Wenn Genies sich irren

Darwins Evolutionstheorie behauptete nicht nur, dass Mensch und Affe einen gemeinsamen Vorfahren teilten, nein, sie setzte auch voraus, dass das wahre Alter der Erde nicht ansatzweise in der Nähe der bislang akzeptierten Werte lag. Weder die 6000 Jahre der Kirchenfanatiker noch die 74000 Jahre des Georges-Louis Leclerc de Buffon reichten für die Prozesse aus, die Darwins Beobachtungen zugrunde lagen. Damit sich Berge aufgrund von Erdbeben bis in die Wolken strecken konnten und Vulkaninseln genug Zeit hatten, sich wie Maulwurfshügel aus dem Meer zu erheben, um anschließend wieder darin zu versinken und einen Fußabdruck aus Korallenriffen zu hinterlassen, brauchte der Engländer einen Planeten, der viele Millionen, ach was, sogar mehrere Milliarden Jahre alt war! Auch damit das Tierreich diese atemberaubende Artenvielfalt ausbilden konnte, waren Äonen an Trial-and-Error, an Werden und Vergehen notwendig.

Doch damit befand sich Darwin in einer Zwickmühle. Er hatte zwar jede Menge Anhaltspunkte gesammelt, die seine These untermauerten, aber es fehlte ihm an wissenschaftlicher Methodik, um das Alter der Erde definitiv dingfest machen zu können. Als dann der erste Mensch eine »verlässliche« Methode zur Bestimmung des Alters unseres Heimatplaneten entwickelte, sollte das dramatische Konsequenzen für Darwins Theorie haben: Das Ergebnis reichte nicht aus, seine Evolution hätte nicht genug Zeit gehabt, um sich zu entfalten. Doch wer war der Mann, der das Alter der Erde zu errechnen versuchte? Und wie machte er das?

 

Bühne frei für William Thomson, besser bekannt unter seinem späteren Adelsnamen: Lord Kelvin. Dieser clevere Kopf kam 1824 zur Welt, er war also gerade einmal sechs Jahre alt, als Darwin seine Weltumseglung begann. Mit zehn wurde er an der Universität zu Glasgow angenommen, mit 16 veröffentlichte er seinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz, und mit 22 wurde er einstimmig zum neuen Professor für Naturphilosophie – später Physik – gewählt. 166 (Ich weiß, wenn man das liest, fühlt man sich, als würde man selbst überhaupt nichts auf die Reihe kriegen.) Kelvin gilt als der vielleicht schlaueste Mensch des 19 . Jahrhunderts, er schrieb unzählige wissenschaftliche Abhandlungen, entwickelte die Temperaturskala, die wir heute noch »Kelvin« nennen, und prägte den Ersten und den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Die Lehre vom Wärme- und Energietransfer nutzte er auch, um das Alter der Erde zu berechnen – eines der wenigen wissenschaftlichen Unterfangen, die unserem guten Lord Kelvin leider nicht glückten.

Beim ersten Anlauf ging er von einer ganz ähnlichen Grundannahme aus wie Buffon, der mit den glühenden Eisenkugeln vom Anfang des Kapitels. Kelvin überlegte, wie lange die Erde hätte abkühlen müssen, wenn sie ursprünglich in einem geschmolzenen, dickflüssigen Zustand gewesen wäre. Im Gegensatz zu Buffon wusste er jedoch, dass die Außentemperatur eines heißen Körpers nicht seiner Kerntemperatur entspricht. Nur wenn man bestimmt, wie schnell die Abkühlung von außen nach innen fortschreitet, hat man eine Chance, den Geburtszeitpunkt der Erde zu berechnen.

Kelvin ging vor wie ein Rechtsmediziner, der bei einem Mordfall die Todesstunde feststellen muss. Eine mögliche Methode in der Gerichtsmedizin besteht darin, die Körperkerntemperatur der Leiche zu messen. Unsere Körpertemperatur in lebendigem Zustand liegt normalerweise bei 37 ° C, die Raumtemperatur bei etwa 21 ° C. Als Faustregel gilt, dass ein lebloser Körper etwa 1 ° C pro Stunde abkühlt, es also etwa 16 Stunden dauert, bis ein Temperaturausgleich stattgefunden hat. Dieses Verfahren funktioniert aber nur, wenn man die Leiche kurz nach der Tat entdeckt und direkt untersucht.

So ähnlich arbeitete sich auch Lord Kelvin zum Alter unserer Erde vor. Mit seinem Verständnis vom Wärmetransfer innerhalb eines Körpers legte er eine Kerntemperatur der Erde fest, anhand derer er zurückrechnete, dass sich unser Planet vor etwa 100 , maximal aber 200 Millionen Jahren geformt haben musste. 167 Ein riesiger Sprung von Buffons 74000 Jahren, trotzdem ein desaströses Ergebnis für Darwins Evolutionstheorie. 200 Millionen Jahre waren immer noch zu wenig; in so kurzer Zeit hätten sich die Prozesse der Evolutionstheorie nicht entfalten können. Doch es wurde noch schlimmer: Mit jeder neuen Berechnung, die Kelvin im Laufe der Jahre anstellte, erschien ihm die Erde jünger, bis er bei seiner finalen Schätzung ankam: Zwischen 20 und 40 Millionen Jahre existierte unser Planet angeblich.

Nun entstand ein Kampf um das Alter der Erde, der nicht länger zwischen Kirche und Wissenschaft, sondern zwischen Physikern und Geologen ausgetragen wurde. Kelvin erhielt Unterstützung von dem deutschen Physiker Hermann von Helmholtz, der berechnete, wie lange es dauern würde, bis eine Gaswolke im Weltall unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammenfällt und zur Größe der Sonne heranwächst. Mit diesen Berechnungen legte er ein maximales Alter für unsere Sonne und damit auch für unsere Erde fest: 100 Millionen Jahre. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wurde diese Zahl von verschiedenen Physikern mit verschiedenen Methoden in etwa bestätigt. Irgendetwas zwischen 80 und 100 Millionen Jahren schien die Obergrenze für das Alter unserer Sonne zu sein, folglich auch für das der Erde.

Selbst Darwins Sohn George mischte sich in die Diskussion ein. Er postulierte, der Mond sei einst Teil der Erde gewesen. Ganz am Anfang, vermutete er, habe sich unser Heimatplanet viel schneller gedreht als heute, und bei dieser Rotation habe sich der Klumpen, aus dem dann unser Mond wurde, von ihm gelöst. George H. Darwin berechnete die Zeit, die vergangen sein musste, damit die gegenseitige Anziehungskraft von Erde und Mond die Erdrotation so weit verlangsamt haben konnte, bis eine Umdrehung 24 Stunden dauerte. Das niederschmetternde Ergebnis: knapp 100 Millionen Jahre. 12 Die Verfechter von Darwins Evolutionstheorie verstanden die Welt nicht mehr. Alle Indizien, die sie hatten, sprachen dafür, dass die Erde viele Milliarden Jahre alt sein musste. Was war da los?!

Charles Darwin starb 1882 im Alter von 73 Jahren. Den wichtigsten Beweis für seine Evolutionstheorie, die Bestimmung des wahren Alters der Erde, sollte er nicht mehr erleben. Erst als man einige Jahrzehnte später das Verfahren der radiometrischen Datierung entwickelt hatte, war man in der Lage, ihm schlussendlich recht zu geben. Die Erde ist über vier Milliarden Jahre alt, die Sonne leuchtet schon mindestens genauso lange und wird dies auch noch ungefähr fünf Milliarden Jahre lang tun. Dafür nutzt sie die Kernfusion, einen Vorgang, den die Physiker rund um Kelvin, Helmholtz und Co. noch nicht kannten. Dafür mussten erst die Chemie geboren, das Atom entdeckt und die radioaktive Strahlung erforscht werden. Wie genau all das vor sich ging und welche unglaublichen Geschichten sich hinter diesen Entdeckungen verbergen, das schauen wir uns im nächsten Kapitel an.