Kapitel 5

Happy Bearthday

Wann hat die Erde Geburtstag? Gibt es überhaupt diesen einen Moment, vor dem unser Planet noch nicht existierte, und dann, nur einen Wimpernschlag später, war da plötzlich ein fertiger runder Brocken mit Bergen, Tälern, Meeren und Lebewesen? Wenn man dem irischen Theologen James Ussher Glauben schenkt, gab es so einen Tag. Im Jahre 1650 veröffentlichte er eine Abhandlung, in der er kundtat, dass er das Alte Testament und andere religiöse Texte aufs Intensivste studiert habe und das Alter der Erde nun genau bestimmen könne. Sein Fazit: Unsere Erde erblickte das Licht der Welt am Sonntag, dem 23 . Oktober 4004 vor Christi Geburt. 121 John Lightfoot, Vizekanzler der Universität zu Cambridge, kam auf ein ganz ähnliches Ergebnis, fügte aber noch hinzu, dass die Schöpfung exakt um Uhr morgens passiert sei. 122 Gott muss ein Frühaufsteher gewesen sein!

Die Berechnungen von James Ussher wurden in kirchlichen Kreisen sofort gefeiert und für allgemeingültig erklärt. Dazu muss man wissen, dass die Idee, unser Planet sei irgendwann aus dem Nichts entstanden oder »erschaffen« worden, tatsächlich ein revolutionärer Gedanke des Christentums war. Bis dato hatten die meisten Schulen – allen voran die alten Griechen – geglaubt, die Erde sowie sämtliche Materie seien unendlich alt. 123 Als Anhaltspunkt hatte die zyklische Wiederkehr der Jahreszeiten gegolten: Bäume verlieren im Herbst ihre Blätter, Tiere verziehen sich im Winter in ihre Höhlen, im Frühling erblüht das Leben, und im Sommer scheint in Hamburg maximal an drei Tagen die Sonne, Jahr für Jahr, ohne Ausnahme. Und außerdem, so argumentierte Aristoteles, könne so etwas wie »die Zeit« gar keinen Anfang und kein Ende haben. Das würde ja sonst bedeuten, dass es vor der Zeit eine Zeit gab, in der es keine Zeit gab. Wenn euch jetzt schwindelig geworden ist, keine Sorge. Das ist ein Paradoxon, auf das auch die moderne Wissenschaft keine Antwort weiß, was sich immer dann zeigt, wenn Kinder die beliebte Frage stellen: »Was war vor dem Urknall?«

Nur ein unendliches Universum kann das beantworten, zum Beispiel mit der Big Crunch -Hypothese: Vielleicht hört das Universum ja irgendwann auf, sich auszudehnen, und fällt dann wieder in sich zusammen. Nachdem beim Big Crunch alles in einer neuerlichen Singularität geendet hat, könnte der nächste Urknall passieren. Am Ende steht womöglich ein neuer Anfang. Was war vor dem Urknall? Vielleicht unendlich viele Urknalle! Witzigerweise war das auch ein weitverbreiteter Glaube während der Han-Dynastie: Das Universum wird alle 23639040 Jahre zerstört und anschließend neugeboren. 124 Im Moment sieht es aber nicht so aus, als wäre die Big Crunch -Hypothese haltbar, alle Beobachtungsdaten sprechen dagegen. 125 Nur wussten das die alten Griechen natürlich nicht, da sie weder vom Urknall noch vom »großen Zusammenkrachen« jemals gehört hatten. So gründeten die meisten griechischen Schulen ihre Philosophie wie gesagt auf die Überzeugung des großen Aristoteles, dass die Erde unendlich alt sei. Als das Christentum sich in Europa ausbreitete, wurden aber immer mehr Stimmen laut, die empört fragten, wie denn ein unendliches Universum und damit eine unendliche Erde mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel vereinbar sein solle. Und so begann ein paar Hundert Jahre nach Christi Geburt ein munteres Drauflosraten, wann unser Planet Geburtstag hat.

Der gute Johannes Kepler, der clever genug war, das von der Kirche so geliebte geozentrische Weltbild zu zerschlagen, errechnete den Geburtszeitpunkt unseres Universums auf den 27 . April 4977 v.u.Z. 126 (Interessanterweise war der 27 . April der Hochzeitstag von Kepler und seiner ersten Frau Barbara Müller. Zufälle gibt’s!) Selbst Isaac Newton, ein Bibelfanatiker vor dem Herrn, glaubte, die Erde sei nicht älter als 6000 Jahre, 127 was er, ganz ähnlich wie James Ussher, aus Zeitangaben berechnete, die er im Alten Testament gefunden hatte. Bis heute sind die Anhänger und Anhängerinnen der Glaubensbewegung des Kreationismus fest davon überzeugt, die Erde sei gut sechs Jahrtausende alt.

Im 18 . Jahrhundert machte in Wissenschaftskreisen jedoch langsam die Runde, dass man, um Gewissheit zu erlangen, woanders nachschauen muss als in der Bibel. Nur wo? Gute Frage. Der Erste, der sich, leider wenig erfolgreich, darum bemühte, das Alter der Erde mit naturwissenschaftlichen Methoden zu bestimmen, war der französische Biologe Georges-Louis Leclerc de Buffon. Buffon hatte sich mit seiner vielbändigen naturkundlichen Abhandlung Histoire naturelle hohes Ansehen im Kreis seiner Fachkollegen erworben. 1775 , im Alter von 71 Jahren, veröffentlichte er einen kleinen Band mit dem Titel Des époques de la nature. Es war der Versuch, eine ausführliche Geschichte des Planeten Erde zu schreiben.

Mit einem einfachen Experiment bestimmte Buffon dabei auch dessen Alter (Achtung, bitte nicht zu Hause nachmachen!): Er erhitzte in einem Ofen Kugeln, die in etwa aus denselben Materialien zusammengesetzt waren wie unsere Erde. Glaubte er zumindest. Hauptsächlich bestanden sie aus Eisen. Die Kugeln wurden bis zur Glut erhitzt, dann stoppte Buffon die Zeit, die es brauchte, bis sie wieder auf Zimmertemperatur abgekühlt waren. So in etwa, schlussfolgerte er, musste es der Erde ergangen sein, als sie bei ihrer Entstehung wie ein flüssiger Eisenball aus der Sonne gezogen wurde.

Und wie überprüfte er die Temperatur der Kugeln? Der Schmelzpunkt von Eisen liegt bei 1538 ° C, dafür hatte er doch sicherlich ein Spezialthermometer, oder? Na ja, nicht ganz. Er überprüfte die Temperatur, indem er die Kugeln mit der bloßen Hand anfasste. 128 Mit der einen Hand berührte er die abkühlende Kugel, mit der anderen eine nicht erhitzte Kugel auf Zimmertemperatur. Auf die Art wollte er herausfinden, ob sich beide gleich anfühlten. Zwar gab es schon zu Buffons Zeiten Thermometer, doch für die Durchführung dieses Experiments vertraute der Naturforscher auf seine Sinne, denn sie »sind verlässlicher als Instrumente, wenn es darum geht zu beurteilen, welche Dinge absolut identisch oder nahezu gleich sind«. 129 Wir sehen, Wissenschaft konnte manchmal schrecklich unwissenschaftlich sein.

Wenig überraschend, verbrannte sich Buffon an seinem Experiment die Finger – metaphorisch, nicht buchstäblich, schließlich fasste er die Kugeln nicht sofort an, wenn sie aus dem Ofen kamen. In der Folge schätzte er das Alter unseres Heimatplaneten auf circa 74000 Jahre, was den wahren Wert um mehr als das 60000 -Fache verfehlte. Sein Irrtum: Er nahm an, dass die Eisenkugeln von der Oberfläche bis zum innersten Kern überall dieselbe Temperatur hatten. Was natürlich Unsinn ist. Außen kühlten die Kugeln ja viel schneller ab als in ihrem Kern. Und mit welcher Größe der Erde er gerechnet hatte, gab er in seinen Aufzeichnungen leider auch nicht an.

Zwar lag er mit seiner Schätzung gewaltig daneben, trotzdem zog er den Zorn der katholischen Kirche auf sich. Eine Erde mit derart hohem Alter widersprach den heiligen Texten, und das war ein No-Go! Also drohte man Buffon mit dem Ausschluss aus der Kirche, was ihn dazu brachte, rasch eine Entschuldigung zu veröffentlichen. 130 Privat wich er aber nie vom Ergebnis seines Experiments ab, und er hielt es sogar für möglich, dass die Erde noch viel älter sein könnte, vielleicht eine Million Jahre.

Das kirchliche Weltbild war mal wieder ins Wanken gebracht worden. Doch bis man ihm schlussendlich den Boden unter den Füßen wegziehen konnte, mussten noch einige Jahrhunderte ins Land gehen und einige Wissenschaftsdisziplinen erfunden werden. Allen voran die Geologie.