Einstein, aber einfach
Es war einmal vor langer Zeit, genau genommen vor 1 ,3 Milliarden Jahren, als sich in einer weit, weit entfernten Galaxie etwas Gewaltiges abspielte. Zwei riesige schwarze Löcher, die jeweils die 30 -fache Masse unserer Sonne hatten, umkreisten einander mit zunehmend dramatischer Geschwindigkeit. Schwarze Löcher, das sind Himmelskörper mit einer immens hohen Anziehungskraft. Sie entstehen, wenn riesige Sterne sterben und in sich zusammenfallen. Dabei komprimiert sich ihre ganze Masse in der Mitte, in einem unendlich kleinen, unendlich dichten Punkt. 211 Und von diesen Objekten umrundeten sich nun zwei in einem gewaltigen, aber auch fast unsichtbaren Spektakel. Es war das Grand Finale eines Tanzes, der bereits einige Milliarden Jahre zuvor begonnen hatte. Anfangs hatten sich die schwarzen Löcher noch langsam und beständig umeinander bewegt. Doch in den letzten Minuten wird ihr Tanz immer gewaltiger und chaotischer. Sie umkreisen sich mit 200000 km/s, etwa zwei Drittel der Lichtgeschwindigkeit, 212 und kommen sich immer näher, bis sie schließlich kollidieren und zu einem neuen, großen schwarzen Loch verschmelzen. Dabei erzeugen sie kurzzeitig mehr Energie als das komplette restliche Universum und lösen, wie ein Felsbrocken, der ins Wasser geworfen wird, eine Welle aus, die sich in alle Richtungen gleichzeitig ausbreitet. Nur, die Welle, die sie hervorrufen, verformt kein Wasser, sondern die Raumzeit selbst und breitet sich dabei mit Lichtgeschwindigkeit aus.
Verschmelzen schwarzer Löcher, werden deren Massen derart heftig beschleunigt, dass sie den Raum und die Zeit um sich herum verbiegen und das Echo ihrer Kollision in Form von Gravitationswellen durch das ganze Universum schallt.
Dieses Echo, so postulierte ein deutscher Wissenschaftler im Jahr 1916 , müsse man auch hier auf der Erde registrieren können. Bleiben wir also bei der Kollision der schwarzen Löcher und reiten die Gravitationswellen wie ein kosmischer Surfer bis nach Hause zur Erde. Als die Wellen ausgelöst wurden, vor über einer Milliarde Jahre, begann sich die Atmosphäre unseres Planeten gerade mit Sauerstoff zu füllen. Cyanobakterien, eine der ersten irdischen Lebensformen, erzeugten als Abfallprodukt ihrer Fotosynthese Sauerstoff und legten so das Fundament für komplexeres Leben auf dem Blauen Planeten. 213 Die Gravitationswellen der Kollision breiteten sich weiter aus, und nach etwa 650 Millionen Jahren hatten sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Auf der Erde entwickelten sich gerade die ersten Tiere, simple, einzellige Organismen. Etwa 100 Millionen Jahre später entstanden die ersten Fische, noch mal 130 Millionen Jahre später formte der Sauerstoff, den die Cyanobakterien produziert hatten, langsam die Ozonschicht, eine Art Schutzschild in der Stratosphäre, der uns vor Weltraumstrahlung schützt. Dank dieses Schildes konnten sich die ersten Pflanzen und bald auch die ersten Tiere an Land ausbreiten. Die Gravitationswellen reisten mit Lichtgeschwindigkeit weiter und verformten überall, wo sie vorbeikamen, Raum und Zeit, wenn auch nur minimal. Vor 225 Millionen Jahren entwickelten sich bei uns die Dinosaurier, die 160 Millionen Jahre später wieder ausstarben (warum genau, schauen wir uns in Kapitel 9 an). Vor gerade mal 130000 Jahren betraten schließlich die ersten Vertreter des Homo sapiens in Ostafrika die Bühne des Lebens.
Die Gravitationswellen haben unsere Erde nun fast erreicht. Wenn die 1 ,3 Milliarden Lichtjahre, die sie bis dorthin zurücklegen mussten, ein 100 -Meter-Lauf wären, dann wären sie jetzt nur noch einen Meter von der Ziellinie entfernt. Auf diesem letzten Meter ereignet sich auf der Erde mal eben die komplette Geschichte der Menschheit. Der Homo sapiens pflanzt sich immer weiter fort, lässt sich nieder und erfindet Geld, Gott und Gesetze. Newton entwickelt seine Theorie zur Schwerkraft, und schließlich kommt am 14 . März 1879 in Ulm ein gewisser Albert Einstein zur Welt, der 1916 mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie die Existenz von Gravitationswellen vorhersagt. Die Wellen von der Kollision der schwarzen Löcher stehen nun einen Mikrometer vor der Ziellinie ihres 100 -Meter-Sprints und werden unseren Planeten gleich durchlaufen.
Doch vorher müssen drei Physiker – der US -Amerikaner Kip Thorne, der Schotte Ronald Drever und der gebürtige Deutsche Rainer Weiss – im Jahr 1992 noch schnell das LIGO gründen, das Laser-Interferometer Gravitationswellen-Observatorium . Eigentlich müsste man sagen, die Observatorien. Denn das LIGO besteht aus zwei Einrichtungen: eine in Hanford im US -Bundesstaat Washington und eine weitere im 3000 Kilometer entfernten Livingston in Louisiana. Beide Institute sind dazu gedacht, Einsteins kühne Vorhersage über die Existenz von Gravitationswellen zu bestätigen und aus der trockenen Theorie endlich greifbare Praxis zu machen. Man will echte Gravitationswellen messen! Aber warum braucht man dafür zwei Observatorien? Nun, Gravitationswellen haben fast keine merkliche Auswirkung auf Materie, also müssen die Geräte zu ihrer Messung extrem sensibel auf die kleinsten Veränderungen in der Raumzeit reagieren. Weshalb sie leider äußerst fehleranfällig sind. Würde man nur ein einzelnes Observatorium betreiben, könnte man nie ganz sicher sein, ob man gerade eine Gravitationswelle oder das Husten einer Fliege gemessen hat. Um die 3000 Kilometer zwischen den beiden Observatorien zurückzulegen, braucht Licht bis zu zehn Millisekunden, und da Gravitationswellen mit Lichtgeschwindigkeit reisen, müsste erst der eine Detektor ausschlagen und maximal zehn Millisekunden später der andere. 214 Der Prozess ist so komplex und der Effekt der Wellen so winzig, dass Einstein 20 Jahre nach seiner Vorhersage selbst schon nicht mehr daran glaubte, dass sie tatsächlich existierten. 215
Zum Glück verloren die vielen Physikerinnen und Wissenschaftler, die jahrzehntelang an der Entwicklung des LIGO arbeiteten, nie den Glauben an Einsteins Theorie. Im Mai 2015 erneuerte man die Gerätschaften noch einmal, damit sie noch empfindlicher auf potenzielle Gravitationswellen reagieren konnten. Fünf Jahre lang waren sie zuvor ausgeschaltet gewesen, und dann fuhr man am 14 . September 2015 alles wieder hoch. Gerade rechtzeitig, denn nur wenige Minuten nachdem die Messapparate eingeschaltet worden waren, passierte es: Die Gravitationswellen von der Kollision der schwarzen Löcher, die ich eben beschrieben habe, erreichten die Detektoren. 216 Erst schlug das Gerät in Livingston Alarm, dann, nur sieben Millisekunden später, das in Hanford. 0 ,2 Sekunden lang rauschten die Gravitationswellen durch unseren Planeten und verformten ihn dabei minimal. Gemessen wurde das von Lasern, die sich in zwei L-förmigen Röhren von jeweils vier Kilometern Länge befinden und feststellen können, wenn sich die Raumzeit auf atomarem Level verändert. Bei dem beschriebenen Ereignis registrierten sie eine Erdverformung von 1 /1000 stel des Durchmessers eines Atomkerns! 217
Die zuständigen Forschenden erhielten einen E-Mail-Alarm in ihr Postfach und trauten ihren Augen kaum. Sie überprüften die Daten und versuchten herauszufinden, ob es sich nicht doch um einen Fehlalarm oder ein Testsignal handelte. Aber schnell war klar: Man hatte gerade tatsächlich Gravitationswellen gemessen, 99 Jahre nach Einsteins Vorhersage. Ein unglaublicher Moment in der Geschichte der Wissenschaft! Einstein war erneut bestätigt worden. Seine Theorie hatte die Realität mal wieder besser beschrieben, als er selbst es für möglich gehalten hätte.
Doch wer war dieser Mann eigentlich?