Vierundvierzig

Ember spürte die Kälte nicht mehr. Sie rannte den Berg hinauf, raste weiter wie ein Zug, der nie wieder stoppen würde. Irgendeine Macht half ihr bei dieser Flucht: eine Rachegöttin oder ihre eigene Kraft, die sie endlich gefunden hatte. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie den Gipfel erreichte. Vielleicht sich hinunterstürzen, sich Beinn Dòrain in die Arme werfen.

Nein. Das klang wie ein Männername: Als sei Beinn Dòrain ein Bergkönig. Einem Munro würde sie sich opfern. Aber einem Mann nicht. Sie würde auf die Freundlichkeit der Munrogeister setzen.

Sie hörte, dass Roz nach ihr rief, und wünschte, sie könnte ihr einfach alles gestehen. Erklären, warum sie es getan hatte.

Aber sie hatte keine Worte dafür und keine Zeit. Sie würde Roz nicht die Wahrheit aufbürden. Denn so war es doch, wenn man einer anderen seine Geschichte erzählte – etwas von der Bürde lastete dann auch auf ihr. Das war unvermeidlich. Und all die Worte türmten sich auf, eins auf dem anderen, wie einzelne Flocken, aus denen eine Schneewehe des Missbrauchs wurde.

Nur in schwach erleuchteten Räumen, in den dunkelsten Stunden, mit den leisesten Stimmchen konnten die sprechen, die behandelt worden waren wie Schnee, den Männer vollgepinkelt hatten.

Hätte sie nur damals etwas gesagt, als es passiert war. Hätte sie Grant angezeigt, dann wäre vielleicht nichts von alledem geschehen. Vielleicht hätte Meg ihn nie kennengelernt. Er hätte nicht sterben müssen.

Dabei wusste Ember genau, was passiert wäre. Es passierte jeden Tag vor Gericht: Die Anwälte drehten den Opfern die Worte im Mund herum. Ihr Leben und die Ereignisse und sie hätten sich zu einem unentwirrbaren Knoten verheddert. Hinterher hätte sie sich noch missbrauchter und geschundener gefühlt als vorher. Sie hatte sich selbst geschützt. Sonst niemanden. Wäre er nicht gestorben, wären ihm noch mehr Frauen zum Opfer gefallen.

Jetzt war er tot. Vielleicht konnte sie jetzt endlich sprechen.

Vielleicht konnte sie jetzt singen.

Vielleicht konnte sie jetzt brüllen.

Das war ihre Abmachung mit Gott. Die Arme dem Berg entgegengestreckt, rannte Ember.

Sie probierte ihre Stimme aus. Anfangs war sie noch schwach wie die Sonne am kürzesten Tag des Jahres. Sie versuchte es noch einmal. Ihre Stimme wurde klangvoller, gewann an Kraft. Und dann versuchte sie es gleich noch mal.

»Er hat mich vergewaltigt!«, schrie sie. Ihre Stimme schien um den Berg zu fliegen, als hätte sich ein Adler ihre Worte geschnappt und trage sie im Schnabel wie ein Banner. »Er hat mich vergewaltigt!«

Als sie diese Worte aus ihrem eigenen Mund hörte, flossen die Tränen. Aber sie waren anders als die, die sie früher geweint hatte. Diese Tränen waren voller Salz, als rufe sie Lots Frau um Hilfe an. Sie stammten aus einer dunklen, tief in ihr begrabenen Schicht. Sie entströmten ihr wie Lava einem Berg.

»Grant McVey hat mich vergewaltigt!«

»Ich weiß!«, schrie eine Stimme zurück. Vielleicht Beinn Dòrain. Oder der Schnee, weil er alles Kalte kannte.

Hinter ihr knirschten Schritte.

Ember drehte sich um.

Es war Roz, die auf sie zukam, ihr den Mantel hinhielt, beide Arme ausgestreckt. »Ich weiß«, wiederholte sie.

Ember blickte zurück in das flirrende Schneegestöber. Wie einfach wäre es, weiterzurennen, vielleicht zu stürzen, sich vielleicht zu verstecken, den Berg über ihr Schicksal entscheiden zu lassen. Sie hatte das Gefühl, ihr sei warm, was bedeutete, dass sie bereits unterkühlt war. Es war ein sanfter Tod, hatte sie gehört, falls es so etwas gab. Sich in die kalte Umarmung von Mutter Erde fallen zu lassen.

Also. Wollte sie sich dem Berg hingeben, dem Tod oder Roz? Wenigstens hatte sie jetzt die Wahl.

Ember machte ein paar Schritte auf Roz zu, dann fing sie an zu rennen.