Physik mit Ecken und Quanten
Niemand muss Angst vor Quantenphysik haben. Ich weiß, der Welt der kleinsten aller Dinge haftet ein Stigma an, das sie einfach nicht loswird. Quantenmechanik, das ist angeblich vollkommen unverständlicher und hyperkomplizierter Firlefanz, den nur die Schlausten der Schlauen kapieren, und nicht mal die wissen genau, wovon sie reden. »Ich glaube, man kann mit Sicherheit sagen, dass niemand die Quantenmechanik versteht«, 240 behauptete einst der Quantenmechaniker und Nobelpreisträger Richard Feynman bei einem Vortrag an der Cornell University.
Wenn selbst einer ihrer kompetentesten Vertreter eine derart niederschmetternde Erkenntnis teilt, ist es kein Wunder, dass dieser Teilbereich der Physik noch immer derart gefürchtet ist – 100 Jahre nach seiner Einführung.
Keine Frage, die Quantenmechanik ist merkwürdig, das liegt in der Natur der Sache. Trotzdem, selbst für Laien ist es nicht komplett unmöglich, sie zumindest in ihren Grundzügen nachzuvollziehen. Auch wenn sie sich gänzlich unintuitiv anfühlt, da sie sich in einem Punkt fundamental von der klassischen newtonschen Mechanik unterscheidet: Die Welt, die wir sehen können, ist ihr zufolge nicht das, was wirklich da ist.
Die Welt nach Newton, wie wir sie in Kapitel 3 kennengelernt haben, ist hingegen ziemlich einfach zu verstehen. Da fliegt eine Kanonenkugel, und wenn wir ihre Position im Raum und ihre Geschwindigkeit kennen, können wir vorhersagen, wo sie in Zukunft sein wird, solange keine andere Kraft auf sie einwirkt. Die Vorhersagen nach Newton sind also in der Theorie einfach aufzustellen und in der Praxis noch leichter zu überprüfen. Ich kann berechnen, ob ein Fußball ins Tor treffen oder eine Rakete auf dem Mond landen wird, und wenn ich meine Berechnungen überprüfen will, muss ich nur eins tun: Ich muss in der echten Welt nachschauen, ob das Ergebnis eingetroffen ist.
In der Welt der Quanten ist das nicht ganz so einfach. Insbesondere unterscheidet sich dort das, was passiert, wenn wir hinschauen, dramatisch von dem, was passiert, wenn wir nicht hinschauen. Aber wir steigen besser langsam ein, damit ihr nicht gleich zu Beginn dieses Kapitels mit dampfendem Kopf das Buch beiseitelegt.
Der Schlamassel beginnt im Jahr 1874 , als sich ein junger Mann in München fragt, was er studieren soll. Er schwankt zwischen Musik, Sprachwissenschaften und Physik. Da er sich extrem unsicher ist, lässt er sich schließlich beraten, welches Gebiet denn wohl am besten zu ihm passe. Als er den Physikprofessor Philipp von Jolly konsultiert, rät ihm dieser davon ab, ein Studium der Physik zu beginnen, da bereits alles erforscht sei und es nur noch ein paar irrelevante Kleinigkeiten zu entdecken gebe. 241 Ein hervorragendes Beispiel dafür, dass man öfter mal auf den Rat von Autoritätspersonen pfeifen sollte! Zum Glück hört der junge Mann – Max Planck ist sein Name – nicht auf den Professor und schreibt sich zum Wintersemester für das naturwissenschaftliche Studium in München ein. Nur fünf Jahre später, im Alter von 21 Jahren, promoviert er und nimmt 1889 seine Arbeit als Professor für Physik an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin auf. Hier tritt er, fast schon widerwillig (er selbst bezeichnet es als »Akt der Verzweiflung« 242 ), eine der größten Revolutionen der modernen Physik los.
Ende des 19 . Jahrhunderts boomte der Markt der Leuchtmittel. 1880 hatte ein gewisser Thomas Alva Edison das Patent für die Glühbirne erhalten (die er übrigens nicht erfunden, sondern nur verbessert hatte), und nun wollte fast jeder Haushalt eine solche Lampe besitzen. Physiker zerbrachen sich derweil den Kopf, wie man einen möglichst effizienten Leuchteffekt erzielen, also mit möglichst wenig Energieaufwand möglichst viel Helligkeit aus der Lampe herausholen konnte. Auf diese harmlos klingende Reise begab sich auch Max Planck – und biss sich an der Aufgabenstellung die Zähne aus.
Zu jener Zeit kursierten verschiedene Formeln, mit denen man Wärmestrahlung, also Lichterzeugung durch Erhitzung, berechnen konnte. Nur leider waren diese Formeln unzulänglich. Bei zunehmender Hitze, hieß es, würde die Strahlung, die ein Körper abgibt, ins Unendliche steigen. Das hätte in der Praxis zur Folge gehabt, dass, wenn man beispielsweise Stahl immer weiter erhitzt, die Strahlung des Stahls irgendwann in den ultravioletten Bereich rutscht, welcher für Menschen im nicht sichtbaren Teil des Wellenspektrums liegt. Mit anderen Worten: Stahl müsste, wenn man ihn ausreichend erhitzt, irgendwann unsichtbar werden. Dem ist zum Glück aber nicht so. Dieses Dilemma wurde in der Welt der Wissenschaft bekannt als die Ultraviolett-Katastrophe . 243
Planck setzte sich also im stillen Kämmerlein an die Problemstellung und jonglierte mit ein paar bereits bekannten Formeln. Doch egal, was er tat, er kam einfach nicht auf die Lösung. Schließlich dachte er sich einen Wert aus, den er als Hilfskonstante h bezeichnete. Und mit deren Hilfe gelang es ihm, ein Strahlungsgesetz aufzustellen, das mit den Beobachtungen der Realität vereinbar war. Nur hatte er damit auch etwas in die Naturwissenschaft eingeführt, worauf er am liebsten verzichtet hätte: die sogenannten »Quantensprünge«. Was das bedeutet? Nun, in den allerkleinsten Einheiten der Natur schien Energie nicht kontinuierlich anzusteigen, sondern kleine Sprünge zu machen.
Hier ein Beispiel aus unserer Alltagswelt: Um von 1 ,99 € auf 2 ,00 € zu kommen, brauchen wir einen Cent mehr. Es gibt keinen kontinuierlichen Anstieg zwischen diesen beiden Stufen, zumindest nicht in der Welt des Bargelds. Wir machen einen winzigen Sprung, und die kleinste uns zur Verfügung stehende Einheit dafür ist das 1 -Cent-Stück. Das Äquivalent einer 1 -Cent-Münze hatte Planck nun in der Natur gefunden. Denn die Hilfskonstante h in seiner Formel zur Wärmestrahlung setzte voraus, dass Energie in winzig kleinen »Päckchen« abgegeben wird, den Quanten. 244 Damit widersprach er einer jahrhundertealten und in den Wissenschaften weitverbreiteten Überzeugung, nämlich: Natura non facit saltus – Die Natur macht keine Sprünge. 245 Von Aristoteles über Newton und Leibniz bis hin zu Kant vertraten viele große Denker diese Auffassung. Und nun kam Planck daher und behauptete mit seinen Energiequanten das genaue Gegenteil: Die Natur macht sehr wohl Sprünge. Zwar unvorstellbar kleine, aber immerhin. Ihn selbst frustrierte diese Entdeckung so sehr, dass er zunächst nicht über sie reden und sie bis zum Ende seines Lebens auch nicht so richtig wahrhaben wollte. 246
Doch es kam noch dicker: Albert Einstein machte sich die neu entdeckten Quanten gleich zunutze, und zwar bei dem Versuch, den sogenannten fotoelektrischen Effekt zu erklären. Beim Fotoeffekt werden Elektronen aus einem Metall herausgelöst, wenn dieses mit Licht bestrahlt wird. Einsteins Erklärung: Licht besteht aus einzelnen Energiequanten, also winzigen Teilchen, die dafür sorgen, dass die Elektronen beim Aufprall von ihrem Körper gelöst werden. 247 Für diese Erkenntnis wurde ihm 1921 der Nobelpreis verliehen. Aber was bitte war daran so genial? Nun, Einstein lieferte damit einen starken Beleg für Plancks Quantentheorie. Seine Formeln passten perfekt zu den Beobachtungen, die mit dem Fotoeffekt einhergehen.
Doch Planck gefiel das zunächst überhaupt nicht. Wenn Einstein recht hatte, würde das ja bedeuten, dass die allgemein akzeptierte Auffassung über die Beschaffenheit von Licht falsch war. »Die Theorie des Lichtes würde nicht um Jahrzehnte, sondern um Jahrhunderte zurückgeworfen«, 248 beschwerte sich Planck. Doch tatsächlich sollte sich seine aus purer Verzweiflung erdachte Hilfsvariable h als absolute Naturkonstante erweisen, die wir heute als Plancksches Wirkungsquantum bezeichnen. Für sein Strahlungsgesetz erhielt er übrigens 1919 den Nobelpreis. Aber was hatte er damit gemeint? Die Theorie des Lichts – zurückgeworfen? Tatsächlich hatten Planck und Einstein ein Erdbeben ausgelöst, dessen Auswirkungen sie damals noch nicht erahnen konnten.