespräch mit mir nennt er Zusammenhänge, zum Beispiel Adressen und Geschäftskontakte bei Russian Event sowie Informationen zu ihren vielen Reisen, die er nur haben kann, wenn er tatsächlich Informationen über sie eingeholt hat. Über welche Quellen auch immer. Der Deutsch-Russe scheint den gleichen Wissensstand über das soziale Umfeld der Frau zu haben wie Sergej und ich nach unserer monatelangen Recherche.
Doch was ist Vadims Motivation? Warum sitzt er hier bei uns? Will er sich durch seine Dienste ein kleines Zubrot verdienen? Ist er ideologisch motiviert? Soll er bei uns eine Botschaft platzieren? Es ist für mich unglaublich schwer, seinen Antrieb zu verstehen. Es ist für Journalisten üblich, im Ausland mit lokalen Kontakten zusammenzuarbeiten, sogenannten Stringern oder Fixern . Als genau so eine Person wurde mir Vadim von meinem Kollegen vorgestellt. Doch mein Gegenüber scheint keinen klassischen journalistischen Hintergrund zu haben; er scheint in erster Linie gut mit den staatlichen Strukturen in Russland vernetzt zu sein. Seine »guten Freunde« sind aller Wahrscheinlichkeit nach korrupte Beamte des FSB. Doch aus dem Gespräch wird mir im Moment noch nicht klar, wie gut diese Leute wirklich sind: Sind es ranghohe FSB-Mitarbeiter, die wirklich etwas wissen könnten? Oder doch eher kleine Beamte, die für ein paar Euro einen Blick in die staatlichen Systeme werfen? Von meinem russischen Reporterkollegen weiß ich, dass er bisher immer zuverlässig Informationen herangeschafft hat, doch davon sind wir im Moment noch meilenweit entfernt. Bisher haben wir außer einer erfolgreichen Visumsbeschaffung und einer Bestätigung der Wohnanschrift von Veronika E. nichts Konkretes bekommen. Während mein Kollege aufsteht, um am Tresen die Rechnung zu bestellen, frage ich Vadim , wie wir denn nun verbleiben sollen. Er zögert. Ich habe den Eindruck, dass er etwas sagen will, aber nicht so richtig weiß, wie. Er druckst ein wenig herum und nach einigem Hin und Her rückt er schließlich mit der Sprache heraus. Die Abfragen – und zwar ganz konkret die Abfragen zu Veronika E. und die Suche nach Karl-Erivan Haubs russischen Pässen in den Datenbanken des russischen Innenministeriums – hätten in den vergangenen Tagen für »ziemlich Stress« mit anderen Vertretern des FSB geführt. Vadim geht nicht näher darauf ein, welche Art von »Stress« das gewesen sei, und weicht meinem Blick auch permanent aus. Die Sache ist ihm sehr unangenehm. Die Recherche sei einfach »aufgefallen«. Mit der Information solle ich mich zufriedengeben. Er macht eine Pause und schaut angestrengt auf seine leere Espresso-Tasse. Da sei aber noch etwas. Ob ich schon mal etwas vom biometrischen Überwachungssystem in Moskau gehört hätte? Ich bin ein wenig überrascht und weiß nicht so recht, worauf der Deutsch-Russe hinauswill. Zwar ist mir aufgefallen, dass um uns herum überall Überwachungskameras hängen, aber so richtig habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Vadim klärt mich daher kurz auf: In Moskau alleine gebe es circa 170.000 Kameras, 730 die meisten von ihnen seien mit einer biometrischen Gesichtserkennungssoftware ausgestattet. Das biometrische Überwachungssystem sei damit das weltweit größte dieser Art, in ganz Großbritannien gebe es beispielsweise nur circa 70.000 Kameras. Mein Kontakt wirkt jetzt etwas unruhig und rutscht auf seinem Stuhl leicht hin und her. Er habe da etwas gehört, wisse jedoch nicht, ob es relevant für mich sei und vor allem, ob er es überhaupt sagen dürfe. Er scheint mit sich zu ringen, ob er mir nun von seiner Beobachtung erzählen soll oder nicht. Doch dann überwindet er sich offenbar: Im Februar diesen Jahres habe es eine Häufung von Abfragen in diesem System gegeben: Es sei offenbar ganz gezielt nach einem Mann gesucht worden. Ein Mann, der so aussehe wie Karl-Erivan Haub. Mir stockt der Atem. Februar . Genau in diesem Zeitraum fand unser Treffen mit dem Tengelmann-Sicherheitschef und seinem Berater statt. Genau in diesem Zeitraum waren sich die beiden Männer ganz sicher , dass das von ihnen beauftrage israelisch-amerikanische Unternehmen demnächst den finalen Beweis für Karl-Erivan Haubs Aufenthaltsort in Russland liefern würde. Selbstverständlich ist diese Information für mich relevant! Ich springe Vadim fast um den Hals und bombardiere ihn mit Fragen. Wurden bei der Suchabfrage im System Treffer erzielt? Wenn ja, kann ich sie sehen? Wer hat ihm von dem Vorfall erzählt? Kann ich mit den Personen ebenfalls sprechen? Wer waren ihre Auftraggeber? Vadim wehrt meinen Fragensturm sofort ab. Ihm ist nun deutlich unwohl. Er habe diese Informationen zufällig bei einem wodkagetränkten Abend aufgeschnappt – und zwar von Leuten, bei denen er nicht einfach nachfragen könne. Das Hauptthema sei nicht der gesuchte Mann selbst, sondern die gute Bezahlung dieses Jobs gewesen. Man habe sich gefragt, ob sich die Auftraggeber, die »Ausländer«, noch mal melden würden, um weitere Abfragen zu der gesuchten Person im System zu bestellen. Er glaube auch, dass er das Gesagte gar nicht hätte hören dürfen. Die Ursprungsquelle seien nicht seine »guten Freunde«. Es seien »Typen weiter oben in der Hierarchie«. Korruption und Bestechlichkeit seien hier wirklich enorm verbreitet und diese Leute wollen laut Vadim nichts von ihrem lukrativen Kuchen abgeben. Es könne für ihn und seine Kontakte wirklich ungemütlich werden, wenn sie den Typen in die Quere kämen. Enttäuscht lasse ich mich gegen meine Rückenlehne sinken. Wir schauen uns an. Ich verstehe, dass Vadim und seine Quellen sich bei der Beschaffung solcher Informationen auf einen Tanz auf Messers Schneide begeben. Nicht nur brechen sie Gesetze, denn natürlich ist Korruption auch in Russland offiziell eine Straftat: Sie haben es auch intern mit einer Art Konkurrenz zu tun. Während Vadim vor mir ein wenig betreten ins Leere schaut, frage ich mich, was in ihm gerade vorgeht. Er ist mir nicht unsympathisch. Fast wirkt es für mich so, als ob ihm erst in den vergangenen Tagen bewusst geworden ist, nach was für einer großen Geschichte er da gerade seine Fühler ausstreckt. Zu Beginn, so vermute ich, dachte er vor allem an ein paar leicht zu verdienende Euro. Seine wenigen Bemerkungen über Korruption und Bestechlichkeit der »Typen weiter oben in der Hierarchie« wirken auf mich, als widere ihn das Ganze ein wenig an. In seiner Stimme lag bei diesen Bemerkungen eine gewisse Ablehnung gegenüber dem russischen System. Oder bilde ich mir das nur ein? Schließlich wollen auch er und seine »guten Freunde« ein kleines Geschäft mit uns machen. Irgendwie widerspricht sich das aus meiner Sicht.
Mein Kollege hat bezahlt und steuert wieder auf unseren Tisch zu. Vadim bittet mich, das gerade Gesagte vorerst für mich zu behalten. Ich sichere es ihm zu – mit Ausnahme von Sergej. Mein Kollege ist in dieser Recherche mein engster Vertrauter und ich muss mit ihm darüber sprechen. Außerdem ringe ich Vadim das Versprechen ab, sich in den nächsten Tagen nochmals umzuhören, ob er nicht doch noch mehr über die Suchabfragen im biometrischen Überwachungssystem herausfinden kann. Gab es Treffer? Und wer sind die Auftraggeber?
Inzwischen ist es Mittag geworden und wir verabschieden uns von Vadim . Unser russisches Kamerateam hat sich die Zeit in der Fußgängerzone vertrieben und wartet nun vor dem Café auf uns. Als Nächstes wollen wir zu Veronika E.s Luxuswohnhaus fahren und schauen, wie weit wir dort kommen.
Veronika E. verweigert das Gespräch
In einem Kleinbus des Kamerateams fahren wir zu der uns bekannten Adresse von Veronika E. Die Fahrt aus dem Stadtzentrum dauert trotz dichten Verkehrs nur eine knappe halbe Stunde. In einer Metropole wie Moskau keine nennenswerte Distanz, das Wohnhaus hat eine hervorragende Lage. Es wirkt auf mich wie eine Festung. Es besteht aus zwei Wohntürmen, die teilweise auf Stelzen oder Säulen stehen. Ob diese Bauelemente auch tragen oder es sich lediglich um optische Fassadenelemente handelt, kann ich nicht sagen. In jedem Fall wirkt das Hochhaus beeindruckend. Es ist von einer Art Mauer aus Glas und Stein umgeben: Wenn man vor dem Gebäude vorfahren möchte, muss man eine Rampe bis zu einem Schlagbaum hochfahren. Sollte man befugt sein, das Gelände zu betreten, öffnet ein Pförtner die Schranke. Mein Kollege und ich gehen zu Fuß zum Pförtnerhäuschen. Wir machen uns keine Illusionen, ins Gebäude zu gelangen. Aber versuchen wollen wir es trotzdem. Wie nicht anders zu erwarten, werden wir vom Wachmann harsch abgewiesen. Neugierige Personen sieht man hier nicht gerne. Journalisten erst recht nicht.
Ein wenig enttäuscht machen wir uns auf den Weg zurück auf die andere Straßenseite, wo das russische Kamerateam gerade Außenaufnahmen des Hauses dreht. Auch eine Drohne lassen wir starten. Während ich den jungen Kameramännern bei der Arbeit zusehe, beobachte ich gleichzeitig die Einfahrt der Tiefgarage, die unmittelbar neben dem Haus liegt. Es fahren ausschließlich Luxusautos rein und raus: Porsche, Bentley, Range Rover … Die deutschen Marken BMW und Mercedes sind fast schon die »unterste Klasse«, gemessen an dem, was die Bewohner dieses Hauses bevorzugen. Veronika E. passt gut hierher, sie fährt einen Range Rover Evoque. Einmal mehr denke ich an ihren offiziellen Job als kleine Eventmanagerin bei Russian Event . Dass sie immer auf Reisen ist, aber angeblich ihrer Chefin davon nie erzählt. Einen Partner oder eine Partnerin scheint es in ihrem Leben jedenfalls nicht zu geben. Zumindest nicht offiziell. Ich denke an Vadims Worte, man hätte »etwas mit der Steuer« gegen sie in der Hand. Es ist mehr als offensichtlich, dass die Frau nicht mit ihren knappen 10.000 Euro Jahresgehalt in diesem schicken Haus leben kann. Ausgeschlossen. Doch wer finanziert sie? Hat sie ein geheimes Arrangement mit dem verschollenen Milliardär? Wird sie von einem der russischen Nachrichtendienste bezahlt? Oder handelt die junge Frau am Ende im Auftrag der dubiosen Geschäftspartner Suzdaltsev, Grishin und Brodski? Alles scheint möglich.
Ich beschließe, Veronika E. zusammen mit meinem Kollegen einfach anzurufen. Wir wissen, dass sie sowohl Deutsch als auch Englisch spricht, dennoch probieren wir es zunächst auf Russisch. Vielleicht fühlt sie sich in ihrer Muttersprache wohler und ist eher bereit, mit uns zu sprechen? Peter wählt die Nummer und nach kurzer Zeit nimmt die junge Frau tatsächlich ab. Mein Kollege stellt uns vor, erläutert ihr unser Anliegen. Doch noch bevor er zu Ende gesprochen hat, sagt Veronika E. etwas auf Russisch und legt auf. Für einen kurzen Moment kann ich ihre Stimme hören, dann ist der Moment auch schon wieder vorbei. Seit Monaten beschäftige ich mich so intensiv mit ihr, kenne ihre Reiseziele der letzten 20 Jahre, viele davon zu Schwerpunkten der russischen Rüstungsindustrie. Ich weiß, wo Veronika E. wohnt, dass sie aber immer die Anschrift ihrer Eltern angibt, vermutlich um ihre wahre Anschrift zu verschleiern. Ich weiß, wie hoch ihr offizielles Einkommen ist. Wir kennen ihre Passwörter, kennen die seltsamen Fake Accounts und die vielen sehr jungen Frauen, die sie abbilden. Wir wissen über die gemeinsamen Reisen mit Karl-Erivan Haub Bescheid, die langen Telefonate kurz vor seinem Verschwinden. Ich habe mich Tag und Nacht mit ihrem Leben beschäftigt, habe unzählige offene Fragen.
Veronika E. ist mir vertraut und gleichzeitig fremd. Vor allem aber war sie bisher so wenig real . Sie war für mich wie eine Figur aus einem Film. Eine Fantasiegestalt. Doch nun höre ich ihre Stimme und auf einen Schlag wird die junge Russin damit zu einer lebenden Person. Sie ist echt, es gibt sie wirklich. Sofort schnappe ich mir mein Telefon und rufe sie noch mal an. Dieses Mal von einer deutschen Nummer. Eigentlich erwarte ich, dass sie gar nicht abnimmt. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass sie es doch tut. Auch ich stelle mich kurz vor, auch mich unterbricht die junge Russin recht schnell. Höflich, aber sehr bestimmt, erklärt sie mir in perfektem Englisch, sie wolle von uns nicht weiter angerufen werden und woher wir ihre Nummer denn hätten? Sie fühle sich belästigt. »Goodbye.« Dann ist auch dieses Gespräch beendet. Für mich fühlt sich der Moment sehr unwirklich an. Veronika E.s Stimme zu hören ist wie eine Verbindung von zwei konträren Welten: Auf der einen Seite die Welt derjenigen, die das mysteriöse Verschwinden von Karl-Erivan Haub aufklären wollen, und auf der anderen Seite die Welt derjenigen, die das Verschwinden aller Wahrscheinlichkeit nach ermöglicht haben , die den Milliardär dabei unterstützt haben. Und dazu zählt – nach allem was wir an Indizien vorliegen haben – in erster Linie die junge Russin. Veronika E. kennt vermutlich die Antwort auf all unsere Fragen. Doch außer dieser wenigen Sekunden am Telefon kommen wir nicht an sie heran.
Auch nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub ist die Russin mehrfach nach Deutschland, 731 732 733 in die Schweiz, 734 735 736 und in die USA 737 738 739 740 741 742 gereist. Wären die deutschen und amerikanischen Behörden über die Ermittlungsergebnisse der internen Tengelmann-Ermittlungen informiert gewesen, wäre sie wohl bei der Einreise festgenommen worden. Nach diesen Ermittlungsergebnissen könnte die junge Frau eine aktive Agentin eines russischen Geheimdiensts und in das Verschwinden des Milliardärs involviert sein. Warum ist sie nie vernommen worden? Abgesehen von der Erkenntnis, dass diese Frau eine geheime Geldquelle haben muss, hat unser Besuch bei Veronika E.s Adresse wenig Erhellendes gebracht. Auf der Rückfahrt zum Hotel denke ich darüber nach.
Für den Folgetag planen wir, einige typische Bilder von Moskau einzufangen: den Roten Platz, die »Sieben Schwestern«, berühmte Hochhäuser aus der Stalin-Zeit. Während ich in meinem Hotelzimmer sitze und die Wahrzeichen der Stadt studiere, erhalte ich eine Nachricht von Vadim . Er will mich unbedingt noch vor unserer Abreise persönlich treffen. Es gebe etwas »zu besprechen«. Zwischen den Zeilen lese ich so etwas wie Vorfreude. Oder bilde ich es mir nur ein?
Zweites Treffen mit Vadim
Für das zweite Treffen hat Vadim den Hinterhof eines georgischen Restaurants 743 gewählt. Der Hof dient als Parkplatz für die umliegenden Gebäude und ist schlecht einzusehen. Das Restaurant hat rückseitig einen kleinen, überdachten Außenbereich. Das Sitzareal trennt eine bordsteinhohe Terrasse mit blauen und weißen Fliesen optisch vom Parkplatz. Eng an eng stehen hier Gartenmöbel aus wetterfestem, rattanähnlichem Material und mit nässebeständigen Sitzpolstern. Eine rot-orange-grün-weiße Markise überdacht den Außenbereich. Das Restaurant liegt direkt gegenüber vom Ljubjianka -Gebäude, also direkt gegenüber der Zentrale des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB. Ich halte den Ort des Treffpunkts für keinen Zufall. Hat er eine symbolische Bedeutung oder wurde er aus praktischen Gründen gewählt?
Vadim und ich treffen zeitgleich ein. Mit Ausnahme seines Hemds trägt er heute das gleiche Outfit wie zwei Tage zuvor. Wir nehmen an einem der Tische draußen Platz. Es ist kurz nach 11 Uhr und wir sind zu dieser Uhrzeit die einzigen Gäste. Ich werfe einen Blick in die Karte. Nach dem, was ich hier lesen kann, ist die georgische Küche eher deftig, es gibt Teigtaschen mit Hackfleischfüllung, ein gebackenes Brot-Schiff, dessen Käsefüllung einen Klumpen Butter enthält, oder verschiedene Sorten von Fleischspießen. Für so ein schweres Mittagessen ist es jetzt definitiv noch zu früh und Vadim hat ebenfalls noch keinen Hunger. Mein deutsch-russischer Kontakt kommt gleich zur Sache: Er habe gerade einen Termin mit seinen »guten Freunden« und weiteren Personen gehabt. Offenbar war er also wirklich am Vormittag bei ihnen in der FSB-Zentrale, nur wenige Meter von unserem jetzigen Treffpunkt entfernt. Im Vergleich zu unserem ersten Treffen wirkt er wie ausgewechselt. Irgendwie fokussierter und selbstbewusster. Ein wenig elektrisiert. Er schaut auch nicht die ganze Zeit weg, sondern mir direkt in die Augen. Vadim hat offenbar einen Plan – oder so etwas Ähnliches.
In den vergangenen zwei Tagen sei Folgendes passiert: Seine »guten Freunde« seien »ziemlich wild darauf«, in die Suche nach Karl-Erivan Haub »voll einzusteigen«. Wie ich vermutet habe, haben seine Hintermänner (und vermutlich auch er) erst jetzt realisiert, welchen Stellenwert der verschwundene Milliardär hat und dass man mit Informationen zu seinem aktuellen Aufenthaltsort richtig Geld verdienen kann. Vadim berichtet, er habe sich mit seinen Leuten nach unserem Gespräch vor zwei Tagen getroffen und sie hätten darüber beratschlagt, ob und wie man die »interne Konkurrenz« in das Ganze miteinbinden könne. Wie er neulich selbst mitbekommen habe, stünden diese Männer aktuell vor dem »Problem«, dass ihr ursprünglicher Auftraggeber kein Interesse an weiteren Suchabfragen habe. Vielleicht, so sehen es Vadims Kontakte, sei das ja eine Win-win- Situation, denn Vadim und seine »guten Freunde« verfügen ja nun möglicherweise über weitere Interessenten: uns Journalisten – und vielleicht sogar weitere Teile der Familie Haub. Offenbar haben sich die Russen in den vergangenen 48 Stunden eingehend in die bisherige Berichterstattung eingelesen und sich über den milliardenschweren Erbschaftsstreit informiert. Doch ebenso offensichtlich ist auch, dass sie bei den vielen verschiedenen Interessen innerhalb der Familie im Moment noch nicht so richtig den Durchblick haben. Auch haben sie vollkommen falsche Vorstellungen davon, wie Journalisten in Deutschland arbeiten. Der Deutsch-Russe denkt kurz nach und beginnt dann zu erzählen.
Gestern, so berichtet er, habe es ein Treffen zwischen seinen Kontakten und ihrer »internen Konkurrenz« gegeben, den »Typen weiter oben in der Hierarchie«. Seine »guten Freunde« hätten den anderen erklärt, sie hätten eventuell weitere Interessenten für Suchabfragen im biometrischen Überwachungssystem des Innenministeriums; seine Leute seien bereit, den Kontakt zu diesen Interessenten herzustellen, wenn die andere Seite zunächst eine Art »Referenz« erbringen würde. Diese Referenz solle von Vadim , dem offiziellen »Verbindungsmann« zu den potenziellen Interessenten (also uns), eingesehen werden, damit er uns dann aus erster Hand davon berichten könne. Sollte es in Folge zu einem Deal kommen, so würde die Bezahlung durch alle Beteiligten geteilt. Die Russen hätten das Angebot angenommen – und heute Morgen sei es bereits zu einem Treffen zwischen ihnen, Vadim, und dessen »guten Freunden« gekommen. Gebannt schaue ich ihn an. Ich bin voller Erwartung und natürlich merkt mein Gegenüber das. Dankenswerterweise ist Vadim nicht der Typ Mensch, der Spannung künstlich aufrechterhalten will, um die Dramatik zu erhöhen. Ohne groß um den heißen Brei herumzureden, sagt er, wie die Dinge liegen.
»Schau«, setzt er an. »Es gab im Februar mehrere Treffer.« Er blickt mir fest in die Augen. »Die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung liegt bei deutlich über 90 Prozent.« Die Fotos, die er angeblich auf dem Laptop der FSB-Kontakte zu sehen bekommen hat, zeigten eine Person, die »aussieht wie der gesuchte Mann«. Die Fotos zeigten die Person sowohl von vorne als auch von der Seite. Der Gesuchte trage eine dicke, blaue Winterjacke mit weißem Pelzkragen sowie eine blaue Mütze und sei »wirklich gut zu erkennen«. Gebannt starre ich Vadim an, während er fortfährt. Die Aufnahmen stammten laut Aussage seiner Gesprächspartner von verschiedenen Überwachungskameras aus einer eher einfachen Gegend im südlichen Distrikt der russischen Hauptstadt. Aber nicht nur das: Die Geheimdienstler hätten »Kontakt mit jemandem«, einer Art Privatermittler, der von den »Ausländern« mit der ganzen Suche beauftragt worden sei – und dieser sei unmittelbar nach den Treffern im biometrischen System in die Straße gefahren, wo die Kameras den vermeintlichen Karl-Erivan Haub aufgezeichnet hätten. Dort habe der Privatermittler Kontakt zu Anwohnern aufgenommen und ihnen »Referenzdaten« gezeigt. Bei diesen »Referenzdaten« handle es sich um Fotos von Karl-Erivan Haub, die die »Ausländer« den FSB-Typen zur Verfügung gestellt hätten. Vadim erklärt mir, es seien Front- und Profilbilder des ehemaligen Tengelmann-Chefs gewesen und auch er habe sie einsehen können: Er habe diese Fotos direkt neben den Treffer bei der Suchabfrage legen können. Vadim erklärt mir, die Ähnlichkeit sei »erschlagend«. Und auch einige Anwohner hätten den verschollenen Milliardär »zweifelsfrei« erkannt. Der Vor-Ort-Ermittler habe diese Gespräche mit den Hausbewohnern »heimlich gefilmt«, um sie seinen Auftraggebern, den »Ausländern«, als zusätzliche Quelle zu überlassen. An dieser Stelle muss ich Vadim kurz unterbrechen: Wer sind denn diese »Ausländer«? Kann er da vielleicht etwas konkreter werden? Er antwortet in drei Worten: »Juden aus Amerika.«
Juden aus Amerika? Ist das eine durchaus plumpe Umschreibung für das »israelisch-amerikanische Unternehmen«, von dem mir sowohl die internen Ermittler als auch Christian Haubs enger Vertrauter während verschiedener Treffen erzählt hatten? Das Unternehmen, von dem ich ausgehe, dass es aus dem israelischen Geheimdienst Mossad und den amerikanischen Sicherheitsdiensten FBI und CIA hervorgegangen ist? Dessen Namen ich aber bisher nicht herausfinden konnte? Es könnte tatsächlich sein. Ungünstig sei aus Sicht der FSB-Männer jedoch gewesen, dass die gefundenen Treffer im biometrischen Überwachungssystem sowie die Vor-Ort-Recherche des Privatermittlers »so gut« gewesen seien, dass den »Ausländern« diese Informationen gereicht hätten. Vadim zuckt mit den Schultern. Ich lehne mich zurück und schaue ihn an. »Kann ich mir die Fotos anschauen?« Er schüttelt den Kopf. »Nein«, die FSB-Leute würden »nichts mit Journalisten zu tun haben« wollen. Ich sei auch nicht ihre primäre Zielperson: Vielmehr wollen sie über meine Kollegen und mich an die Ehefrau von Karl-Erivan Haub herankommen. Aus ihrer Sicht habe Katrin Haub doch das »größte Interesse« zu wissen, was ihr Mann so in Russland treibe. Vor allem aber, so denke ich im Stillen, hat Katrin Haub unendlich viel Geld und dürfte alleine deswegen der vielversprechendere Kontakt sein. Um ganz sicher zu sein, dass ich alles richtig verstanden habe, fasse ich das Gesagte noch einmal zusammen: »Juden aus Amerika« (vielleicht das israelisch-amerikanische Unternehmen) haben sich Anfang des Jahres bei ihren Geheimdienstkontakten in Russland gemeldet (aller Wahrscheinlichkeit nach korrupte Mitarbeiter des FSB) und eine Abfrage im biometrischen Überwachungssystem in Moskau (und St. Petersburg?) in Auftrag gegeben. Als Referenzdaten wurden angeblich mehrere Fotos von Karl-Erivan Haub hinterlegt. Wer die echten Auftraggeber hinter den »Juden aus Amerika« seien, weiß von den Russen angeblich niemand. Natürlich könnten es die internen Tengelmann-Ermittler sein, aber das sind reine Spekulationen. Im Februar 2021 sei es dann im System zu einer vermehrten Abfrage nach einer Person gekommen, »die so aussieht wie der gesuchte Mann«. Prompt sei es zu »mehreren Treffern« gekommen. Nachdem die Kameras identifiziert wurden, von welchen die vermeintlichen Aufzeichnungen gemacht worden seien, sei ein »Privatermittler der Ausländer« in die Straße gefahren und habe die Nachbarschaft befragt. Mit den Referenzbildern. Anwohner hätten Karl-Erivan Haub anhand der Fotos »zweifelsfrei« identifiziert. Er sei aber schon länger nicht mehr dort gesichtet worden. Von diesem doppelten Treffer seien die »Juden aus Amerika« so »zufrieden« gewesen, dass es (leider) keine weiteren lukrativen Aufträge von ihnen gegeben habe. Habe ich das alles richtig verstanden? »Ja.« Vadim nickt bedächtig. Ich betrachte ihn und sage erst mal nichts. Meine Gedanken brauchen eine kurze Auszeit. Wenn alles stimmt, was ich gerade gehört habe, dann wäre das der Beweis für einen der spektakulärsten Wirtschaftsskandale der deutschen Geschichte: Ein deutscher Milliardär wäre vermutlich mithilfe eines russischen Geheimdiensts aus Zermatt verschwunden (im Geheimdienstjargon hieße es dann, die »Exfiltration« sei »erfolgreich« gewesen). Und schlimmer noch: Nach allem, was ich inzwischen an Indizien vorliegen habe, wissen auch Teile der Familie Haub davon und verheimlichen es im Kampf um das Milliardenerbe.
Gedanklich gehe ich einige Wochen zurück zum ersten Treffen mit den beiden internen Ermittlern am 16. Februar in Ratingen. Sollte das wirklich alles so abgelaufen sein, vermute ich, dass die beiden bereits zum Zeitpunkt des Termins mit meinen Kollegen und mir über die Treffer im biometrischen Überwachungssystem von Moskau informiert waren und in den Folgewochen die vorliegenden Informationen und Bilder weiter erhärten wollten, zum Beispiel durch unabhängige Überprüfungen der Suchergebnisse, zusätzliche Quellen, forensische Vergleichsanalysen, Bewegungsprofile etc.: Die Aussage des Tengelmann-Sicherheitschefs, man warte auf den finalen Beweis , rückt unter diesen Gesichtspunkten sogar in ein völlig neues Licht: Es muss bereits zu diesem Zeitpunkt einen nicht-finalen, vorläufigen Beweis gegeben haben, auf dessen rechtssichere Bestätigung die beiden Männer nur noch warteten.
»Teilen Sie alle Ergebnisse«, hatte die zum Zeitpunkt dieses Treffens ausgegebene Parole von Christian Haubs engem Vertrauten gelautet. Und genau das hatte das Duo damals getan: Mehrfach hatten sie erwähnt, dass der finale Beweis kurz bevorstehe. Kannten sie die Fotos zu diesem Zeitpunkt schon? Laut Vadim liegt die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung bei »über 90 Prozent«. Doch »über 90 Prozent« sind eben nicht 100 Prozent. So wie ich die beiden internen Ermittler einschätze, hätten sie weitere Maßnahmen zur Verifizierung eingeleitet. Dieser Schritt wäre aus meiner Sicht schon alleine deswegen nötig gewesen, um Christian Haub gegenüber die »erfolgsabhängige Vergütung« geltend machen zu können, von der Christian Haubs Vertrauter mehrfach gesprochen hatte. Wenn es um die Bezahlung ginge, wären dem aktuellen Tengelmann-Chef »über 90 Prozent« als Wert sicher zu wenig – und sein enger Vertrauter hatte mir während eines Gesprächs zudem erklärt, dass auch unabhängige Gutachter in der Lage sein müssten, die vorgetragenen Belege zu bestätigen. Und um auf Nummer sicher zu gehen, würde ich nicht nur ein Gutachten anfertigen, sondern besser mehrere . Wer weiß, welche Ausflüchte zur Nicht-Bezahlung sonst gefunden werden könnten … Auf einem Zeitstrahl betrachtet, könnten diese möglichen biometrischen Gutachten zwischen Ende Februar und Mitte März 2021 beauftragt worden sein: genau in dem Zeitraum also, in dem Katrin Haub und ihre Kinder plötzlich der Todeserklärung zustimmten und Christian Haub damit ein wichtiger Etappensieg im Erbschaftsstreit gelang.
Kurze Zeit später, am 24. März, kam es dann während unseres letzten gemeinsamen Treffens zu der unbedachten Äußerung des Tengelmann-Sicherheitschefs bezüglich der IP-Adressen der russischen Abrufe des n-tv-Artikels. Meine innere Gewissheit von damals, dass die internen Ermittler mir nicht die Wahrheit sagten, ist mir in diesem Moment im georgischen Restaurant in Moskau wieder sehr präsent. Das Gefühl war eindeutig , ich hatte nicht den Hauch eines Zweifels , aber damals leider noch nicht genug Fakten zusammen. Wenn also alle meine Schlussfolgerungen stimmen, dann lagen zum Zeitpunkt unseres Termins in Hamburg Bilder und vermutlich auch weitere unabhängige Bestätigungen vor, welche vermutlich für einen ursprünglich von Christian Haubs Rechtsanwälten angestrebten Gesellschafterausschluss von Karl-Erivan Haub und seinem Familienstamm ausgereicht hätte. Doch dieser war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr notwendig, da Katrin Haub und die Kinder der Todeserklärung inzwischen zugestimmt hatten. Zum anderen wären aussagekräftige Bilder und biometrische Gutachten auch die Voraussetzung für die erfolgsabhängige Bezahlung der Ermittler, die somit auch keinen Grund für weitere Suchabfragen im biometrischen Überwachungssystem gehabt hätten: Wenn ich richtig schlussfolgere, lag zu diesem Zeitpunkt also alles vor. Damit wäre dann auch die, nennen wir es »Frustration« von Vadims neuen FSB-Kontakten zu erklären, die auf weitere lukrative Aufträge hofften, die dann aber nicht kamen.
Und selbstverständlich rückt nun auch die höchst emotionale Reaktion von Christian Haubs Seite im Zuge des Aufgebotsverfahrens und den vorgetragenen Zweifeln in ein neues Licht. Man gab sich wirklich die größte Mühe, zu verhindern, dass das Gericht weitere Nachforschungen anstellt. Wenn es stimmt, was Vadim mir gerade erzählt hat, dann beruht die Todeserklärung von Karl-Erivan Haub im Grunde auf einer in mehreren Punkten falschen eidesstattlichen Versicherung.
Ich muss das Gesagte erst einmal sacken lassen. Es wäre ein ungeheuerlicher Betrug . Auf so vielen Ebenen. Nach meiner Rückkehr in Deutschland werde ich als Erstes mit Sergej darüber sprechen. Bis dahin muss ich mich aber gedulden, denn über mein Handy, das möglicherweise abgehört wird, möchte ich solche Informationen nicht teilen. Außerdem – und auch das ist ein wichtiger Teil meiner Wahrnehmung – plagen mich ernste Zweifel, ob überhaupt stimmt, was Vadim mir erzählt. Ob es stimmen kann ! Er erzählt mir viel von seinen angeblichen FSB-Kontakten, seinen »guten Freunden« und nun auch noch den »Typen einige Hierarchien weiter oben«. Es ist für mich alles schwammig, ich kenne keinen dieser angeblichen Hintermänner. Dieser Aspekt gefällt mir überhaupt nicht. Gleichzeitig habe ich das, was er mir sehr detailliert beschrieben hat, in den vergangenen Wochen stark vermutet: Vor meinem inneren Auge fügt es sich in das Bild, das sich aus vielen einzelnen Rechercheschritten wie Puzzlesteine zusammensetzt. Und von den ganzen zeitlichen Abläufen, die jetzt plötzlich einen Sinn ergeben und wie ein gut geöltes Triebwerk ineinandergreifen, kann Vadim einfach nichts wissen . Das wissen nur Sergej und ich.
Ich muss über all das in Ruhe nachdenken und unser Rückflug nach Deutschland steht unmittelbar bevor. Zum jetzigen Zeitpunkt, so erzählt Vadim , sei es ausgeschlossen, uns die Februar-Fotos zu überlassen. Die korrupten Geheimdienstler würden damit unwiederbringlich den Kontakt zu den jetzigen Auftraggebern verbrennen, und das wollen sie nicht riskieren. Schließlich sei dann sofort klar, dass sie doppelt Kasse gemacht hätten. Vadim schaut mich an. Seine neuen Kontakte würden in den nächsten Wochen »die Augen offenhalten«: Falls sich »etwas ergebe«, werde er sich bei mir melden. »Versprochen.« Vermutlich meint er damit, dass seine »neuen Freunde« bei passender Gelegenheit die Referenzbilder von Karl-Erivan Haub durch das biometrische Überwachungssystem jagen werden.
Während ich mich mit dem Taxi auf den Weg zurück zu unserem Hotel am Platz der drei Bahnhöfe mache, wo mein Kollege schon auf mich wartet, breitet sich in mir ein tiefes Gefühl der inneren Leere aus: Ich hätte erwartet, aufgrund der Informationen der letzten Stunden vollkommen aus dem Häuschen zu sein, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich fühle mich sehr erschöpft. Wenn das Gesagte stimmt, dann werden Christian Haub und seine Anwälte alles Menschenmögliche unternehmen, um weitere Recherchen zu erschweren oder zumindest die Veröffentlichung zu verhindern. Sie werden alle Geschütze auffahren, dessen bin ich mir sicher. Und gleichzeitig frage ich mich, ob ich nicht vielleicht doch auf einem Holzweg bin? Ob ich mir heute einen Bären habe aufbinden lassen?
Doch zeitgleich kommen mir unsere ganzen eigenen Rechercheergebnisse zu Karl-Erivan Haubs dubiosen Reisen, seinen kriminellen Geschäftskontakten, der vermeintlichen Geliebten, die auch eine Spionin sein könnte, und nicht zuletzt das »dubiose Pärchen« aus dem Hotel The Omnia in den Sinn. In meinen Gedanken herrscht ein ziemliches Chaos. Ich weiß nicht, was ich selbst noch glauben soll. Wie man es auch dreht und wendet: Die Widersprüche rund um das Verschwinden in Zermatt und Karl-Erivan Haubs Verbindungen nach Russland sind real, man kann sie nicht leugnen.