Die Vermessung der Erde beginnt (erneut)

Durch die »Entdeckung« Amerikas im 16 . Jahrhundert verdoppelte sich die Größe der Erde auf einen Schlag. Plötzlich gab es neben Europa, Afrika und Asien einen völlig neuen Kontinent, den die europäischen Kolonialmächte ausbeuten konnten. Die Seefahrer merkten, dass viele ihrer Karten falsch und ihre Navigationsmethoden ungeeignet waren, um die Weltmeere verlässlich besegeln zu können. Doch genau das war jetzt gefragt, denn wem es gelang, seine Schiffe zielgenau zu steuern, der hatte gute Chancen, die nächste Weltmacht zu werden. Angetrieben vom Gold, das die europäischen Eroberer aus der Neuen Welt mit nach Hause brachten, setzte man alles daran, die Dimensionen unseres Planeten präzise zu ermitteln.

Den Grundstein dafür legte eine legendäre französische Vermessungsmission. Vermutlich hat kaum je eine Gruppe von Wissenschaftlern für eine einzelne Forschungsfrage einen größeren Aufwand betrieben als die Mitglieder besagter Expedition im Jahr 1735 . Initiator war der französische Staatsmann Jean-Frédéric Phélypeaux, Comte de Maurepas. Er entsandte die Forschergruppe an den Äquator, um dort die exakte Länge eines Breitengrades zu messen und so ein für alle Mal die Form der Erde exakt bestimmen zu können.

Dieses Thema wurde immer noch äußerst kontrovers diskutiert, wobei die Wissenschaftler Europas seinerzeit in zwei Lager gespalten waren: Eine eingefleischte Gruppe (größtenteils französischer Gelehrter) war der Auffassung, die Erde sei geformt wie ein Ei, also spitz an den Polen und etwas flacher am Äquator. Eine Annahme, die auf den Theorien des berühmten Philosophen und Naturwissenschaftlers René Descartes beruhte.

Die Anhänger von Isaac Newtons Principia wiederum, größtenteils Wissenschaftler von jenseits des Ärmelkanals, glaubten, die Erde sei an den Polen abgeflacht und am Äquator ausgebeult, wie eine Orange, die man oben und unten zusammendrückt. Diese Vermutung fußte auf einer von Newtons Berechnungen, die Folgendes besagte: Die Rotation der Erde generiert eine Zentrifugalkraft, welche die Erde an den Polen um 1 /230 abflacht. Der Durchmesser der Erdkugel, so Newton, müsste dementsprechend am Äquator 12824 Kilometer betragen, von Nord- zu Südpol aber nur 12766 Kilometer. 8 Der Unterschied von 58 Kilometern wirkt auf dem Papier geradezu irrelevant klein, doch wenn Newton richtiglag, ließe sich erklären, warum Schiffsnavigatoren ihr Ziel regelmäßig um mehrere Hundert Kilometer verfehlten, wenn sie von der Alten in die Neue Welt segelten. Da ein Breitengrad nach dieser Theorie am Nordpol eine andere Länge hat als am Äquator, führten kleinere Navigationsfehler bei Beginn der Reise in Europa zu dramatischen Folgen bei der Ankunft in Amerika. Schließlich musste man den kompletten Atlantik überqueren. Wenn das Steuerrad nur minimal falsch eingestellt wurde, landete man plötzlich weit weg vom Zielhafen.

Stellt euch vor, ihr nehmt eine dreimonatige Reise auf euch und wandert zu Fuß von Köln nach Hamburg. Bei der Ankunft müsst ihr feststellen, dass ihr einmal falsch abgebogen und stattdessen in Dresden angekommen seid. Heute wäre das kein großes Problem, doch im 18 . Jahrhundert konnten solche Navigationsfehler tödliche Folgen haben. So verließ im Jahr 1740 ein britischer Kommandant namens George Anson seinen englischen Heimathafen, die Küstenstadt Spithead, mit einem riesigen Geschwader an Kriegsschiffen, vollgeladen mit 60 Kanonen, um das Kap Hoorn zu umsegeln. Seine Feuerkraft wurde im Krieg gegen die Spanier sehnsüchtig erwartet: Anson sollte deren Siedlungen in der Neuen Welt, im heutigen Chile und Peru, zerstören. Wochenlang kämpfte er jedoch nicht mit spanischen Kolonialherren, sondern mit starken Winden. Als Anson endlich die Flotte nordwärts richtete in der Hoffnung, das Kap Hoorn umfahren zu haben, musste er feststellen, dass sie wieder in Tierra del Fuego angekommen waren, der Halbinsel ganz im Süden des Kontinents, von der aus sie die Umsegelung des Kaps begonnen hatten. Ein fataler Navigationsfehler hatte dazu geführt, dass sie im Kreis gefahren waren. Die Flotte musste repariert werden, und von den ursprünglich 1900 Soldaten waren zu dem Zeitpunkt nur noch 330 am Leben. Die anderen waren in der Zwischenzeit an Skorbut gestorben. 115 Die exakte Form der Erde zu bestimmen, war also eine Aufgabe von größter militärischer Notwendigkeit.

Abbildung 4.6:
Längen- und Breitengrade

Zurück zur Forschungsexpedition des Comte de Maurepas. Als er seine Leute an den Äquator schickte, existierten bereits gute Daten über die exakte Länge eines Breitengrads auf der Höhe von Paris. Wenn man nun weit weg von dort, zum Beispiel am Äquator, ebenfalls die exakte Länge eines Breitengrads bestimmte und dann die beiden Werte miteinander verglich, sollte es möglich sein, den Streit über die Gestalt der Erde endgültig beizulegen. Kurz erklärt: Breiten- und Längengrade helfen uns dabei, uns auf unserem Planeten zu orientieren. Der erste Längengrad, genannt Nullmeridian, also der Längengrad mit dem Wert null, »beginnt« am Nordpol, durchquert irgendwann die englische Stadt Greenwich und verläuft dann weiter über Frankreich, Spanien und Afrika bis zum Südpol. Um anzugeben, ob wir uns östlich oder westlich davon befinden, stehen uns 180 Längengrade nach Osten und 180 Längengrade nach Westen zur Verfügung. Man spricht dann von östlicher beziehungsweise westlicher Länge.

Ein Längengrad allein reicht aber nicht aus, um die genauen Koordinaten eines Ortes zu bestimmen. Dazu brauchen wir noch einen Breitengrad. Breitengrade verlaufen horizontal über unseren Planeten, wie Querstreifen auf einem T-Shirt. Sie geben an, ob wir uns nördlich oder südlich des Äquators befinden. Der »nullte« Breitengrad ist also eine Linie, die sich von Westen nach Osten (oder von Osten nach Westen, das ist Jacke wie Hose), über den Planeten zieht und die Erdkugel in Nord- und Südhalbkugel teilt. Diese Linie heißt Äquator und verläuft durch Länder wie Ecuador, Brasilien, den Kongo, Uganda oder Indonesien. Um anzugeben, wie weit nördlich wir uns vom Äquator befinden, gibt es 90 Breitengrade bis zum Nordpol und 90 Breitengrade bis zum Südpol. Richtung Norden zählt man 1 , 2 , 3  … bis 90 . Richtung Süden geht es von -1 , -2 , -3  … bis -90 . Wenn ich nun ausdrücken möchte, dass ich mich in Berlin befinde, dann gebe ich zuerst meinen Breitengrad, dann meinen Längengrad an, also: 52 ° nördlicher Breite, 13 ° östlicher Länge.

Abbildung 4.7:
Triangulation in der Theorie

Und da die Erde anscheinend eben keine perfekte Kugel ist, also nicht alle Breiten- und Längengrade die exakt gleiche Länge haben, wollte die französische geodätische Mission herausfinden, wo die Erde sich ausbeult: an den Polen oder am Äquator. Mit dieser Information würden sich neue, korrigierte Karten anfertigen lassen, mit denen das Navigieren auf hoher See fehlerfrei möglich wäre.

Die französischen Forscher, die in Begleitung von Botanikern, Ärzten, Soldaten und Sklaven nach Peru entsandt wurden, um diesen Auftrag zu erfüllen, waren statt der ursprünglich geplanten drei insgesamt zehn Jahre unterwegs. Warum, werden wir gleich sehen.

Für ihre Berechnungen vor Ort nutzten sie das geometrische Verfahren der Triangulation. Und das geht so: Man stelle sich ein Dreieck vor (siehe Abbildung 4 .7 ). Wenn wir die Länge einer Seite (AB ) bestimmen können und zwei Winkelmaße (α und β) kennen, können wir problemlos die Länge der anderen beiden Dreiecksseiten sowie den Wert des fehlenden Winkels berechnen.

Abbildung 4.8:
Triangulation in der Praxis

In der Praxis bedeutet das zum Beispiel Folgendes: Angenommen, zwei Menschen betrachten den Mond zur exakt selben Uhrzeit, eine Person in Berlin, die andere in München. Wir stellen zunächst fest, in welchem Winkel der Mond in diesem Moment an den beiden Beobachtungspositionen am Himmel steht, und bestimmen danach die Entfernung zwischen den beiden Städten. Sobald wir diese beiden Werte kennen, können wir ausrechnen, wie weit Erde und Mond voneinander entfernt sind, ohne jemals den Boden unseres Heimatplaneten verlassen zu haben. Dreiecke sind doch cooler, als man denkt! 9 So ähnlich funktioniert übrigens auch das GPS -System in unseren Smartphones. Es verbindet sich mit mehreren Satelliten, die anhand ihrer Entfernung voneinander und des Winkelmaßes berechnen, wo genau auf der Erde wir uns befinden.

Das Forschungsteam in Peru beschäftigte sich aber nicht mit Abständen im Weltall, sondern mit großen Distanzen auf dem Erdboden, was die ganze Nummer nicht gerade einfacher machte. Denn um in der Praxis lange Strecken wirklich präzise messen zu können, reicht ein einzelnes Dreieck nicht aus, man braucht eine ganze Kette von aneinandergereihten Dreiecken (Abbildung 4 .8 ). Als Grundlage der Messungen konstruiert man zunächst eine Grundlinie (A–B) und bestimmt deren Länge.

Die Herausforderung besteht nun darin, eine möglichst lange Grundlinie festzulegen, die, damit die Messung präzise ausgeführt werden kann, auf einer möglichst ebenen Fläche auf dem Erdboden liegt. Hat man die Länge dieser Grundlinie bestimmt, so kann man von dort eine markante Stelle in der Umgebung suchen (C), zum Beispiel eine Bergspitze, einen Baum oder einen Kirchturm. Mithilfe eines Quadranten – also eines astronomischen Werkzeugs, mit dem man Winkel von bis zu 90 Grad messen kann –, bestimmt man anschließend den exakten Winkel zu C, ausgehend von A und B. So kann man nun die Länge der beiden unbekannten Dreiecksseiten bestimmen. Damit ist das erste Dreieck erfolgreich abgeschlossen, und wir können uns weitere Punkte in der Umgebung suchen, um neue Dreiecke zu konstruieren. Genau dieses Verfahren wollten die französischen Forscher nutzen, um ein imaginiertes Netz von Dutzenden Dreiecken über das Gebirge der Anden zu spannen und damit von Quito bis Cuenca eine Strecke von über 320 Kilometern, also etwa drei Breitengraden, abzudecken.

Ihre Arbeit wurde aber immer wieder von extremen Wetterphänomenen, ungünstigen geografischen Gegebenheiten oder dem verzögerten Eintreffen von Instrumenten durchkreuzt, sodass zwei Jahre vergingen, ohne dass sie auch nur eine einzige brauchbare Messung anfertigten. Während ihrer Reise bestiegen sie Berge und Vulkane von über 4500 Metern Höhe und waren dem Himmel damit näher als jeder europäische Forscher zuvor. Ihre Mission stellte sich als nicht enden wollendes Abenteuer heraus. So litten die Männer regelmäßig an der Höhenkrankheit, die durch den sinkenden Luftdruck auf extremen Höhen ausgelöst wird, was eine Verengung der Blutgefäße nach sich zieht und die Wissenschaftler reihum in Ohnmacht fallen ließ. Nur die indigenen Helfer, die sie zusätzlich zu ihren Sklaven engagiert hatten, damit sie ihnen die vielen schweren Koffer voller kostbarer Instrumente die Berge hochschleppten, wussten, wie man mit der Krankheit umzugehen hatte. Ihre Vorfahren, die Inkas, lebten schließlich bereits seit Tausenden von Jahren in den Bergen. So kauten die Helfer der Mission die Blätter der heimischen Matepflanze und stiegen nachts den Berg wieder hinunter, um im Tal zu schlafen und so den lebensgefährlichen Symptomen der Höhenkrankheit vorzubeugen. Ihre Auftraggeber hingegen bestanden darauf, hoch oben in den Bergen zu schlafen, bei ihren Gerätschaften in den Zelten. Die französischen Wissenschaftler erwähnten in ihren Tagebüchern so gut wie nie, dass sie ihre Mission ohne die Sklaven und indigenen Hilfskräfte überhaupt nicht hätten bewältigen können, sondern bezeichneten sie als Wilde, die angeblich nicht einmal eigenständig denken konnten. (Welche Ironie, wenn man bedenkt, dass die Wissenschaftler, mit der Höhenkrankheit kämpfend, selbst oft nicht mehr zu klarem Denken imstande waren.)

Es dauerte weitere zwei Jahre, bis sie im September 1739 erfolgreich alle Dreiecke gemessen und ausgerechnet hatten. Am Ende der Strecke, in der Stadt Cuenca, angekommen, wurde nun noch mal eine abschließende Grundlinie zur Überprüfung ihrer Messdaten gelegt. Als auch das geschafft war, mussten sie »nur noch« die exakten Breitengrade der Orte bestimmen, an denen sie ihre Expedition begonnen und beendet hatten, um endlich die eine Zahl zu erhalten, für die sie so viele Jahre ihres Lebens investiert hatten: die Länge eines Breitengrads am Äquator. Hierfür war eine Reihe astronomischer Beobachtungen nötig, die sie während ihrer Forschungsreise gemacht hatten. Doch nun stellten sie mit Entsetzen fest, dass viele der astronomischen Daten, die sie im Verlauf der letzten zwei Jahre genommen hatten, unbrauchbar waren, weil ihre Geräte ungenau gemessen hatten. Sie brauchten weitere drei Jahre, um diese Daten erneut aufzunehmen und zu überprüfen. Als sie dann endlich in der Lage waren, die Länge eines Breitengrads am Äquator zu bestimmen, errechneten sie einen Wert von 110 ,6 Kilometern, 116 was nur 50 Meter vom heute akzeptierten Wert abweicht.

Eine solche Präzision ist für eine Messung dieses Schwierigkeitsgrads selbst nach heutigen Standards absolut bemerkenswert. Nur leider hatten die Wissenschaftler dafür so lange gebraucht, dass ihr Auftraggeber, der Comte de Maurepas, ungeduldig geworden war und eine zweite Mission mit derselben Fragestellung an den Polarkreis geschickt hatte. Diese zweite Forschergruppe brauchte lediglich ein Jahr für ihre Messungen und kam zu folgendem Ergebnis: Am Polarkreis betrage die Länge eines Breitengrads etwa 112 Kilometer, 117 in Paris etwa 111 ,2 Kilometer. Damit erfüllten sie ihren Auftrag, lange bevor die Äquatorexpedition auch nur ans Heimkehren denken konnte.

Newtons Theorie war damit bestätigt, was viele der französischen Wissenschaftler enttäuschte, da sie gehofft hatten, ihr Landsmann Descartes habe richtiggelegen.

Dennoch war auch die Arbeit der Mission am Äquator alles andere als umsonst gewesen. Ihre Messdaten bestätigten die Theorie von Newton erneut, und ihre astronomischen Funde und etliche andere kleinere Projekte, die sie in Peru durchgeführt hatten, sollten noch viele Jahre den wissenschaftlichen Diskurs prägen. So begründeten sie den Meter als internationales Standardmaß für Längenangaben und waren die ersten Europäer, die Kautschuk entdeckten. Und nicht zuletzt illustriert diese zehn Jahre dauernde Expedition auf beeindruckende Weise, welche Leidenschaft Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen oft aufbringen müssen, um ihre Ziele auch unter widrigsten Umständen weiterzuverfolgen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse beruhen eben oft nicht nur auf der Arbeit einzelner Supergenies, die im stillen Kämmerlein forschen, sondern auf der Kooperation vieler schlauer Köpfe und mutiger Abenteurer.

Beide Missionen des Comte de Maurepas hatten also Isaac Newtons Theorie bestätigt, dass die Erde an den Polen abgeflacht und am Äquator ausgebeult ist. Sie waren weit gereist und hatten viele gefährliche Situationen überstanden, und das alles, um die Theorie eines Mannes zu überprüfen, der zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal das Meer gesehen hatte, weil er immer so tief in seinen Studien und Gedankenexperimenten steckte, dass an einen Ausflug an den Strand nicht zu denken war.

An diesem Beispiel zeigt sich sehr schön, warum das Zeitalter der Aufklärung, das im 18 . Jahrhundert richtig Fahrt aufnahm, so erfolgreich die Welt veränderte und den Wissenschaften hohe Anerkennung in Gesellschaft und Politik verschaffte.