Vulkan – der Planet, der nie existierte

Am 23 . September 1846 entdeckte Johann Gottfried Galle durch das Teleskop der Berliner Sternwarte einen neuen Planeten: Neptun. Wobei die Entdeckung nicht zufällig passierte, 19 sondern auf eine geniale internationale Kooperation zurückging. Neptun wurde nämlich nicht klassisch aufgespürt, sondern seine Existenz wurde theoretisch vorhergesagt! Und das kam so: Bei genauer Beobachtung des Planeten Uranus hatte der französische Astronom Urbain Le Verrier Unregelmäßigkeiten an dessen Umlaufbahn festgestellt. Unter Anwendung der Formeln der klassischen Mechanik nach Newton fiel ihm auf, dass Uranus nicht exakt so um die Sonne kreiste, wie er das eigentlich hätte tun sollen. Nachdem Le Verrier einige Berechnungen angestellt und ein paar Zahlen hin und her geschubst hatte, fand er eine theoretische Erklärung für das merkwürdige Verhalten des drittgrößten Planeten im Sonnensystem: Ein bisher unbekannter Planet musste ihn auf seiner Umlaufbahn um die Sonne manipulieren. Die Schwerkraft dieses unentdeckten Planeten übte offenbar einen so starken Einfluss auf Uranus aus, dass der von seinem regulären Orbit abgebracht wurde. Le Verrier ging noch weiter und berechnete, wo man den unbekannten Planeten finden können müsste. Diese Daten schickte er an Galle in Berlin, der noch in derselben Nacht das Teleskop der Neuen Sternwarte in Kreuzberg auf eine Stelle am Nachthimmel zwischen den Sternbildern Steinbock und Wassermann richtete, und siehe da: Le Verriers These bestätigte sich. 237 Gemeinsam hatten sie einen neuen Planeten entdeckt, nur mittels theoretischer Vorhersagen, die sich auf die Formeln von Isaac Newton stützten.

Doch die Geschichte geht noch weiter. 1859 , 13 Jahre später, bemerkte Le Verrier auch eine Unregelmäßigkeit in der Umlaufbahn des Planeten Merkur, des innersten Planeten unseres Sonnensystems. Merkur wich, ganz ähnlich wie damals Uranus, von seiner elliptischen Umlaufbahn ab, er »wobbelte« ab und zu. In der Astronomie spricht man hier von einer Periheldrehung. Le Verrier, befeuert von seinem sensationellen Erfolg mit der Entdeckung des Neptun, behauptete, dass sich vor dem Planeten Merkur noch ein weiterer unentdeckter Planet befinden müsse: Er nannte ihn Vulkan. Sogleich stürzten sich Astronomen und Physikerinnen auf die Vorhersage und suchten den Sternenhimmel 50 Jahre lang ab, doch von dem ominösen Vulkan war keine Spur zu finden.

Erst als Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie vollständig veröffentlicht war, konnte man die Suche offiziell einstellen. Denn dessen Theorie, dass die Sonne den Raum um sich herum verformt, lieferte eine perfekte Erklärung für das »Wobbeln« des Planeten Merkur. 238 Newtons klassische Mechanik bricht immer dann zusammen, wenn große Massen und winzige, präzise Bewegungen im Spiel sind. Seine Formeln zur Schwerkraft reichen in diesen Fällen nicht aus, um die Realität zutreffend zu beschreiben und vorherzusagen.

In der Fachwelt bescherte die Erklärung der Periheldrehung des Merkur Einstein und seiner Relativitätstheorie schon 1915 große Anerkennung. 239 Doch weltweiten Ruhm erlangte er erst 1919 , als Eddington und Crommelin die Biegung der Raumzeit anhand der Sonnenfinsternis bestätigten. Den Nobelpreis erhielt Einstein für diese Erkenntnisse aber nie. Stattdessen bekam er ihn für seine Erklärung des fotoelektrischen Effekts. Was das ist, und wie die newtonsche Weltsicht dadurch erneut ad absurdum geführt wurde, das schauen wir uns im nächsten Kapitel an.