Dreißig

»Alles gut hier?«, fragte Roz, als sie, Craig und der blinde Passagier sich an Beefy vorbeidrückten, der vor Grants Abteil Wache stand.

»Er grummelt und meckert vor sich hin, aber seit er sein Essen gekriegt hat, ist er ruhiger geworden. Ich passe auf, dass keiner rein- oder rausgeht.« Beefy zeigte ihr die Schlüsselkarte für das Abteil und steckte sie zurück in die Hosentasche. Er machte ein derart entschlossenes Gesicht, dass Roz ihm uneingeschränkt glaubte.

Drei Türen weiter öffnete Roz mit einem Schlüssel von Bella das Abteil, in dem sie die Verhöre durchführen würde. In diesem Abteil war Nick, der Mann im grünkarierten Anzug, bis Edinburgh gereist. Er hatte glattgestrichene, runde Stücke Alufolie mit Mince-Pie-Krümeln darauf zurückgelassen, ein Whiskyglas und auf dem Boden ein paar verstreute Haferflocken.

»Mein Name ist Roz. Ich habe bisher bei der Polizei gearbeitet und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Das ist Craig, ein Staatsanwalt von Crown Prosecution Services, aber das dürfen Sie ihm nicht ankreiden. Er ist eigentlich echt in Ordnung.«

»Freut mich.« Der Mann blickte sich verwirrt um. »Wo soll ich mich hinsetzen?«

»Aufs Bett oder auf den Boden«, antwortete Roz. »Wo Sie sich wohler fühlen.«

Als sich der Mann aufs Bett plumpsen ließ, breitete sich ein durchdringender Schweißgeruch im Abteil aus. Sein Gesicht wirkte fleckig und ungesund, und die Falten vieler Jahre hatten sich tief in sein Gesicht eingegraben. Er streckte die Beine vor sich aus und wiegte sich mit dem Oberkörper vor und zurück.

Roz setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um auf ähnlicher Augenhöhe zu sein wie der Mann. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich unser Gespräch aufzeichne, falls es in Zukunft mal gebraucht werden könnte? Sie bekommen natürlich eine Kopie der Datei.« Der Mann nickte, als sei ihm das völlig gleichgültig. Roz tippte auf den Aufnahmebutton und startete die Befragung. »Können Sie mir Ihren vollständigen Namen und Wohnort nennen?«

»Iain Curran«, sagte er. Seine Finger bewegten sich, als hielte er einen unsichtbaren Zauberwürfel. »Ich wohne in Bexleyheath.«

»Wie alt sind Sie?«

»Neununddreißig.«

»Warum haben wir Sie Ihrer Meinung nach gebeten, mit uns zu sprechen?«

Iain sah zu Boden. »Ich hätte nicht weglaufen sollen.«

»Und warum sind Sie weggelaufen?«, fragte Craig.

Lautlos liefen die Tränen Iains Gesicht hinab. »Ich habe sie gesehen.«

Roz und Craig sahen sich an. »Wen?«, fragte sie.

»Meg.« Er schien zusammenzubrechen, als er ihren Namen aussprach. Er wurde nur so von Schluchzern geschüttelt.

Roz wartete, bis er sich ein wenig beruhigt hatte. »Und wo haben Sie Meg gesehen?«

»In ihrem Abteil.« Er wurde rot. »Ich habe von außen bei ihr zum Fenster reingeguckt. Ich habe mir den Koffer von jemandem aus dem Sitzabteil genommen und mich draufgestellt.«

»Und was haben Sie da gesehen, als Sie zum Fenster hineingeguckt haben?«

»Sie lag fürchterlich verdreht da. Und sie hat sich nicht bewegt.« Er musste ein paarmal schlucken, bis er herausbrachte: »Ich habe Blut gesehen.«

»Und warum sind Sie nicht dageblieben, um ihr zu helfen?«, fragte Roz.

»Ich wusste genau, dass sie von uns gegangen war. Nicht mehr unter den Lebenden. Ich habe es genau gespürt.« Iain schlug sich mit der Faust an die Brust, als versuche er, sein eigenes Herz wieder zum Schlagen zu bringen.

»Aber Sie hätten doch jemanden alarmieren müssen«, kritisierte Craig sanft.

Iain ließ den Kopf noch tiefer sinken. »Ich weiß. Ich schäme mich so schrecklich. Ich habe den Koffer zurückgestellt und wollte eigentlich jemandem Bescheid sagen, aber dann hätte ich doch auch erklären müssen, warum ich spioniert habe, und dann würde man herausfinden, wer ich bin. Ich bin in Panik geraten und am Gleis entlanggelaufen bis zur Schlucht und habe überlegt, ob ich mich runterstürzen soll. Aber meine Beine wollten nicht. Sie sind einfach weitergelaufen, immer weiter, bis sie irgendwann unter mir weggeknickt sind. Und da habe ich im Schnee gelegen und hochgeschaut zum Berg, und die Flocken sind auf mich runtergerieselt. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen habe. Bis ich dann die Katze gehört habe, die mich gerufen hat.«

»Moustache hat Sie gerufen?«

»Ja, er hat laut gemaunzt, immer wieder, und dann ist er auf meine Brust gesprungen. Wahrscheinlich wollte er mich wärmen. Oder selbst keine kalten Füße bekommen. Oder beides. Dann hat der junge Mann mich gefunden.«

»Oli.«

»Ja, genau der. Oli.« Iain schwieg einen Augenblick in sich gekehrt. »Aber es stimmt, oder nicht? Ich hatte recht? Sie ist tot?«

»Ja«, sagte Roz. »Meg ist tot.«

Iain vergrub das Gesicht in den Händen, schluchzte und riss sich bei jedem Schluchzer an den Haaren.

»Darf ich fragen, warum Ihnen Megs Tod so nahegeht?«, fragte Craig.

Iain sah überrascht auf, zum ersten Mal in diesem Verhör. »Ich liebe sie. Ich dachte, das wäre offensichtlich.«

In Grants Abteil einige Türen weiter wurde laut an die Tür gehämmert. »Ich habe gesagt, ich will Champagner! Ohne Alkohol bleibe ich nicht hier drin!«

»Das ist er«, sagte Iain mit weit aufgerissenen Augen. Er schlang die Arme um sich. »Er ist der Mörder. Er hat sie umgebracht.«

»Ignorieren Sie ihn einfach. Konzentrieren Sie sich ganz auf Meg, das sind wir ihr schuldig. Wie haben Sie sie geliebt?« Craig versuchte, das Verhör weiterzuführen.

Nervös blickte Iain zur Tür, als befürchte er, Grant könne jeden Augenblick hereinplatzen. »Ich habe sie nicht geliebt«, sagte er schließlich. »Ich liebe sie immer noch, ob sie nun tot oder lebendig ist. Das nennt sich wahre Liebe.«

»Andere würden es vielleicht Stalking nennen«, sagte Roz.

Iain lief rot an und sagte: »Das war ein dummes Missverständnis. Ich wollte einfach in ihrer Nähe sein. Sie beschützen. Besonders, nachdem ich das erste Mal beobachtet hatte, wie er sie geschlagen hat.«

Aus den Augenwinkeln bemerkte Roz, dass Craig erstarrte. Sie fragte so beiläufig wie möglich: »Können Sie uns darüber mehr erzählen, Iain?«

»Aber natürlich. Ich habe es der Polizei gesagt, aber die haben sich nicht dafür interessiert. Er hatte sie total unter der Fuchtel, dieser Schlägertyp. Hat ihr nicht mal erlaubt, für sich selbst zu sprechen.«

»Bitte erzählen Sie der Reihe nach, was Sie beobachtet haben.«

»Ich war den beiden wie gewöhnlich nach Hause gefolgt, und ich weiß, das wirft jetzt kein gutes Licht auf mich, aber es ist ganz anders, wirklich. Jedenfalls habe ich immer auf dem Rasen in der Mitte von der Anlage gestanden, in der sie wohnen, und hab hochgeschaut zu ihren Fenstern. Um besser sehen zu können, habe ich ein Fernglas genutzt. Besonders, nachdem ich mitbekommen habe, wie er sie gestoßen hat. Ich musste aufpassen. Und an diesem Abend habe ich gesehen, wie er sie in die Rippen geschlagen hat.«

»Und haben Sie gesehen, was dann passiert ist?«

Iain rümpfte die Nase. »Er hat den Vorhang zugezogen.«

Roz versuchte, ein so ausdrucksloses Gesicht wie möglich zu machen, als Iain so beiläufig gestand, dass er sich strafbar gemacht und Meg nachgestellt hatte.

»Und war das auch der Grund, weswegen Sie ohne Fahrschein in den Zug gestiegen sind? Um ihr zu folgen und sie in Schottland beschützen zu können?«, fragte Craig. Für Roz’ Geschmack war diese Frage ein wenig zu suggestiv, aber so waren sie, die Staatsanwälte. Sogar die, zu denen sie sich schrecklich hingezogen fühlte.

»Das stimmt. Und ich habe versagt.« Iain sah Roz direkt ins Gesicht. Seinen Augen war anzusehen, dass er eine größere Last mit sich herumtrug als Grant und Meg an Koffern und Taschen.

»Uns wurde gesagt, es habe eine Auseinandersetzung mit Meg gegeben, nicht allzu lange vor ihrem Tod. Sie hätten sie gewarnt, sie solle in Edinburgh aussteigen. Wie haben Sie das gemeint?«

»Ich habe sie angefleht, vor ihm wegzulaufen. Zu fliehen. Jeder, der die beiden zusammen beobachtet hat, weiß, warum.«

»Und was glauben Sie, wie das von außen aussieht, dass Meg kurz nach Ihrer Warnung dann tot war?«

»Wenn es mich interessieren würde, was andere von mir denken, würde ich kaum so rumlaufen.« Er zog wieder an seinen Haaren.

»Können Sie uns sagen, was vorgefallen ist, bevor Sie Meg in ihrem Abteil liegen sahen?«

»Ich konnte nicht schlafen. Auf Zugfahrten kann ich prinzipiell nicht schlafen. Deswegen bin ich durch die Wagen gelaufen. Als wir entgleist sind, hörte ich Meg laut schreien. Ich bin zu ihrem Abteil gerannt und sah gerade noch McVey von hinten, wahrscheinlich auf dem Weg zurück zur Bar, um sich noch weiter zu besaufen.«

»Und haben Sie Meg gesehen?«

»Nein, die Tür war von innen verschlossen.«

»Sie haben also versucht, sie zu öffnen?«

»Natürlich. Es klang, als ginge es ihr schlecht.« Er blinzelte Roz an, als sei das alles ja wohl offensichtlich. »Dann bin ich ausgestiegen und am Zug entlanggegangen, um bei ihr ins Fenster gucken zu können, ob ihr auch nichts fehlt.«

»Und da war sie schon tot. Das tut mir so leid für Sie.« Craigs Stimme klang weich und mitfühlend.

»Das Ganze beweist doch nur, dass ich recht hatte, als ich ihr gesagt habe, sie soll wegrennen, stimmt’s?« Iain schaukelte sich jetzt noch heftiger vor und zurück. »Er hat sie umgebracht. Hätte die Polizei nur auf mich gehört, hätte sie nur auf mich gehört, wäre das nie passiert.« Er winkte Roz näher. Craig schüttelte fast unmerklich den Kopf. Roz lehnte sich Iain ein klein wenig entgegen. »Und er wird es wieder tun, wissen Sie. Die Nächste. Verletzen, umbringen. Es gibt nur eine Methode, ihn zu stoppen. Man muss ihn töten.«

»Und, was glauben Sie?«, fragte Roz, als sie mit Craig den Gang hinunterging, bis Iain und Grant sie nicht mehr belauschen konnten.

Craig antwortete erst, als sie im nächsten Waggon waren und Iains Schluchzen und Grants Brüllen nach Alkohol nicht mehr hören konnten.

»Er ist auf jeden Fall sehr überzeugend.«

»Auf jeden Fall. Aber ich habe schon trauernde Eltern und Partner erlebt, die verzweifelt nach Auskunft über das Verschwinden oder den Tod ihres Angehörigen gebeten haben. Und später hat sich dann rausgestellt, dass sie selbst hinter dem Verbrechen steckten.«

»Ja, das habe ich auch schon erlebt. Ziemlich unglaublich …« Er sah in die Ferne und sprach den Satz nicht zu Ende.

»Auf jeden Fall hat er gerade ausgesagt, Grant sei ungefähr zum Todeszeitpunkt am Tatort gewesen«, sagte Roz. »Grant hat aber behauptet, er sei nicht da gewesen.«

»Iains Zeugenaussage ist nicht direkt neutral.«

»Nein, und ich weiß, dass ihr von der Staatsanwaltschaft so was nie durchgehen lassen würdet«, sagte Roz, ohne darüber nachzudenken. Was sollte das? Flirtete sie mit ihm, griff sie ihn an, oder tat sie so, als sei sie einfach der Detective Sergeant bei einem Fall? Sollte er näherkommen, oder stieß sie ihn von sich weg?

Seine Lippen zuckten und verzogen sich zu einem verspielten Grinsen. »Aber ihr von der Polizei wärt natürlich nur zu einverstanden damit, was?«

Sie sahen einander an, und es war, als seien sie allein im Zug. Das waren sie aber nicht. Roz senkte als Erstes den Blick. »Aber ob Iain jetzt lügt oder nicht – Beefy bewacht schon den anderen. Iain muss man auch im Auge behalten. Er hat Grant gerade mit dem Tod gedroht.«

»Grant soll seine Tür von innen verriegeln. Nur für den Fall.«

»Obwohl das Meg auch nicht geholfen hat.«

Bella kam vom Cockpit her auf sie zugeeilt. »Wir haben ein Problem. Eigentlich sogar mehrere Probleme.«

»Was gibt’s?«, fragte Roz.

»Ich habe gerade mit der Polizei, der Feuerwehr und noch mal unseren Technikern gesprochen. Ihre Ankunft verzögert sich weiter, weil noch andere Bäume auf die Trasse gestürzt sind. Haben Sie schon mal versucht, die Nadeln von einer Waldföhre aus dem Teppich zu kriegen? Dann können Sie sich vorstellen, wie schwierig es ist, einen Föhrenstamm von einer Eisenbahntrasse zu bekommen.«

»Es gibt keine ungefähre Ankunftszeit?«

»Alle haben nur gesagt ›so schnell wie irgend möglich‹, mehr konnten sie nicht versprechen.«

Beim Gedanken an Heather und ihr Enkelchen im Krankenhaus krampfte sich Roz’ Herz schmerzhaft zusammen.

»Sie sprachen von mehreren Problemen«, sagte Craig.

»Erstens, die Videoüberwachung funktioniert nicht mehr«, sagte Bella. »Man kommt nicht an die Aufzeichnungen ran. Momentan lässt sich nicht sagen, ob das auch mit der Entgleisung zusammenhängt oder Vorsatz dahintersteckt.«

»Wenn es Sabotage sein sollte: Hätte das jemand im Zug machen können?«, wollte Craig wissen. »Oder hätte auch ein Bahnmitarbeiter die Überwachungsanlage ferngesteuert sabotieren können?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die Kameras noch funktioniert haben, als wir London verließen, weil wir vor der Abfahrt Sicherheitschecks durchführen.«

Roz seufzte. Wenn jemand die Kameras absichtlich außer Gefecht gesetzt hatte, deutete das auf Vorsatz hin. Mord. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Grant zu einer Planung in diesem Ausmaß oder Verständnis elektrischer Systeme in der Lage war, aber vielleicht unterschätzte sie ihn ja.

»Jetzt kommt noch was Unerfreuliches«, fuhr Bella fort. »Die Heizungsanlage wurde bei der Entgleisung ebenfalls beschädigt. Ich habe alles unternommen, damit sie weiterläuft, aber jetzt hat sie sich komplett abgeschaltet. Es wird bitterkalt hier drin werden.«

»Gibt es Decken für solche Notfälle?«, fragte Craig.

»Wir könnten die Daunendecken aus den Abteilen holen, damit die Passagiere sich damit warmhalten können«, schlug Roz vor.

»Hervorragende Idee. Das ist aber noch nicht das Schlimmste.« Bella schloss die Augen und seufzte, als würde sie sich sammeln für das Bekenntnis des allerscheußlichsten aller Verbrechen: »Wir haben keine Teebeutel mehr.«