Newton vs. Einstein

Der Tag, an dem Albert Einstein weltweiten Ruhm erlangte, war der 7 . November 1919 . Die Londoner Times titelte: »Wissenschaftliche Sensation: Neue Theorie des Universums – Newtons Vorstellung gestürzt.« 232 Drei Tage später zog die New York Times nach: »Lichter am Himmel alle schief – Einsteins Theorie triumphiert.« 233 Vorausgegangen war die Veröffentlichung der Experimente zweier britischer Wissenschaftler durch die Royal Astronomical Society . Der englische Astronomieprofessor Arthur Stanley Eddington – derselbe Eddington, der die Anzahl der Protonen im Universum berechnete und auf das gleiche Ergebnis kam wie Archimedes (siehe Kapitel 4 ) – und sein Kollege Andrew Crommelin hatten die totale Sonnenfinsternis am 29 . Mai 1919 genutzt, um Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie auf den ultimativen Prüfstand zu stellen.

Einstein hatte nicht nur festgestellt, dass Raum und Zeit relativ sind und sich aus der Perspektive sich bewegender bzw. stillstehender Körper unterschiedlich verhalten, nein, er hatte auch Newtons Theorie der Schwerkraft angegriffen und revolutioniert. Während Newton 200 Jahre zuvor noch davon ausgegangen war, die Schwerkraft sei eine unsichtbare mystische Kraft, die irgendwie von einem Körper (zum Beispiel der Erde) auf einen anderen (zum Beispiel den Mond) wirkt, realisierte Einstein, dass die Schwerkraft vielmehr eine Eigenschaft des Raumes ist, der diese Körper umgibt.

Das klingt im ersten Moment komplizierter, als es ist. Zum besseren Verständnis stellen wir uns ein großes Trampolin vor und legen in dessen Mitte eine Bowlingkugel. Die Kugel beult das Trampolin aus und verursacht eine tiefe Kuhle im Sprungtuch. Einstein realisierte, dass große, massereiche Körper wie Planeten, Sterne und Co. den Raum um sich herum genauso verformen wie eine Bowlingkugel das Netz eines Trampolins. Wenn wir nun einen kleinen Tennisball auf das Trampolin rollen, so wird dieser nach ein paar Umrundungen irgendwann mit der Bowlingkugel in der Mitte zusammenstoßen.

Und exakt so verhält es sich auch im Weltall. Ein großer Körper sorgt für eine große Delle im Raum und zieht dadurch kleinere Körper um sich herum an. Aber nicht nur große, auch kleinere Körper, ja, alle Körper verformen die Raumzeit, die sie umgibt. Deshalb kreist die Erde um die Sonne und der Mond um die Erde. Je massereicher ein Körper, desto größer die Delle. Die Gravitation ist folglich keine unsichtbare Kraft, die magischerweise über große Distanzen auf Körper wirkt, sondern eine klare Eigenschaft des Raumes.

Abbildung 7.5:
Eine Kugel mit geringerer Masse befindet sich auf einem Orbit in der verzerrten Raumzeit, die eine Kugel mit größerer Masse verursacht hat.

Hier kommt nun die zweite wissenschaftliche Revolution, die wir Einstein verdanken: Raum und Zeit lassen sich nicht separat betrachten. Es gibt nicht Raum und Zeit, es gibt nur eins: Raumzeit. Das bedeutet, große Körper verformen nicht nur den Raum, sie verformen auch die Zeit um sich herum.

Eben haben wir Atomuhren in Flugzeugen um die Welt geschickt. Während anhand der SRT vorhersagbar war, dass sie, je nach Flugrichtung, schneller oder langsamer ticken, lässt sich mithilfe der ART vorhersagen, dass sie schneller ticken, je weiter sie sich vom Gravitationsfeld der Erde (oder dem eines anderen Körpers) entfernen. Zeit vergeht langsamer, je näher man dem Erdboden ist, und sie vergeht schneller, je weiter man davon entfernt ist. Wer im Erdgeschoss wohnt, altert langsamer als die Bewohner des Penthouse im obersten Stock. Zwar nur minimal, aber dennoch, es ist eine Tatsache! Um dieses Prinzip anschaulich zu erleben, empfehle ich dringend, den Film Interstellar von Christopher Nolan aus dem Jahr 2014 anzuschauen. Ohne zu viel von der Handlung verraten zu wollen, kann ich sagen, dass man hier die Relativität der Zeit in der Nähe eines schwarzen Lochs unterhaltsam und wissenschaftlich fundiert erklärt bekommt. Wissenschaftlicher Berater des Films war übrigens kein Geringerer als Kip Thorne, der Physiker, von dem ich zu Anfang des Kapitels berichtet habe, dass er das LIGO mitgegründet und die Gravitationswellen entdeckt hat. 234

Ob massereiche Körper tatsächlich die Raumzeit verbiegen können, wollten Eddington und Crommelin 1919 überprüfen. Denn wenn Einsteins Theorie stimmte, dann musste auch die Sonne den Raum um sich herum messbar verformen. Und zwar so stark, dass das Licht von Sternen in ihrem direkten Umfeld von ihrer Masse abgelenkt würde. Nur leider war es schwierig, das zu überprüfen, denn tagsüber scheint die Sonne zu hell, als dass man die Sterne neben ihr beobachten könnte. Genau aus diesem Grund musste Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie bei einer Sonnenfinsternis überprüft werden.

Eddington und Crommelin wollten die Eklipse im Mai 1919 nutzen und leiteten dafür zwei Expeditionen ein. Eddington reiste zur Insel Príncipe im Golf von Guinea, Westafrika. Crommelin machte sich auf den Weg nach Sobral in Brasilien.

Sechs Monate vor dem Stichtag fotografierten sie an ihren entlegenen Orten jede Nacht den Sternenhimmel. Am 29 . Mai 1919 justierten sie erneut ihre Fernrohre. Die Sonne würde sich an diesem Tag vor dem Sternenhaufen der Hyaden befinden. Die Wissenschaftler wollten während der Sonnenfinsternis die Sterne fotografieren, um dann deren aktuelle Positionen mit den Aufnahmen zu vergleichen, die sie sechs Monate zuvor angefertigt hatten, als sich die Sonne noch nicht vor den Hyaden befand. 235 Die Eklipse kam, und es schlug die Stunde der Wahrheit: Eddington hatte blöderweise schlechtes Wetter, sodass nachher nur zwei Fotos halbwegs brauchbar waren. Crommelin konnte immerhin acht gestochen scharfe Bilder vorweisen.

Als sie, zurück in England, die Aufnahmen der verfinsterten Sonne mit jenen der zuvor abgelichteten Sterne verglichen, staunten sie nicht schlecht: Die Positionen der Hyaden waren minimal verschoben, die Sonne verformte die Raumzeit um sich herum also tatsächlich! Und nicht nur das: Die Werte entsprachen sogar exakt Einsteins Vorhersagen. 236

Damit war Newtons Theorie der Schwerkraft revolutioniert. Wobei es wichtig ist zu betonen, dass sie nicht grundlegend falsch war. Seine Gesetze zur Schwerkraft und die dazugehörigen Formeln (siehe Kapitel 3 ) sind auch heute noch meistens präzise genug, um Planeten- und Kometenumlaufbahnen vorherzusagen. Doch in bestimmten Fällen brechen sie zusammen, und genau da kommt Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ins Spiel, wie wir gleich an einem Beispiel sehen werden.