Auf einmal ist da ein Universum
Ganz am Anfang war alles, was es gibt, ganz nah beieinander. Ihr, ich, der Eiffelturm und der Planet Jupiter, zusammengepfercht auf einem Fleck, der kleiner ist als ein Stecknadelkopf. Schwer vorstellbar, ich weiß. Und trotzdem ist es so. Alles, wirklich alles, was wir heute im Universum sehen können, hat mal auf einem unendlich dichten, unendlich kleinen Punkt existiert. 1 So etwas nennt man »Singularität«. Dabei waren die Objekte selbst natürlich nicht im Ganzen dort zusammengequetscht, sondern das Material, aus dem sie bestehen. Erst war alles so eng und heiß, dass selbst die fundamentalen Kräfte, die unsere Welt bestimmen, in einer einzigen, universellen Kraft zusammengeschmolzen waren.
Heute ist der Kosmos, den wir bewohnen, ein kleines bisschen größer als damals. Das beobachtbare Universum, wie es in der Kosmologie genannt wird, misst mindestens 90 Milliarden Lichtjahre im Durchmesser. Ein Lichtjahr ist dabei keine Zeit-, sondern eine Entfernungsangabe. Es bezeichnet die Distanz, die Licht in einem Jahr zurücklegt, schlappe 9 ,46 Billionen Kilometer, also etwa 30 000 Mal von der Sonne zur Erde und zurück. Diese Entfernung multipliziert mit 90 Milliarden, und wir haben den Durchmesser des beobachtbaren Universums.
Keine Angst, wir müssen gar nicht so tun, als ob wir uns das vorstellen könnten. Das ist nicht klausurrelevant. Und außerdem komplett unmöglich. Weder die unendlich kleine Singularität, mit der alles begann, noch die gigantischen Maßstäbe des beobachtbaren Universums – es geht nicht. Aber warum überhaupt »beobachtbares« Universum? Gibt es auch ein »unbeobachtbares« Universum? Und falls ja, wie groß ist das dann bitte? Die gute Nachricht: Ja, das gibt es! Die schlechte: Wir haben keine Ahnung, wie groß es ist. Es könnte noch ein bisschen größer sein als das, was wir beobachten können. Tatsächlich könnte es sogar unendlich groß sein. 2 Und Unendlichkeit ist ein Problem. Zumindest für unsere Vorstellungskraft. Ein Beispiel: Die Zahl Pi ist unendlich. Das heißt, irgendwo in Pi steht der komplette Inhalt dieses Buches, Absatz für Absatz, Wort für Wort, in Binärcode geschrieben. Nicht nur das: Zahlenkombinationen, die aus bis zu fünf Ziffern bestehen, sind zu 100 Prozent unter den ersten 100 Millionen Nachkommastellen zu finden. 3 Mein Geburtstag steht an Position 151 313 627 , der meines Sohnes an der 41 449 222 sten Stelle. Unendlich bedeutet: allumfassend. Und wenn das Universum unendlich ist, dann gibt es da draußen unendlich viele Sterne mit unendlich vielen Planeten und unendlich vielen Lebewesen. Unendlich viele dieser Planeten sind auch exakt so wie unsere Erde, bewohnt von unendlich vielen Versionen der Menschheit. Vielleicht kann sich eine davon ja sogar die Unendlichkeit vorstellen, obwohl ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen kann (und ihr euch sicher auch nicht).
Aber wenn alles, was früher auf einem Punkt lag, heute so unglaublich riesige Ausmaße angenommen hat, heißt das auch, dass sich das Universum irgendwann mal ausgedehnt haben muss. Diese sogenannte kosmische (oder kosmologische) Inflation – sprich: die erste Ausdehnung des Universums – soll sehr früh nach der Geburt unseres Weltalls stattgefunden und sich wahnsinnig schnell abgespielt haben. Dabei hat sich unser Kosmos um das 10 26 -Fache vergrößert. 4 Ausgeschrieben ist das eine 1 mit 26 Nullen:
100 000 000 000 000 000 000 000 000
Eine »eingängige« Zahl, auch bekannt als 100 Quadrillionen. Um sich auf das 100 -Quadrillionenfache auszudehnen, brauchte unser Universum allerdings lediglich den Bruchteil einer Sekunde. Genauer gesagt dauerte die kosmische Inflation nur
0 ,000000000000000000000000000000000001
Sekunden. Das sind 35 Nullen nach dem Komma, oder ein Billionstel vom Billionstel vom Billionstel einer Sekunde nach dem Urknall. 5 Das nenne ich mal eine vorbildliche Beschleunigung!
Aber wo genau im Universum fand dieser Urknall eigentlich statt? Wenn alles mal mit einer großen »Explosion« begonnen hat, dann müsste es doch einen Ort geben, an dem wir irgendwelche Überreste finden könnten, irgendwelche Indizien für den Anfang des Kosmos, oder? Der Wunsch, den Ort des Geschehens zu kennen, ist verständlich, ergibt jedoch keinen Sinn. Denn der Urknall fand überall gleichzeitig statt. Leider ruft das Wort »Urknall« sofort Bilder in unserem Kopf hervor, die dem wahren Ereignis nicht ganz gerecht werden. »Urausdehnung« wäre vielleicht die bessere Bezeichnung. 6 Ein Knall ist eine Explosion, und eine Explosion findet an einem Ort im Raum statt und breitet sich dann aus. Da der komplette, heute unvorstellbar riesige Raum, in dem sich sämtliche Materie befindet, zuvor auf einem unendlich kleinen Punkt lag und sich dann plötzlich schnell ausdehnte, gibt es natürlich keine Koordinaten, zu denen man hinfliegen könnte, um ein Schild aufzustellen, auf dem »Schauplatz des Urknalls« steht. Denn der Urknall ist der Anfangspunkt der Entstehung von Materie, Raum und Zeit. Wie gesagt: Er fand überall statt.
Für Wissenschaftlerinnen und Astronomen ist es nach wie vor nicht ganz unkompliziert, diese Zeit kurz nach dem Urknall zu erforschen. Sie müssen Theorien und Thesen aufstellen und diese dann belegen, doch gerade für die Anfangszeit des Universums ist das kaum möglich – und das, obwohl wir Zeitmaschinen haben, die sehr gut funktionieren. Die Zeitmaschinen der modernen Wissenschaft sind die Teleskope. Streng genommen sind sogar unsere Augen kleine Zeitmaschinen. Denn jedes Mal, wenn wir irgendwo hinschauen, schauen wir in die Vergangenheit. Das liegt daran, dass Licht eine Weile braucht, um gewisse Distanzen zurückzulegen. Stellen wir uns einen Baum vor, der einen Meter von uns entfernt steht. Wir können ihn wahrnehmen, weil Licht von der Sonne auf ihn trifft, von seiner Oberfläche reflektiert wird und dann auf unsere Netzhäute trifft. Die Distanz vom Baum zu unserem Auge überbrückt das Licht in 3 ,335641 Nanosekunden. Das heißt: Egal, wohin wir gucken, wir sehen die Dinge immer nur so, wie sie in der Vergangenheit waren, so etwas wie das Hier und Jetzt gibt es aus einem subjektiven physikalischen Blickwinkel heraus überhaupt nicht. Natürlich hat das im Alltag auf der Erde so gut wie keine Bedeutung; dafür müssen wir die Skala vergrößern und unseren Blick zum Himmel richten. Damit wir zum Beispiel den Mond wahrnehmen können, muss das Licht, das von seiner Oberfläche reflektiert wird, eine Distanz von etwa 380 000 Kilometern zurücklegen. Für diese Strecke vom Mond bis ins Auge braucht das Licht etwa 1 ,3 Sekunden. Das heißt, wir sehen den Mond immer nur so, wie er vor etwas mehr als einer Sekunde ausgesehen hat. Die Sonne ist etwa 150 Millionen Kilometer entfernt, eine Distanz, die eine eigene Längenangabe darstellt: die »Astronomische Einheit«, abgekürzt AE . Licht braucht acht Minuten, bis es diese Distanz, also 1 AE , überbrückt hat. Würde die Sonne erlöschen, würden wir das also erst acht Minuten später bemerken. 1
Und so blicken wir jedes Mal, wenn wir die Sterne in unserem Nachthimmel angucken, Tausende, manchmal sogar Millionen oder Milliarden Jahre in die Vergangenheit. Das Licht dieser Sterne hat sich vor Äonen von Jahren auf den Weg gemacht. Manche Photonen begannen ihre Reise zur Erde, als auf unseren Kontinenten die Dinosaurier umherstreiften. Und nun, bei ihrer Ankunft auf der Erde, fallen sie direkt in die Linsen modernster Teleskope.
Deshalb können Astronomen und Physikerinnen mit ihren Instrumenten tief in die Vergangenheit des Weltalls blicken, fast bis zu dessen Geburt. Aber warum nur fast? Egal, wie gut die Teleskope sind, egal, wie weit sie gucken und wie viel Licht sie aufnehmen, irgendwann geraten sie an eine Grenze. Und die besteht darin, dass es in den ersten 300 000 Jahren nach Entstehung des Universums noch kein Licht gab, das man durch Teleskope sehen könnte. Die erste Ursuppe der Elementarteilchen war zu eng und zu heiß, die ersten Atome konnten sich erst lange nach dem Urknall formen, und erst dann gab es das erste Licht.