Hilfe, ich leuchte im Dunkeln

Die Geburtsstunde der Radioaktivität fällt in die Nacht des 8 . November 1895 , als in einem abgedunkelten Labor in Würzburg der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen lange nach Feierabend mit verdünnten Gasen in einer Röhre experimentierte. 190 Er setzte die Röhre unter Spannung, und plötzlich bemerkte er, dass etwa einen Meter von ihr entfernt eine mit Barium, Zyanid und Platin beschichtete Pappe zu leuchten begann. Selbst als er die Röhre mit schwarzer Pappe abschirmte, hörte das Leuchten nicht auf. Röntgen hantierte mit den Gerätschaften und hielt schließlich seine Hand zwischen Röhre und Platte. Nanu, die Hand war auf einmal durchsichtig! Haut und Fleisch waren verschwunden, und die Knochen seiner Finger leuchteten im Dunkeln. 191 Er hatte die Röntgenstrahlen entdeckt, welche er noch im selben Jahr in einer kleinen Abhandlung mit dem Titel Über eine neue Art von Strahlen beschrieb, ergänzt um das erste Foto eines durchstrahlten Körperteils: die Hand seiner Frau Bertha. 192

Röntgens Entdeckung war mehr oder weniger ein glücklicher Zufall, und seine Arbeit wurde von einem weiteren Glückspilz ergänzt, dem Franzosen Henri Becquerel. Becquerel war der Dritte in seiner Familie, der als Physiker am Naturkundemuseum in Paris arbeitete. Er forschte auf dem Teilgebiet der Phosphoreszenz, also der Eigenschaft von Stoffen, im Dunkeln zu leuchten, nachdem sie mit UV -Licht bestrahlt worden sind. Als er von Röntgens X-Strahlung hörte, 15 war er ganz Ohr und versuchte, dem Phänomen auf die Schliche zu kommen. In einem Experiment wickelte Becquerel Fotoplatten in schwarzes Papier, legte ein Stück Uransalz darauf und stellte alles zusammen in die Sonne. Seine Theorie lautete, dass Uransalze Röntgenstrahlen abgeben, wenn sie von Sonnenlicht getroffen werden. 193 Diese Strahlung sollte man dann später auf den Fotoplatten sehen können. Und tatsächlich: Nach der Entwicklung der Platten bemerkte er, dass sich die Umrisse des Urans darauf abzeichneten. Damit sah Becquerel (fälschlicherweise) seine Theorie als bestätigt an, dass das Sonnenlicht etwas mit den Röntgenstrahlen zu tun hatte. Case closed! Oder … doch nicht?! Als er das Experiment eine Woche später mit neuen Platten und weiteren Uransalzen wiederholen wollte, machte ihm der Himmel über Paris glücklicherweise einen Strich durch die Rechnung. Es war bewölkt, die Sonne hielt anscheinend gerade ein Nickerchen, also legte er alles zusammen in die Schublade seines Schreibtischs. Als er die Platten wenige Tage später, am 1 . März 1896 , herausholte, beschloss er, sie ebenfalls zu entwickeln, auch wenn er absolut kein Ergebnis erwartete. Warum er das tat, ist unklar, 194 aber er dürfte im Nachhinein recht froh über seine Entscheidung gewesen sein. Denn auch diesmal zeichnete sich ein klarer Umriss der Uransalze auf den Platten ab. Daraus folgerte er, diesmal korrekt, dass die Strahlung der Uransalze doch nicht aus der Sonne bezogen wurde, sondern die Substanz irgendwie von alleine strahlte. Becquerel hatte damit eine völlig neue Art von Strahlung entdeckt, die sich in einer Hinsicht von den Röntgenstrahlen unterschied: Seine Strahlen ließen sich elektrisch und magnetisch ablenken, sprich: Sie wiesen positive oder negative Ladungen auf. Er hatte die Radioaktivität entdeckt.

Aber was genau ist Radioaktivität? Kurz gesagt bedeutet es, dass gewisse Atomkerne Strahlung oder Energie abgeben. Radioaktive Atomkerne sind instabil und »zerfallen« in einen etwas stabileren Atomkern. Wie das funktioniert? Nun, während die Hülle des Atoms aus negativ geladenen Elektronen besteht, besteht der Atomkern aus positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen. Die Anzahl der Protonen und Elektronen ist in der Regel gleich und definiert auch die sogenannte Ordnungszahl des betreffenden Atoms. Sprich: Wasserstoff, das erste Element im Periodensystem, besitzt einen Atomkern mit einem Proton und eine Hülle mit einem Elektron. Helium, das zweite Element, besitzt zwei Protonen und zwei Elektronen und so weiter. Das radioaktive Element Uran, welches Becquerel untersuchte, hat einen instabilen Atomkern, der durchgängig Alphateilchen abgibt in der »Hoffnung«, dass er irgendwann einen stabileren Zustand erreicht. Diese Alphateilchen entsprechen Helium-Atomkernen, weil sie zwei Protonen und zwei Neutronen besitzen. 195

Je nachdem, mit welchem radioaktiven Kern man es zu tun hat, wird unterschiedliche Strahlung abgegeben. Manche Kerne sondern Alpha-, andere Beta- oder Gammastrahlung ab.

Dabei bilden radioaktive Stoffe sogenannte Zerfallsreihen, was bedeutet, dass der eine radioaktive Kern in den nächsten übergeht, der wiederum eine eigene Art von Strahlung abgibt, bis ein stabiler Kern erreicht ist. Das kann man sich vorstellen wie einen Ball, der eine Treppe hinunterhüpft, Stufe für Stufe, bis er ganz unten angekommen ist. Uran-238 hat zum Beispiel eine wahnsinnig lange Zerfallsreihe, die über Thorium, Radium, Radon und viele andere Kerne bis zu Blei hinuntergeht, wo es seine stabilste Stufe erreicht. 196

Die Strahlung, die bei diesem Umwandlungsprozess abgegeben wird, kann extrem gefährlich sein. Je nach Art und Dosis, die einen Menschen beim Umgang mit radioaktivem Material erreicht, können Verbrennungen auftreten oder Zellen zerstört werden. Letzteres kann Krebs oder andere schwere Krankheiten verursachen. 197 Nur wussten die Physiker und Chemikerinnen des frühen 20 . Jahrhunderts das leider noch nicht …