Zeitreisen sind möglich!

Einstein war ein Meister der Gedankenexperimente. Viele Stunden seiner Arbeitszeit im Schweizer Patentamt hat er offenbar einfach still dagesessen und nachgedacht. Wir können froh sein, dass er Phasen der Langeweile damals sinnvoll genutzt hat. Wer weiß, wie viele geniale physikalische Errungenschaften uns vorenthalten bleiben, weil unterforderte Genies auf der Arbeit lieber Solitär oder Candy Crush spielen, als sich Gedanken über Raum und Zeit zu machen.

Nachdem wir verstanden haben, dass die Lichtgeschwindigkeit eine Konstante ist, können wir jetzt versuchen nachzuvollziehen, warum daraus folgt, dass Raum und Zeit relativ sein müssen. Zur Veranschaulichung stellen wir uns eine Lichtuhr vor (siehe Abbildung 7 .3 ).

Eine Lichtuhr ist ein imaginärer Apparat mit zwei Spiegeln, einem oben und einem unten, die im Abstand d voneinander entfernt sind. Zwischen diesen Spiegeln wird ein Lichtimpuls hin- und hergeschickt. Er beginnt am oberen Spiegel, reist mit der Lichtgeschwindigkeit c zum unteren Spiegel und wird von dort wieder zurückgeworfen. Wenn er erneut am Ausgangsort oben angekommen ist, haben wir eine volle Wiederholung geschafft. Der Einfachheit halber stellen wir unsere Spiegel 150000 Kilometer entfernt voneinander auf, sodass der Lichtimpuls für eine Wiederholung genau eine Sekunde braucht. Wir haben jetzt also eine Lichtuhr, die exakt eine Sekunde Zeit misst. Oben auf der Apparatur ist ein Bildschirm angebracht, der mitzählt, wenn ein Lichtimpuls hin- und wieder zurückgesprungen ist. Nach einer Sekunde zählt er eins, nach zwei Sekunden zwei, nach drei Sekunden drei und so weiter. Diese Uhr positionieren wir nun im Universum über unserem Planeten. Ein Beobachter, der auf der Erde steht und eine eigene Lichtuhr besitzt, kann eindeutig sehen, dass während jeder Sekunde, die er auf die Lichtuhr im Weltall schaut, auch auf seiner Uhr eine Sekunde vergeht. Sprich, nach fünf Sekunden auf der Erde zeigt sowohl der Zähler der Lichtuhr im Weltall als auch die Uhr des Betrachters auf der Erde »5 « an. Sie sind perfekt synchron.

Abbildung 7.3:
Lichtuhr

Jetzt nehmen wir unsere Lichtuhr im All und packen sie in ein Raumschiff. Dieses Raumschiff fliegt mit 86 ,7 Prozent der Lichtgeschwindigkeit an der Erde vorbei, während die Uhr in ihm weiter »tickt«.

Was hat sich dadurch verändert? Für den Betrachter auf der Erde scheint nun die Strecke, die das Licht zwischen den Spiegeln im Raumschiff zurücklegen muss, länger geworden zu sein (gestrichelte Linie in Abb. 7 .4 ). Es handelt sich jetzt um eine diagonale Strecke, nicht mehr um eine senkrechte. Da sich die Uhr mit konstanter Geschwindigkeit nach rechts bewegt, bewegt sich der Lichtimpuls zwischen den Spiegeln für den irdischen Betrachter nun nicht mehr gerade von oben nach unten, sondern in einer Zickzacklinie. Bei der gewählten Geschwindigkeit des Raumschiffs von 86 ,7 Prozent scheint die Strecke genau doppelt so lang zu sein wie vorher. Und da die Lichtgeschwindigkeit konstant ist, braucht die Uhr im Raumschiff nun also zwei Erdsekunden, um einmal hin- und herzuspringen. Besser gesagt: Die Lichtuhr auf der Erde zählt zwei Sekunden, während die Uhr im Raumschiff nur eine Sekunde zählt. Die Zeit im Raumschiff scheint von der Erde aus gesehen also langsamer zu vergehen!

Abbildung 7.4:
Die Lichtuhr bewegt sich

Das ist die berühmte Zeitdilatation, die auch Einstein in seiner Speziellen Relativitätstheorie postulierte. Demnach ist Zeit relativ, das heißt: Sie ist abhängig davon, wie schnell wir uns bewegen. Für den Betrachter auf der Erde scheint alles im Raumschiff wie in Zeitlupe abzulaufen. Für die Insassen des Raumschiffs hingegen ist alles wie immer. Für sie fühlt sich die Zeit ganz normal an. Wenn sie ihr Essen zwei Minuten in der Mikrowelle erwärmen, vergehen für sie zwei Minuten, und das Essen ist fertig. Von der Erde aus gesehen war das Essen vier Minuten in der Mikrowelle, es ist aber trotzdem nicht zu heiß, wenn es herausgenommen wird.

Um dieses irre Phänomen noch anschaulicher zu machen, führen wir ein weiteres Gedankenexperiment durch: das Zwillingsparadoxon. Ein Zwillingspaar, wir nennen sie Tim und Karl, verabschieden sich an ihrem 20 . Geburtstag voneinander. Tim bleibt auf der Erde, Karl steigt in ein Raumschiff und fliegt mit 0 ,8 -facher Lichtgeschwindigkeit zehn Erdjahre lang in eine Richtung, dreht dann um und kehrt schließlich zurück. Auf der Erde sind also inzwischen 20 Jahre vergangen, und Tim, der die ganze Zeit dortgeblieben ist, feiert seinen 40 . Geburtstag. Karls Zeit hingegen ist langsamer vergangen, weil er sich mit hoher Geschwindigkeit bewegt hat. Wie viel langsamer genau? Für diese Berechnung hat Einstein eine Formel aufgestellt:

Das v steht für die Geschwindigkeit, mit der Karl unterwegs ist, c für die Lichtgeschwindigkeit. Da Karl mit 0 ,8 -facher Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist, können wir den Bruch einfach durch 0 ,8 ersetzen. Und da wir wissen, dass auf der Erde 20 Jahre vergangen sind, können wir auch diesen Wert einsetzen und erhalten nun folgende Lösung:

Wegen der Zeitdilatation sind für Karl nur zwölf Jahre vergangen. 18 Wenn sich die Zwillinge wieder treffen, wäre Karl acht Jahre jünger, sein Körper acht Jahre weniger gealtert als der seines Bruders Tim, der die ganze Zeit auf der Erde war. 228 Man könnte auch sagen: Zeitreisen sind (theoretisch) möglich. Karl wäre gewissermaßen acht Jahre in die Zukunft gereist.

Vielleicht haben Neugierige unter euch nun schon mit der Formel oben etwas herumgespielt, um zu sehen, was passiert, wenn Karl mit 100 Prozent der Lichtgeschwindigkeit unterwegs gewesen wäre. Wie viele Jahre wären dann vergangen? Die überraschende Antwort: null. Für Objekte, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, steht die Zeit komplett still. Wäre Karl mit Lichtgeschwindigkeit 20 Erdjahre unterwegs gewesen, hätte es sich für ihn angefühlt, als wären Abflug und Ankunft in derselben Sekunde passiert. Alles, was wir tun müssten, um diesen Zustand zu erlangen, wäre, uns mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Nur, das muss man erst mal schaffen. Für Dinge, die Masse besitzen, ist das nach unserem aktuellen physikalischen Verständnis leider nicht möglich.

Wie aber soll man eine solche Theorie überprüfen? Wir haben ja keine Raumschiffe, die mit 0 ,8 -facher Lichtgeschwindigkeit fliegen können, nicht einmal ansatzweise! Das schnellste je von Menschen gebaute Objekt ist die Raumsonde Parker Solar Probe, die 2021 die Korona der Sonne berührte 229  – das ist der äußere Bereich ihrer Atmosphäre – und dabei auf 530000 km/h beschleunigte. 230 Das ist zwar irre schnell, entspricht aber gerade mal der 0 ,05 -fachen Lichtgeschwindigkeit. Also ist dieses Zwillingsparadoxon zwar ein nettes Gedankenexperiment, mit dem wahren Leben hat es aber wenig zu tun.

Lässt sich die Zeitdilatation in der echten Welt eventuell auch irgendwie anders nachweisen? Das wollten die Physiker Joseph Hafele und Richard Keating 1971 überprüfen. Dazu verfrachteten sie vier Atomuhren an Bord eines Linienflugzeuges und schickten es ostwärts und dann noch mal westwärts um den Globus. Als Vergleichsuhren fungierten die des United States Naval Observatory in Washington. Als die Atomuhren wieder landeten und man sie miteinander verglich, stellte man fest, dass sie, genau wie Einstein vorhergesagt hätte, unterschiedlich tickten. 231 Mit Einsteins Theorien konnte man nicht nur vorhersagen, dass die Uhren unterschiedlich laufen würden, sondern auch den exakten Wert berechnen, um den sie sich unterscheiden würden.

Interessant ist nun Folgendes: Wenn die Uhren ostwärts fliegen, also in Richtung der Erdrotation, dann vergeht die Zeit an Bord langsamer als auf der Erde, da sich die Uhren schneller bewegen als die Uhren am Boden. Fliegen sie aber westwärts, also entgegen der Rotation der Erde, dann bewegen sie sich, relativ zur Uhr am Boden, langsamer, und somit läuft ihre Zeit schneller! Genau das konnte das Hafele-Keating-Experiment belegen, und damit bestätigten die beiden Physiker sowohl Einsteins Spezielle als auch seine Allgemeine Relativitätstheorie (wie unzählige andere Experimente auch).

Die SRT hat uns beigebracht, wie Bewegung Raum und Zeit beeinflusst. Doch es gibt noch eine zweite »Kraft«, die das Ticken der fliegenden Atomuhren steuert: Auch die Gravitation wirkt sich auf die Relativität von Raum und Zeit aus.