Der Überflieger mit dem galaktischen Durchblick

Edwin Hubble gilt heute nicht nur als einer der bedeutendsten Köpfe in der Geschichte der Astronomie und Kosmologie, er war auch eine durch und durch faszinierende Persönlichkeit. Alles, was er anfasste, wurde scheinbar, manchmal sogar buchstäblich, zu Gold. Na ja, zumindest zu Goldmedaillen. Mit 17 Jahren wurde er an seiner Highschool sieben Mal Erster im Langstreckenlauf, stellte einen Rekord im Hochsprung auf 11 und war noch dazu ein talentierter Base-, Foot- und Basketballer. 12 Sein Jurastudium absolvierte er in Oxford, wo er nicht nur seinen Abschluss erhielt, sondern auch seinen amerikanischen Akzent ablegte, um sich einen britischen anzueignen, den er für den Rest seines Lebens beibehielt. Ein bisschen peinlich, wie ich finde, zumal Hubble danach wieder die meiste Zeit in den USA lebte, wo ja eigentlich alle wussten, dass er kein Brite war. Seine Karriere als Jurist schmiss er später hin und erwarb in Chicago einen Doktortitel im Bereich der Astronomie. Schließlich wurde er 1919 am Mount-Wilson-Observatorium in Kalifornien angestellt. Das Timing war gut, zwei Jahre zuvor hatte man dort nämlich das größte Teleskop aller Zeiten fertiggestellt, finanziert vom Geschäftsmann John D. Hooker. Am 1 . Juli 1917 war das Herzstück des neuen Geräts am Observatorium eingetroffen: der Spiegel. Er maß über 250 Zentimeter im Durchmesser, war 30 Zentimeter dick und mehr als 4000 Kilogramm schwer – eine ganz schöne Leistung, dieses hochsensible Teil in einem Stück anzuliefern. Der betreffende Lastwagen bewegte sich während des Transports mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von sage und schreibe 1 km/h und wurde von einer Entourage von 200 Männern begleitet (unter anderem, weil ein anonymer Anrufer damit gedroht hatte, den Spiegel während des Transports in die Luft zu sprengen). 13

Nun zu Hubbles großer Entdeckung: Anfang des 20 . Jahrhunderts stritten sich Astronomen über merkwürdige Objekte am Nachthimmel. Es waren matschige, verschwommene Flecken, genannt Spiralnebel, die sich keinem bekannten Objekt dort oben so richtig zuordnen ließen. Der Streit spaltete die Wissenschaft in zwei Lager: Die eine Hälfte behauptete, die Milchstraße sei fast so groß wie das ganze Universum, und die Spiralnebel seien Gaswolken innerhalb unserer Galaxie. Die andere Hälfte glaubte, die Milchstraße sei nur ein winziger Teil des Universums, und bei den Spiralnebeln handele es sich um »Insel-Universen«, weit entfernte Ansammlungen von Sternen. Witzigerweise hatten beide Gruppen recht, wie wir inzwischen wissen: Bei einigen der bekannten Spiralnebel handelt es sich um Gaswolken, andere sind tatsächlich kleine »Insel-Universen«, die wir heute als Galaxien bezeichnen. Wer selbst mal einen solchen Spiralnebel mit bloßem Auge sehen möchte, der kann in einer klaren Herbstnacht in Deutschland seinen Blick auf einen kleinen Fleck zwischen dem Sternbild Kassiopeia, also dem großen W, und dem Sternbild Andromeda richten. Dort müsste er fündig werden. Doch selbst durch die Vergrößerung eines Hobbyteleskops wirkt dieser »Spiralnebel« fürchterlich unspektakulär (als ich ihn das erste Mal sah, hielt ich ihn zunächst für Dreck auf der Linse, weshalb aus mir vermutlich kein guter Astronom geworden wäre).

Genau auf diesen unscheinbaren Fleck richtete Edwin Hubble das neue, riesige Hooker-Teleskop des Mount-Wilson-Observatoriums. Und siehe da, dank der immensen Vergrößerung des 100 Zoll großen Spiegels entdeckte er Sterne innerhalb dieses Nebels. Es war also keine Gaswolke, sondern eher ein eigenes »Insel-Universum«. Nur, wie weit war das alles entfernt? Lag der Spiralnebel innerhalb unserer Milchstraße? Oder außerhalb? Hubble beobachtete den Fleck weiter, bis er eine besondere Art von Sternen darin fand: sogenannte Cepheiden-Sterne.

Cepheiden schwanken in ihrer Helligkeit, ihr Licht pulsiert in einem streng periodischen Rhythmus. Diesen Umstand hatte sich eine Astronomin namens Henrietta Swan Leavitt zunutze gemacht: In den frühen 1900 er-Jahren entwickelte sie ein Verfahren, mit dessen Hilfe man die genaue Entfernung solcher Cepheiden-Sterne von der Erde bestimmen kann. 14 Damals war es Frauen allerdings noch streng verboten, selbst Teleskope zu bedienen. Stattdessen arbeiteten viele von ihnen als Computer, als menschliche Rechenautomaten. Zum Beispiel am Harvard-College-Observatorium katalogisierten sie Sterne, bestimmten deren Helligkeit und stellten mühsame mathematische Berechnungen an, für die die Herren der Astronomie schlichtweg zu faul waren. Bei dieser Arbeit hatte Henrietta Leavitt 1912 die periodischen Leuchtmuster der Cepheiden-Sterne entdeckt. Diese Errungenschaft ist nicht zu unterschätzen, denn ohne sie hätten Edwin Hubble und eine Menge anderer männlicher Astronomen, die wir heute feiern und verehren, ihre Forschungen niemals vorantreiben können.

Unter Anwendung des Verfahrens von Henrietta Leavitt und mithilfe des weltgrößten Teleskops stellte Hubble nun also fest, dass es sich bei dem Spiralnebel im Sternbild Andromeda, unserem matschigen, unscheinbaren Fleck, um eine andere Galaxie handelte: die Andromeda-Galaxie. 15 Seinen ersten Berechnungen zufolge war sie etwa 900000 Lichtjahre entfernt. 16 Auch wenn er damit etwas danebenlag (die wahre Entfernung beträgt etwa 2,5 Millionen Lichtjahre), hatte sich mit dieser Entdeckung die Vorstellung von der Größe des Universums dramatisch verändert. Um das einmal ins Verhältnis zu setzen: Hätte die Wissenschaft vor Hubble gedacht, das Universum wäre so groß wie ein Fußball, dann wüssten wir seit Hubble, dass es mindestens so groß ist wie unser Heimatplanet, die Erde. Wahrscheinlich aber noch viel größer.