Kapitel 9

Kurz vor der Veröffentlichung dieses Buchs

A ufgewühlt verlasse ich München und mache mich auf den Weg zurück nach Berlin. Es muss einen Weg geben, diese Bilder zu veröffentlichen. Mit Vadim verbleibe ich so, dass ich die Situation mit meiner Redaktion bespreche und wir unsere Optionen auswerten. Wir brauchen einen Plan, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass Vadims Kontakte uns die Fotos nicht einfach so überlassen. In meinem Kopf schießen die Gedanken wild durcheinander. Ich bin auf der Suche nach Rechercheansätzen, die wir bisher nicht berücksichtigt haben. Am wichtigsten erscheint es mir, Klarheit über das israelisch-amerikanische Ermittlungsunternehmen zu erlangen, das Tengelmann in der letzten Phase der Ermittlungen in Russland unterstützt hat. Rund um diese Firma wird es einen Kreis an informierten Personen geben, die mir theoretisch als Quelle dienen könnten. Ich werde also in den kommenden Wochen alle meine Kontakte in die Politik und in die Sicherheitsbehörden nutzen, um diese Spur weiterzuverfolgen.

Außerdem muss es zu einer Bezahlung der internen Ermittler gekommen sein. Christian Haubs Vertrauter nannte mir während des Besuchs in Sankt Moritz eine erfolgsabhängige Vergütung in Millionenhöhe. Wenn das Geld geflossen ist, dann gibt es auch Menschen, die das neben Christian Haub und den internen Ermittlern bestätigen können: Bankangestellte, Buchhalter, Steuerberater, Rechtsanwälte, Mitarbeiter in den Kanzleien und nicht zuletzt das Finanzamt. Lief die Zahlung über ein Tengelmann-Firmenkonto oder über Haubs Privatkonto? Es muss irgendwo vermerkt worden sein – und zwar sowohl aufseiten von Christian Haub als auch aufseiten der internen Ermittler. Können wir beispielsweise Zahlungseingänge checken? Welche Möglichkeiten gibt es sonst?

Wochenlang grüble ich, suche nach Lösungen, spreche mit meinen Kontakten und erwäge die abwegigsten Rechercheansätze. Eines Nachts – ich bin gerade beruflich in Stuttgart – schrecke ich in meinem Hotelzimmer aus einem Alptraum auf. Die Tür des Nachbarzimmers ist laut ins Schloss gefallen und ich habe geträumt, dass die Schergen von Suzdaltsev, Grishin und Co. in mein Zimmer einbrechen würden, um mich zu holen. Ich zähle nun vermutlich zu einem sehr, sehr kleinen Kreis an Menschen, die über die Existenz der Bilder Bescheid wissen. Im Laufe der internen Ermittlungen ist es bereits zu zwei plötzlichen Todesfällen gekommen – langsam bekomme auch ich Angst.

Bislang habe ich niemandem von dem letzten Treffen mit Vadim erzählt; ich habe die Bilder ja lediglich gesehen und halte sie nicht physisch in meinen Händen. Solange ich nicht noch mehr Beweise habe, hege ich die Sorge, von meinen Kollegen nicht ernst genommen zu werden. »Du hast dich verrannt« – dieser Satz hängt mir nach. Doch nun sitze ich zitternd im Hotelzimmer, die alltäglichen Geräusche eines Reisenden, der mit seinem Koffer zur frühen Morgenstunde in Richtung Bahnhof aufbricht, haben mich in Todesangst versetzt: Ich dachte, jemand bricht meine Zimmertür auf. In diesem Moment beschließe ich, das Geheimnis um die Bilder nicht länger allein mit mir herumzutragen. Das Wissen um den vermeintlich letzten bekannten Aufenthaltsort von Karl-Erivan Haub birgt eine große Gefahr – und derer ist sich mein Unterbewusstsein mehr als deutlich bewusst.

Ich muss diese Geschichte veröffentlichen, notfalls ohne die Fotos.

Ich werde beschreiben , was meine Quellen mir berichtet haben und was ich mit eigenen Augen gesehen habe. In diesem Falle werde ich es riskieren, vom Unternehmen und der Familie verklagt zu werden. Könnte ich dieses Wagnis eingehen? Behörden und Öffentlichkeit würden von einem aus meiner Sicht zweifelhaften Milliarden-Deal erfahren, von starken Indizien nachrichtendienstlicher Verbindungen eines der reichsten und einflussreichsten Firmenlenkers des Landes, Karl-Erivan Haub, von Kontakten zu russischen Geldwäsche-Netzwerken – und das mitten in einem Krieg, der gerade in Europa tobt. Eine Veröffentlichung würde mit Sicherheit in den betreffenden Kreisen hohe Wellen schlagen: Dort könnte man sie nicht ignorieren – und würde aller Voraussicht nach auch versuchen, zu verhindern, dass ich mit meinem Wissen an die Öffentlichkeit gehe.

Ohne Frage sind die von mir gegen Christian Haub gerichteten Vorwürfe gewaltig. Für den Fall, dass ich all die vorliegenden Fakten und Indizienketten falsch deute, hätte er das gute Recht nicht nur meinen Sender und den Verlag, sondern auch mich persönlich wegen Verleumdung und übler Nachrede anzeigen. Doch ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich mir in den vergangenen eineinhalb Jahren an Hintergrundwissen erarbeitet habe: Die aufwendigen Recherchen rund um Karl-Erivan Haubs Geschäftspartner halten auch einer Überprüfung durch Dritte stand. Außerdem gibt es in dem gesamten Skandal inzwischen etliche Mitwisser, Informanten und Hinweisgeber. Wenn ich mein ganzes Wissen zu Papier bringe und im Fernsehen darüber spreche, würden sich ziemlich schnell die Anwälte der Familie bei mir melden. Käme es auch zu einem Prozess? Gegenüber einem Gericht würde ich meine Quellen offenlegen. Und ich würde den Tengelmann-Sicherheitschef als Leiter der internen Ermittlungen sowie seinen Berater, den Krisenmanager, beim Namen nennen. Wie würde eine Staatsanwaltschaft reagieren? Außerdem wäre vermutlich das öffentliche Interesse sehr groß – so groß, dass medienübergreifend über einen Prozess gegen mich, eine Investigativjournalistin, berichtet werden würde. Andere Kollegen würden Fragen stellen, was dazu führen könnte, dass sich auch der Druck auf die deutschen Ermittlungsbehörden erhöht. Es würde vermutlich genau das passieren, was das Amtsgericht Köln versäumt hat zu tun: Christian Haub und alle intern mit der Sache betrauten Personen müssten sich endlich von verschiedenen Seiten höchst unangenehme Fragen stellen lassen. Für die Ermittlungsbehörden wäre es hingegen deutlich einfacher, relevante Informationen einzuholen: Zum einen präsentieren meine Kollegen und ich ihnen eine jahrelange Recherche quasi auf dem Silbertablett, zum anderen könnten sie Christian Haub und die internen Ermittler unter Eid vernehmen. Was würde der Tengelmann-Chef sagen? Wie würden die beiden Männer reagieren? Würden sie die Wahrheit sagen? Wissen kann ich es nicht. Es wäre zu riskant, mich auf die beiden zu verlassen. Eine Veröffentlichung muss daher zu 100 Prozent wasserfest sein, die Recherchen über jeden Zweifel erhaben.

Das Treffen mit Vadim und meinem Anwalt

Im Fall einer Veröffentlichung ist es also nicht unwahrscheinlich, dass ich mit einer Klage rechnen muss. Das persönliche Risiko erscheint mir inzwischen sehr, sehr groß. Sowohl physisch als auch auf einer beruflichen Ebene. Bevor ich mit dem Wissen um die Bilder zu meinen Kollegen gehe, möchte ich eine rechtliche Einschätzung über die Situation haben, nämlich ob ich als Privatperson mit der vorliegenden Beweislage einen Rechtsstreit überstehen kann. Zuerst spreche ich daher mit meinem Anwalt.

Mehrere Tage verbringe ich damit, den Juristen in die Details der Recherche einzuarbeiten, ihm unsere Quellen vorzulegen, die Rechercheschritte und Zusammenhänge zu erklären. Ich erzähle ihm ausführlich von den Treffen mit Vadim . Außerdem berichte ich ihm im Detail von den Fotos aus dem biometrischen Überwachungssystem in Moskau, die ich wenige Tage zuvor im Münchner Wirtshaus gesehen habe.

Der Anwalt ist von der Qualität unserer journalistischen Recherche überzeugt, sie ist aus seiner Sicht nicht angreifbar und auch für Dritte jederzeit ohne viel Aufwand zu überprüfen. Zögerlich ist er jedoch, was die Aussagen rund um die Fotos betrifft. Er kennt Vadim nicht und kann ihn nicht einschätzen. Wie vertrauenswürdig ist er? Ist er gar ein Betrüger? Die Einwände des Anwalts sind berechtigt. Wenn ich hundertprozentige Sicherheit zu den Fotos haben möchte, dann muss mein Anwalt sie einsehen, um die Situation vollständig einschätzen zu können.

Mehrfach bespreche ich die Situation mit Vadim . Er befürchtet, aufgrund seiner Nähe zu den russischen Diensten könne er selbst auf dem Radar der deutschen Nachrichtendienste landen. Außerdem bringt es seinen Kontaktleuten in Russland unter finanziellen Gesichtspunkten nichts, wenn die Existenz der Fotos ohne Gegenleistung veröffentlicht wird. Verärgerte russische Kontakte hätten zudem vermutlich Auswirkungen auf Vadims Sicherheit. Ich verspreche ihm daher, den finanziellen Aspekt zu berücksichtigen und ein letztes Mal zu versuchen, mit Katrin Haub in Kontakt zu kommen. Sollte sie einem Treffen mit mir zustimmen, so würde ich sie über die Fotos informieren und den Kontakt zu Vadim und seinen russischen Kontakten herstellen. Mehrere Tage lang überlege ich, wie ich meine Nachricht an sie formulieren soll. Mitte November informiere ich Katrin Haub schließlich darüber, dass ihr meines Wissens nach »innerhalb der Familie Informationen vorenthalten« werden und dass dies möglichweise zu ihrem »finanziellen Schaden« geschehen sein könnte. 774 Ihre Nummer entnehme ich aus der uns von Tengelmann überlassenen Telefonliste. Zwar erscheinen bei WhatsApp zwei blaue Häkchen, ich gehe daher davon aus, dass sie meine Nachricht gelesen hat, jedoch erhalte ich keine Antwort.

Vadim ist darüber nicht sonderlich überrascht, mit den Fotos werden er und seine Hintermänner wohl kein Geld mehr verdienen können. Doch ohne mir seine Beweggründe näher zu erläutern, ist er dann trotzdem bereit, sich zu einem vertraulichen Gespräch mit meinem Anwalt und mir zu treffen. Während eines mehrstündigen Termins zeigt der Deutsch-Russe meinem Rechtsbeistand die Bilder und gibt Auskunft darüber, wann und wo und wie sie mithilfe welcher Personen aus dem Umfeld des FSB gewonnen wurden. Vadim hat viel Detailwissen rund um das biometrische Überwachungssystem. Er erzählt uns, dass die Software mithilfe von mehr als 500 Messpunkten im Gesicht den Abstand zwischen Augen, Nasen und Mund sowie die Lippenform vermesse und mit einem Referenzbild vergleiche. Ein weiterer Algorithmus werde zusätzlich zum Biometrie-Algorithmus eingesetzt, um aus den Millionen Pixeln eines Bilds eine Art Identifizierungswert zu errechnen, denn jeder Pixel könne mehr als 250 Farbwerte haben. 775 Die Kombination aus diesen Farbwerten könne einen Wahrscheinlichkeitswert ergeben, woraus sich Rückschlüsse auf das gesamte Bild ergeben könnten. Der Algorithmus werde daher häufig eingesetzt, um fehlende Bildmerkmale zu rekonstruieren, beispielsweise eine Stirn, die von einer Mütze verdeckt sei. So wie bei den Fotos des vermeintlichen Karl-Erivan Haub. Die damit erreichten Rechenleistungen würden zu Ergebnissen führen, die so individuell zugeordnet werden könnten wie ein Fingerabdruck. Inzwischen, so erfahren es mein Anwalt und ich, seien die Software-Programme so weit fortgeschritten, dass man mithilfe der Videoaufnahmen neben Alter und Geschlecht sogar Rückschlüsse zur Gefühlslage eines Menschen treffen könne. Die Erläuterung der Funktionsweise der Software ist hoch komplex, doch am Ende ist Vadims Botschaft klar: Die Übereinstimmung zwischen den Treffern aus dem biometrischen Überwachungssystem und den Referenzbildern liegt bei weit über 90 Prozent. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass die Fotos von Februar 2021 den verschollenen Milliardär Karl-Erivan Haub zeigen.

Warum sich Vadim letztendlich doch dazu bereiterklärt hat, ohne finanzielle Gegenleistung sein Wissen mit meinem Anwalt und mir zu teilen, kann ich bis heute nicht beantworten. Die Tatsache, dass es neben mir nun eine weitere, unabhängige Person gibt, die Einblick in die vorliegenden Resultate nehmen konnte, ist enorm wichtig: Bei einem möglichen Prozess kann mein Anwalt als zusätzlicher Zeuge die Existenz der Bilder bestätigen. Vadims Intention werde ich vermutlich nie erfahren, vielleicht will er aus der Rolle des Mittelsmanns ausbrechen, einen Bruch zwischen sich und seine russischen Kontakte bringen, wer weiß. Unser gemeinsames Treffen endet gegen 17:30 Uhr, und während Vadim in die bitterkalte, schwarze Novembernacht verschwindet, bleibe ich in der Kanzlei meines Anwalts. Wir beraten, wie ich diese Geschichte veröffentlichen kann, ohne dabei durch Klagen der Familie Haub in jeglicher Hinsicht zugrunde zu gehen.

Der Plan: Unbeschadet veröffentlichen

Nach dem Treffen zwischen meinem Anwalt, Vadim und mir ist für mich klar, dass ich diese unglaubliche Geschichte von Lug und Betrug, von Gier und Geheimdiensten, den perfiden Machenschaften der Milliardäre und ihrer Handlanger sowie das unsägliche Versagen der deutschen Behörden, allen voran des Kölner Amtsgerichts, publizieren werde. Schon lange hatte ich die Idee, den ganzen Umfang der Recherche in einem Buch zu veröffentlichen, weil eine Fernsehsendung, ein Print-Artikel im STERN oder online bei n-tv.de nicht ausreichend Platz für all die Hintergründe und Verstrickungen bieten würden. Nun scheint der richtige Moment gekommen – vor allem auch, weil ich mein Wissen nicht mehr alleine bei mir behalten will.

Tatsächlich liegt ein auf 300 Seiten ausgearbeiteter Überblick über die Recherche seit Monaten bei mir zu Hause. Ich hatte das Werk in der dunkelsten Phase der Enttäuschung im Sommer 2021 als eine Art Therapie für mich selbst begonnen. Den Frust von der Seele schreiben. Nun fehlen noch die Geschehnisse der letzten Wochen, ich werde die Treffen mit Vadim und das, was er mir erzählt und gezeigt hat, auf einigen Seiten zusammenfassen. Dann könnte das Buch fertig sein.

Einen n-tv-Kollegen, der nebenher als Literaturagent arbeitet, bitte ich, mir einen Kontakt zu einem Verlag herzustellen. Ich möchte diese Geschichte mit jemandem veröffentlichen, der sich mit großen Fällen von Wirtschaftsbetrug, möglichen Klagewellen und Prozessen auskennt: Der FinanzBuch Verlag brachte als erster Verlag ein Buch zu Wirecard heraus, 776 die Münchner haben daher mein Vertrauen, sich auch mit dem Handelsriesen Tengelmann und der Familie Haub anlegen zu können.

Ich werde versuchen, weitere Informationen, vor allem aber die Bestätigung rund um die Bezahlung der erfolgsabhängigen Vergütung der internen Ermittler, über unabhängige Quellen zu verifizieren. Die Wochen vor Weihnachten verbringe ich daher intensiv damit, mein Netzwerk in die deutschen Sicherheitsbehörden, in die Politik und zu anderen Journalisten zu befragen. Auch im Umfeld von Tengelmann kenne ich inzwischen genug Personen, die etwas mitbekommen haben könnten .

Was weiter geschah

Als Erstes nehme ich Kontakt zum Bundeskriminalamt auf, um den Beamten anzubieten, Einblicke in die Recherche rund um den mutmaßlichen Wirtschaftsbetrug sowie die Verbindungen zu Geldwäsche, Organisierter Kriminalität und Nachrichtendiensten zu nehmen. Unter der Hand erfahre ich jedoch, dass die zuständige Stelle in der Behörde die Akte Tengelmann auf keinen Fall auf den Tisch bekommen will: Das Thema sei »zu groß«, es würde »zu viele Kräfte binden«. 777 Zwar bin ich nach allem, was ich in den vergangenen zwei Jahren erlebt habe, kaum noch überrascht, aber dennoch ein wenig entsetzt: Dass der Vermisstenfall Karl-Erivan Haub aufgrund der Nähe zu russischen Geheimdiensten und kriminellen Strukturen »groß« ist, ist mir auch klar. Genau deshalb sollten die Behörden ihn auch ordentlich untersuchen! Schriftlich biete ich den Beamten daher noch einmal an, ihnen in einem Hintergrundgespräch unsere Recherchen offenzulegen – ohne Erfolg: »Leider« könne man mir »zum Sachverhalt Tengelmann/Haub kein Hintergrundgespräch anbieten.« 778

Über alle Vorgänge informiere ich unter anderem meinen Anwalt: Das Zögern und Wegducken der Behörden ist gut dokumentiert.

Die erfolgsabhängige Vergütung für den finalen Beweis wurde gezahlt

Vor Weihnachten gelingt es mir schließlich, über eine Person aus dem Tengelmann-Umfeld eine Bestätigung über die Bezahlung der erfolgsabhängigen Vergütung an den Tengelmann-Sicherheitschef zu erhalten. Wie ich vermutet habe, gibt es mehrere Personen, die davon Kenntnis haben, und einige von ihnen haben von selbst eine Verbindung zwischen den Presseartikeln, denen zufolge Karl-Erivan Haub im Auftrag von Christian Haub lebend gesucht wird («Aufenthaltsort zeitweise bekannt« 779 ) und der mit dem Auffinden verknüpften erfolgsabhängigen Vergütung 780 gezogen: Ich erhalte die Aussage, der Sicherheitschef habe das dafür in Aussicht gestellte Geld »zweifelsfrei« erhalten.

Ziemlich früh in der Recherche, es muss wohl Januar/Februar 2021 gewesen sein, hatte ich zudem über öffentlich zugängliche Register gesehen, dass der Sicherheitschef sowohl als Geschäftsführer der Tengelmann-eigenen Sicherheitsfirma eingetragen ist, 781 gleichzeitig jedoch auch als geschäftsführender Gesellschafter einer eigenen Beratungsgesellschaft auftritt. 782 783 Aus Gesprächen mit Christian Haubs engem Vertrauten weiß ich, dass teilweise auch über dieses Unternehmen Leistungen für Tengelmann abgerechnet werden. Meinem Verständnis nach würde es nur Sinn ergeben, wenn eine erfolgsabhängige Vergütung über das eigene Unternehmen abgerechnet wird – und nicht über die Sicherheitsfirma von Tengelmann. Das wäre ja sonst finanziell wenig reizvoll. Über ein öffentlich zugängliches Unternehmensregister 784 möchte ich mir daher die Jahresbilanzen dieses Beratungsunternehmens anschauen. Ich erhalte für die Jahre 2020 und 2021 Treffer 785 und bespreche sie mit einem Steuerberater.

Die Bilanzsumme für 2021, dem Jahr, in dem es für die Vorlage des finalen Beweises laut Christian Haubs Vertrautem eine erfolgsabhängige Vergütung in Millionenhöhe geben sollte, fällt deutlich höher aus als im Vorjahr. Sie steigt von 138.303 Euro auf 1.018.167 Euro. 786 Interessant ist vor allem, dass auf der Aktiva-Seite das Umlaufvermögen einen Bilanzwert von 955.802 Euro aufweist. Da es sich um ein Beratungsunternehmen handelt, bei dem eher keine großen Vorräte, wie zum Beispiel Waren, zu erwarten sind, lässt das Umlaufvermögen darauf schließen, dass diese hohe Summe einfach auf einem Bankkonto liegt.

Der Blick auf die Passiva-Seite erlaubt weitere interessante Analysen: Das Eigenkapital ist im Vergleich zum Vorjahr um rund 840.000 Euro gestiegen, woraus zu schließen ist, dass es im Jahr 2021 zu einem hohen Jahresgewinn gekommen ist und eine signifikante Betriebseinnahme erzielt wurde. Dadurch, dass es kaum Rückstellungen für Steuern gibt, ist wohl die Steuer bereits abgeflossen. Ein ungewöhnlich lukrativer Auftrag. Die enorme Steigerung des Eigenkapitals von 17.094 Euro (2020) auf 857.307 Euro (2021) kann daher als ein weiteres belastbares Zeichen für die Zahlung einer erfolgsabhängigen Prämie gewertet werden.

Leider kann ich die einzelnen Positionen des Jahresabschlusses jedoch über das Portal nicht im Detail einsehen und denke mir wieder einmal, wie einfach es im Prinzip für die deutschen Sicherheitsbehörden (gewesen) wäre, in diesem vielschichtigen Vermisstenfall zu ermitteln: Jedes Finanzamt, jede Strafverfolgungsbehörde könnte im Zuge behördlicher Maßnahmen Zugriff auf diese Informationen erhalten: Alles wäre sichtbar. Warum passiert es also nicht?

Am Ende immer noch viele offene Fragen

Unter Berücksichtigung aller Rechercheergebnisse der vergangenen zwei Jahre (starke Indizien für nachrichtendienstliche Verbindungen von Karl-Erivan Haub und nachweisliche Kontakte zu kriminellen russischen Akteuren) und angesichts der eindeutigen Aussagen der internen Tengelmann-Ermittler (»finaler Beweis liegt bald vor«, »Aufenthaltsort zeitweise bekannt«), unter Berücksichtigung von Tatsachen (plötzliche Bereitschaft, die Todeserklärung zu unterstützen, Durchführung des Milliarden-Deals, Aussagen von Vadim zu den Treffern im biometrischen Überwachungssystem in Moskau, Einsicht in die vorliegenden Bilder durch meinen Anwalt und mich, Vereinbarung einer erfolgsabhängigen Vergütung und dann im zeitlich passenden Rahmen eine Erhöhung der Bilanzsumme der Firma des Tengelmann-Sicherheitschefs in Millionenhöhe) lassen aus meiner Sicht nur eine Schlussfolgerung zu: Die Indizien sprechen dafür, dass Christian Haub und seinem Team die biometrischen Fotos aus dem Überwachungssystem in Moskau vorgelegt wurden. Dafür spricht in meinen Augen vor allem der signifikante Anstieg in der Jahresbilanz des Sicherheitschefs von Tengelmann für das Jahr 2021 787 und das völlige Ausklammern 788 bei der Beantwortung der Fragen zum finalen Beweis und damit verbunden den möglicherweise vorgelegten Fotos und biometrischen Gutachten in meiner Presseanfrage im Juni 2021 789 . In jedem Fall sind die Fotos, die mein Anwalt und ich einsehen konnten, in ihrer Eindeutigkeit als belastbares Indiz für einen möglichen Aufenthaltsort von Karl-Erivan Haub in Russland zu werten. Fotos, auf deren Existenz Christian Haub in der eidesstattlichen Erklärung jedoch mit keinem Wort eingeht. Wenn sie ihm tatsächlich vorgelegt wurden, wovon ich nach der derzeitigen Sachlage überzeugt bin, dann hat sie der aktuelle Tengelmann-Chef dem Gericht wissentlich vorenthalten. Damit wäre unter Vorspiegelung von falschen Tatsachen die Grundlage für eine Todeserklärung geschaffen worden, welche in Folge zum Verkauf der Tengelmann-Anteile in Milliardenhöhe geführt hat. Ob Christian Haub diese Informationen mit Katrin Haub und den Kindern geteilt hat, weiß ich nicht. Die in Russland erzielten Treffer im biometrischen Überwachungssystem von Moskau sind aus meiner Sicht in ihrer Eindeutigkeit in jedem Fall als »belastbare Hinweise« zu werten, von denen Christian Haub in seiner eidesstattlichen Erklärung angibt, dass sie ihm nicht vorlägen.

Aus meiner Sicht wäre es daher nun zwingend an der Zeit, die in die internen Ermittlungen eingebundenen Akteure umfassend zu ihrem Kenntnisstand zu befragen. Viele der Beteiligten haben sich zu Handlangern eines zweifelhaften und undurchsichtigen Deals gemacht. Gleichzeitig aber, und das wiegt aus meiner Sicht noch schwerer, haben sie Teilen der Familie Haub vermeintlich dabei geholfen, die dubiosen Machenschaften und nachrichtendienstlichen Verbindungen des verschollenen Karl-Erivan Haub zu vertuschen. Die Behörden in Deutschland, der Schweiz und den USA wurden in der Endphase der internen Ermittlungen nach meinem Kenntnisstand nie oder nicht vollständig über die hauseigenen Ermittlungsergebnisse informiert. Warum wollte man ihre Unterstützung bei der Aufklärung nicht?

Das Resultat: Das »dubiose Pärchen« aus dem Hotel The Omnia wurde nie durchleuchtet, die Hintermänner nie herausgefunden. Die mutmaßliche russische Agentin Veronika E. reist auch aktuell noch in Deutschland, der Schweiz und den USA ein und aus. Die Rolle einer deutschen Partnerfirma von Russian Event, 790 die keine einzige unserer Anfragen je beantwortet hat, wurde ebenfalls nie untersucht. Der Besuch von FBI und CIA in Zermatt erregte ebenfalls bei den deutschen und Schweizer Behörden wenig Aufsehen. Die Tatsache, dass der mittlere Sohn bis zum Schluss nicht bereit war, sich der angestrebten Todeserklärung anzuschließen, passt da nur allzu gut ins Bild. Es wurde nie aufgeklärt, wo sich Karl-Erivan Haub in den 30 bis 45 Minuten am Vorabend seines Verschwindens aufhielt, als er aus dem Blickfeld der Kameras in Zermatt verschwand. Es wurde nie aufgeklärt, warum es zum »Bruch« zwischen dem Tengelmann-Chef und seinem väterlichen Berater, dem ehemaligen Top-Manager, kam, der laut den internen Akten kurz vor dem Verschwinden stattgefunden haben soll. Auch die zweifelhaften Russland-Verbindungen des Mannes wurden nicht mehr genauer beleuchtet, nach den verschwundenen Millionen aus dem PLUS-Russland-Geschäft wurde nicht weiter gesucht. Die Behörden wurden nie darüber informiert, dass der Tod der zwei externen Privatermittler möglicherweise in Zusammenhang mit ihren Russland-Recherchen im Auftrag von Tengelmann stehen könnte.

Und selbst nachdem spätestens ab April 2022 durch den n-tv-Artikel 791 viele dieser Punkte der Öffentlichkeit bekannt waren, passierte nichts. Doch nicht nur die Tengelmann-Vertreter haben durch eine intransparente Informationspolitik dazu beigetragen, die Hintergründe des mysteriösen Verschwindens im Nebulösen zu halten. Auch die Behörden spielen eine zweifelhafte Rolle. Trotz mehrfacher Presseberichte verschiedener Medien sind die einschlägigen Stellen ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Ermittlung von Straftaten nicht nachgekommen. Die veröffentlichten Hinweise wurden schlicht ignoriert. Darüber hinaus wurden sogar Angebote meinerseits, die betreffenden Behörden in ausführlichen Hintergrundgesprächen über unseren aktuellen Recherchestand zu informieren, abgelehnt. 792

Kronzeuge stirbt: Sergej Grishin ist tot

Und nicht zuletzt wäre es für die deutschen Sicherheitsbehörden hochinteressant gewesen, zu erfahren, warum Karl-Erivan Haubs ehemaliger Geschäftspartner Sergej Grishin in seinem Umfeld im Herbst 2017 einen Betrug witterte, 793 794 während sich Haub laut Aussage seines Sicherheitschefs nahezu gleichzeitig überwacht fühlte. Bestand ein Zusammenhang? Grishin fürchtete damals um sein Leben, flehte den damaligen US-Präsidenten Donald Trump förmlich an, ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft zu geben, und wollte mit den amerikanischen Sicherheitsbehörden kooperieren. Doch die Chance, mit Sergej Grishin zu sprechen, ist inzwischen verstrichen, man wird dem Oligarchen diese Fragen nicht mehr stellen können, denn er ist inzwischen tot. 795 Gestorben mit nur 56 Jahren im März 2023. Die Umstände sind mysteriös: Der offiziellen Version zufolge hatte Grishin gut einen Monat vor seinem Ableben eine Durchblutungsstörung im Gehirn, im Anschluss sei es zu einer Blutvergiftung gekommen und er sei gestorben. Mehr Informationen gibt es nicht, niemand aus seinem Umfeld äußert sich. Mir fällt es schwer, an sein natürliches Ableben zu glauben, aber an Beweise, wie sich die Dinge sonst abgespielt haben könnten, ist wohl kaum zu kommen. Kurz nachdem Karl-Erivan Haub im April 2018 spurlos in den Zermatter Alpen verschwunden war, hatte Grishin öffentlich damit gedroht, »auszupacken« und alle beim Namen zu nennen, die in den großen Betrug verwickelt waren. Da er nun von »russischen Kriminellen« und »einigen Vertretern der Regierungsstrukturen« 796 gejagt werde, müsse er in den USA dauerhaft Zuflucht erhalten. Seine darauffolgende urplötzliche Rückkehr nach Russland, die Tatsache, dass er dann zunächst abtauchte und sich später plötzlich geläutert gab, passt meiner Ansicht nach weder ins Bild noch macht sie Sinn. Vielleicht war Grishin zu wertvoll und mächtig, um ihn nach seinen skandalösen Aussagen in den Jahren 2017/2018 sofort aus dem Weg zu räumen. Vielleicht ist die Bedrohung, die wohl für viele seiner (ehemaligen) Geschäftspartner von dem unkontrollierbaren Oligarchen ausging, doch zu groß geworden.

Wer steckt hinter Vadim?

Zum Schluss ein paar erklärende Worte zu Vadim . Ohne diese Person gäbe es dieses Buch nicht. Für die Bereitschaft, mich über knapp zwei Jahre hinweg in der Recherche zu unterstützen, bin ich sehr, sehr dankbar. Vadim ist nicht nur meine wichtigste Quelle – Vadim ist auch eine fiktive Person. In ihr verschmelzen mehrere real existierende deutsche und russische Informanten. Alle Personen wurden rechtssicher geprüft und die Ergebnisse entsprechend hinterlegt. Es handelt sich um mehrere Männer und Frauen sowie die mit ihnen verknüpften Hintermänner und -frauen. Über einen Zeitraum von zwei Jahren stand ich mit allen in einem mal mehr, mal weniger engen Austausch. Ich habe sie alle persönlich getroffen. Einige der Personen sind mit den deutschen, russischen und den israelischen Nachrichtendiensten verknüpft. Sie alle sind ein hohes persönliches Risiko eingegangen, indem sie mit mir gesprochen haben. Für sie gilt weiterhin der vereinbarte Quellenschutz. Einige von ihnen wären jedoch bereit, unter bestimmten Voraussetzungen mit Strafverfolgungsbehörden für die Aufklärung dieses Falls zusammenzuarbeiten. Vadim heißt »Vadim«, weil die meisten Informationen über die russischen Quellen kamen und ich der fiktiven Person daher einen russischen Namen geben wollte; da einige Namen schon durch Protagonisten in diesem Buch oder die realen Quellen besetzt waren, wurde es am Ende der Name Vadim . Es hätte aber auch jeder andere Name werden können, es gibt keine tiefere Bedeutung.

Die Entscheidung, alle Quellen in einer Person zu verschmelzen, ist nach vielen Gesprächen mit ebenjenen Personen gefallen. Keine/r von ihnen wollte Hinweise auf sich oder sein/ihr Umfeld in diesem Buch lesen, die Verschmelzung dient daher auch der Verschleierung ihrer Identitäten und damit zu ihrem Schutz. Die mit Vadim beschriebenen Treffen, Aussagen zu den Rechercheergebnissen, Details zu den Hintermännern und Kontakten haben alle so stattgefunden und wurden einer rechtssicheren Überprüfung unterzogen.