Als Mary Anning um das Jahr 1811 in der Nähe der Klippen der südenglischen Küstenstadt Lyme Regis ihren ersten großen Fossilfund machte, herrschte in der Welt der Wissenschaft noch die naive Ansicht vor, Tiere könnten gar nicht aussterben. Entdeckte man damals das Skelett einer bis dahin unbekannten Spezies, ging man davon aus, dass es irgendwo noch lebende Exemplare gab. So war der dritte Präsident der USA , Thomas Jefferson, besessen von der Idee, in Nordamerika würden noch Mammuts umherstreifen. 138 Doch zu Beginn des 19 . Jahrhunderts stieg die Zahl der angeblich nur noch nicht entdeckten Lebewesen derart rapide an, dass die Erklärung langsam unplausibel wurde.
Die britische Fossiliensammlerin Mary Anning trug erheblich dazu bei, diese These zu widerlegen, und sorgte mit dafür, dass eine neue Wissenschaftsdisziplin ins Leben gerufen werden musste: die Paläontologie, also die Wissenschaft von den Lebewesen vergangener Erdzeitalter. Mary Anning wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf; ihr Vater, ein gelernter Tischler, hielt die Familie mit dem Verkauf von vorzeitlichen Fossilien über Wasser. Dafür war ihr englischer Heimatort Lyme Regis eine perfekte Fundgrube: Heute wird der dortige Küstenabschnitt auch Jurassic Coast genannt, und die UNESCO hat ihn wegen der vielen Saurierfunde ins Weltnaturerbe aufgenommen. Da die dortigen Klippen vorwiegend aus Sand-, Ton- und Kalkstein bestehen, führten regelmäßige Erdrutsche dazu, dass immer wieder urzeitliche Überreste freigelegt wurden. Dies machte die Suche aber auch zu einem gefährlichen Unterfangen. Marys Vater stürzte eines Nachts unglücklich von einer Klippe, erkrankte infolge des Sturzes und starb wenig später.
Mary war damals gerade elf Jahre alt, und fortan musste sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Joseph für das Überleben der Familie sorgen. Den Naturgewalten trotzend, suchten die drei weiterhin Fossilien, um sie an Touristen zu verkaufen. Ihren bis dato größten Coup landeten sie ein Jahr nach dem Tod des Vaters, als Joseph einen 120 Zentimeter langen Schädel entdeckte.
Ein gewaltiger Fund, der die Familie in Staunen versetzte. Was das wohl für ein Tier gewesen war? Vielleicht ein großer Fisch? Oder doch ein Krokodil? Die Entdeckung ihres Bruders ließ die junge Mary nicht mehr los. Sie war sicher, dass der Rest des Fossils irgendwo noch zu finden sein musste. Also kehrte sie Tag für Tag zu den Klippen zurück, um zu überprüfen, ob weitere Skelettteile durch Erosion freigelegt worden waren. Und tatsächlich, knapp ein Jahr später entdeckte sie eine Reihe monströser Wirbelknochen. Gemeinsam mit einigen helfenden Händen aus dem Dorf begann Mary zu graben, und was sie freilegten, war schlicht unglaublich: ein komplettes, über fünf Meter langes Rückgrat!
Was Mary Anning geborgen hatte, war das Skelett eines Ichthyosauriers, 139 umgangssprachlich auch Fischsaurier genannt. Wie wir heute wissen, durchstreiften diese Reptilien die Weltmeere bis vor ca. 90 Millionen Jahren. Die zwölfjährige Mary war die erste Person, die ein Exemplar dieser Spezies fand. Später entdeckte sie tatsächlich noch zwei weitere Saurierskelette: 1823 das eines Plesiosauriers, eines riesigen Ungeheuers der Urzeitmeere, das bis zu 15 Meter lang werden konnte. Und nur fünf Jahre später das Fossil eines Ptero- oder Flugsauriers. Was für eine Ausbeute!
Natürlich war Mary Anning nicht der erste Mensch, der jemals Saurierüberreste gefunden hatte. Schon vor 10000 Jahren trugen Steinzeitmenschen in der Wüste Gobi Dinosaurier-Eischalen als Halsschmuck. 140 In China glaubte man, die gigantischen Knochen der Urzeitechsen gehörten sagenumwobenen riesigen Drachen, die übers Land geflogen seien. Nicht selten wurden die Knochen auch zu Medizin verarbeitet, da man an ihre heilenden Kräfte glaubte. 141 In Österreich, im Eingangsbereich des Stephansdoms in Wien, hängte man 1443 einen 86 Zentimeter langen Knochen über dem Eingangstor auf, von dem man annahm, er habe mal einem Riesen gehört. 142 Heute wissen wir, dass es sich um den Oberschenkelknochen eines Mammuts handelte. Dinosaurierknochen und andere Fossilien tauchten also nicht urplötzlich im 19 . Jahrhundert auf, sie wurden schon seit Langem von Menschen gefunden. Doch erst Anfang des 19 . Jahrhunderts waren ein paar kluge Köpfe endlich in der Lage, die Vergangenheit dieser Riesenechsen zu verstehen.
Mary Anning verkaufte ihren ersten großen Fund für £ 23 (heute etwa 2300 €) an einen wohlhabenden Lord aus der Umgebung. Von dort aus gelangte er über mehrere Sammler und Museen schließlich in die Hände von Wissenschaftlern und wurde 1821 , zehn Jahre nach seiner Entdeckung, von der Geological Society of London als Reptil identifiziert.
Streng genommen hat Mary Anning eigentlich keinen einzigen Dinosaurier entdeckt, denn diese Bezeichnung verdienen nur die Landwirbeltiere unter den Riesenechsen. Der Erste, der öffentlich das Fossil eines Dinos vorstellte, war der damalige Präsident der Geological Society , ein gewisser William Buckland. Dieser liebenswerte Exzentriker verkörperte beispielhaft den Widerspruch zwischen christlichem Weltbild und paläontologischen Erkenntnissen. Als studierter Theologe wünschte er sich nichts mehr, als mithilfe der Fossilien, die er fand, die biblische Sintflut wissenschaftlich belegen zu können. Eine unmögliche Aufgabe, da die Erzählung davon mit jedem weiteren Fund an Glaubwürdigkeit verlor. Denn wenn die Erde wirklich erst 6000 Jahre alt gewesen wäre, wie James Ussher und Konsorten postulierten, warum wurde dann in der Bibel nicht von Dinosauriern, Mammuts und Riesenfaultieren berichtet? Die einzige Erklärung: Die Erde musste viel älter sein, als es das Alte Testament nahelegte. Diese Einsicht führte dazu, dass Buckland später – im Angesicht der Fakten – seine Meinung änderte. Hut ab!
Aber warum habe ich ihn als Exzentriker bezeichnet? Nun, wo soll ich anfangen. Buckland hatte sich zum Beispiel vorgenommen, einmal im Leben ein Exemplar jeder Spezies auf Gottes grüner Erde persönlich zu verspeisen. Wer bei Familie Buckland zum Abendessen eingeladen war, der konnte sich auf Panther, Rhinozeros, Elefantenrüssel oder Mäusetoast freuen. 143 Für die Neugierigen: Am ekligsten schmeckte laut Bucklands eigener Aussage Maulwurf. 144 Unvergesslich war auch seine Kollektion ungewöhnlicher Haustiere. So hielt er neben Schakalen, Schlangen und Affen einen zahmen Bären, der auf den Namen Tiglat-Pileser hörte, benannt nach einem assyrischen König. Doch in die Geschichtsbücher sollte William Buckland für eine andere Leistung eingehen. Er war der erste Mensch, der einen Dinosaurier der Gattung Megalosaurus entdeckte und korrekt als neue Art identifizierte, die mittlerweile aber ausgestorben sei. Da war es, das schlimme Wort mit »a«: ausgestorben. Buckland schlug hier einen Pfad ein, den ihm der Franzose Georges Cuvier geebnet hatte.
Dass Tiere aussterben können, schien den meisten gläubigen Christen lange Zeit unvorstellbar. Gott habe die Welt perfekt erschaffen, da sei kein Platz für Verschwendung. Doch der Anatom Georges Cuvier stellte im Jahr 1798 fest, dass Tiere sehr wohl aussterben können. Als in der Nähe von Paris »Elefantenknochen« gefunden wurden, setzte man ihn auf die Sache an. Was hatte ein Elefant in Frankreich verloren? Cuvier verglich die Knochen mit denen von Elefanten aus Afrika und Indien. Dabei fiel ihm auf, dass sie sich dramatisch voneinander unterschieden, so dramatisch, dass es sich hier um eine komplett andere Spezies handeln musste: das Mammut. 145 Auf einmal existierte da eine »Welt vor der unseren«, 146 in der riesige Mammuts und auch Bucklands Megalosaurus, ein neun Meter langer Fleischfresser, das Antlitz unseres Planeten prägten. Das Verschwinden dieser Arten erklärte Cuvier mit einer Abfolge schrecklicher Naturkatastrophen, die die Erde im Laufe der Jahrtausende heimgesucht und dazu geführt hätten, dass unzählige Tier- und Pflanzenarten ausgestorben seien. Dieser von Cuvier begründete Erklärungsansatz heißt Katastrophismus und gilt als eine der bedeutendsten geologischen Theorien des 19 . Jahrhunderts.
Warum fand man also Fischskelette auf Bergspitzen und Eisbärfossilien in den Tropen? Weil die Erdoberfläche wieder und wieder durch Katastrophen regelrecht umgekrempelt worden sei, so die Theorie. Damit ließen sich auch die verschiedenen Sedimentschichten erklären. Mal habe das Wasser der Meere bis über die Berggipfel gestanden, mal hätten heftige Erdbeben für die Entstehung neuer Landstriche gesorgt, und das alles innerhalb kürzester Zeit! Das Praktische dabei: Die biblische Timeline blieb unangetastet. Auch die Sintflut war noch im Rennen! Obwohl Cuvier mit seinem Katastrophismus einen Teil der Wahrheit entdeckt hatte, war er dennoch mit einem Bein auf dem Holzweg: Er glaubte nämlich an die Konstanz der Arten, also daran, dass im Laufe der Zeit keine neuen Spezies entstehen, sondern dass alle Tiere und Pflanzen von vornherein vorhanden waren. Wobei zu einem bestimmten Zeitpunkt nur diejenigen übrig sind, die es geschafft haben, die großen Naturkatastrophen zu überleben. Eine mögliche Evolution der Arten lehnte er vehement ab. Cuvier starb 1832 , kurz nachdem ein gewisser Charles Darwin auf Weltreise gegangen war.