Im Laufe der Zeit wurde das Doppelspaltexperiment mit immer größeren Teilchen durchgeführt. Photonen, Elektronen, ganze Atome bis hin zu größeren Molekülketten, alle zeigten Teilchen- und Welleneigenschaften, je nachdem, ob man sie beobachtete oder nicht. 252 Das heißt, nicht nur Licht kann mal eine Welle und mal ein Teilchen sein, sondern andere Systeme ebenfalls. 20 Verständlicherweise fanden das die Physiker und Chemikerinnen Anfang des 20 . Jahrhunderts überhaupt nicht witzig. Die Kacke war am Dampfen, und man wusste nicht mal mehr, ob die Kacke aus Teilchen oder aus Wellen bestand. So organisierten die renommiertesten Forscher und Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit ein Treffen, um über die aktuellen Entwicklungen in der Quantenphysik zu sprechen. Die Solvay-Konferenz hatte sich schon einen Namen als Meetingpoint für die Avengers der Wissenschaft gemacht. Wieder und wieder kamen die schlauesten Köpfe der Welt zusammen, um die wichtigsten Neuerungen im Bereich der Physik zu besprechen. Bei ihrem fünften Treffen, im Jahr 1927 , ereignete sich die wohl größte Auseinandersetzung in der Geschichte der Quantenphysik.
Unter den Teilnehmenden: die Crème de la Crème der Wissenschaftswelt, von Marie Curie über Erwin Schrödinger bis zu Albert Einstein und Co. In die Geschichtsbücher eingehen sollte der Streit zwischen dem damals 48 Jahre alten Einstein und dem dänischen Physiker Niels Bohr. Bohr hatte wenige Jahre zuvor dafür gesorgt, dass die Welt der Quanten auch in unserem Verständnis des Atoms berücksichtigt wurde. Zwar hielt sich seine Vorstellung nicht lange, dennoch verdanken wir es ihm, dass sich unser Atommodell grundsätzlich von dem unterscheidet, was Ernest Rutherford noch geglaubt hatte.
Wir erinnern uns an Kapitel 6 : Das rutherfordsche Atommodell postulierte einen winzigen, massereichen Atomkern und eine Elektronenhülle, in der sich Elektronen auf Umlaufbahnen um ihren Kern bewegen. Das Ganze sieht aus wie ein kleines Sonnensystem und ist die bekannteste Atomdarstellung, die es gibt; wir alle haben das Bild sofort vor Augen, wenn die Rede von diesen unvorstellbar kleinen Konstrukten ist (siehe Abbildung 8 .7 ). Nur leider ist es kompletter Mumpitz.
Rutherfords Modell erzeugte ein theoretisches Desaster. Wenn sich die Elektronen wirklich auf Kreisbahnen um den Nukleus bewegen würden, müssten sie die ganze Zeit Energie abgeben, und wenn sie das täten, sollten sie eigentlich innerhalb von 10 –11 Sekunden in den Atomkern krachen, den sie umrunden. Mit anderen Worten: Eigentlich müsste das komplette Universum in sich zusammenfallen. Sterne, Planeten, schwarze Löcher, alle Materie würde im Bruchteil einer Nanosekunde zerstört. Der Bus, der gerade vor meinem Fenster vorbeigefahren ist, wirkte aber relativ stabil. Der Stuhl, auf dem ich sitze, scheint es auch zu sein. Was ist da los?
Bohr versuchte, dieses Problem mit seinem Atommodell zu lösen. Er behauptete, die Elektronen würden den Kern auf vorgegebenen Kreisbahnen umrunden, die jeweils bestimmten Energieleveln entsprächen. Je näher die Bahn am Atomkern liege, desto niedriger ihre Energie. Die Elektronen, so Bohr, können von einem auf den anderen Orbit wechseln, und zwar mit sogenannten Quantensprüngen. Wenn sie weiter nach innen, also auf niedrige Energielevel, springen, geben sie etwas Energie in Form von Strahlung ab. Wenn sie auf äußere Umlaufbahnen springen, absorbieren sie etwas Energie aus der Umgebung. 253 Bohrs Modell genügte aber leider nicht. Es gelang ihm damit so gerade eben, das erste Atom des Periodensystems, Wasserstoff, theoretisch zu erklären. Beim Helium machte sein Konstrukt schon wieder schlapp.
Das bohrsche Modell wurde schließlich durch das von Erwin Schrödinger abgelöst, der die Überzeugung vertrat, dass wir grundsätzlich aufhören müssten, uns das Elektron als kleinen Punkt auf einer Kreisbahn vorzustellen. Sein Atommodell, das heute allgemein akzeptiert ist, zeigt einen winzigen Atomkern, umgeben von einer Art »Wolke der Wahrscheinlichkeit« (siehe Abbildung 8 .8 ). Wir wissen nicht, wo sich das Elektron befindet, wir können lediglich Wahrscheinlichkeiten angeben, wo wir es finden würden, wenn wir nachschauten, denn es handelt sich um ein Quantensystem. Stellt euch einen Helikopter vor. Seine Rotorblätter drehen sich so schnell, dass es wirkt, als wären sie eine große Scheibe, als wären sie an allen möglichen Positionen gleichzeitig. So ähnlich ist es auch bei Elektronen, die einen Atomkern umgeben, mit dem entscheidenden Unterschied, dass es nicht nur so scheint, als wären sie überall gleichzeitig. Sie sind es tatsächlich!
1927 war die experimentelle Datenlage höchst beunruhigend, um es vorsichtig auszudrücken. Der Welle-Teilchen-Dualismus war in mehreren Fällen nachgewiesen worden, und nun musste die Wissenschaft eine neue Theorie aufstellen, womit dieses Phänomen zu erklären sei. Eine Deutung, die zu großem Ansehen gelangte, war die sogenannte Kopenhagener Interpretation, die die Überzeugungen von Physikern wie Niels Bohr und Werner Heisenberg in sich vereinte. Hier zeigt sich wieder ein fundamentaler Unterschied zur klassischen Physik: Die newtonschen Theorien musste niemand »interpretieren«. Sie waren so einleuchtend, so intuitiv verständlich, dass man sofort wusste, wie man sie anzuwenden hatte. Ein Grund, warum die Quantenmechanik auf Außenstehende, ja sogar auf Insider so Furcht einflößend wirkt, ist, dass es viele verschiedene Interpretationen und noch mehr Kritik an diesen Interpretationen gibt. Die Kopenhagener Deutung gilt bis heute als Lehrbuchstandard der Quantenmechanik und wird Physikstudierenden überall auf dem Globus als erste mögliche Herangehensweise beigebracht. 21 Und die geht ungefähr wie folgt: Ähnlich wie bei Newton gibt es hier eine Formel, mit der wir Vorgänge beschreiben können: die Schrödinger-Gleichung, auch bekannt unter dem Namen Wellenfunktion (siehe Abbildung 8 .9 ). Mit ihr können wir aber niemals sagen, wo sich ein Quantensystem – also z.B. ein Photon oder Elektron – gerade genau befindet, sondern wir können nur Wahrscheinlichkeiten angeben, wo wir es finden könnten . In dem Moment, in dem wir eine Messung anstellen, um unsere Vorhersage zu überprüfen, fällt die Schrödinger-Gleichung in sich zusammen, sie wird irrelevant. Was bleibt, ist nur noch der tatsächlich gemessene Wert, der nun als unwiderlegbare Wahrheit zu verstehen ist.
Wie frustrierend! Und wie weit weg von allem, was wir Tag für Tag erleben! Dinge sind also irgendwie überall zur selben Zeit, bis zu dem Moment, in dem wir hingucken? »Sie werden doch nicht behaupten wollen, dass der Mond nicht da oben ist, wenn niemand hinsieht«, schimpfte Einstein auf der Solvay-Konferenz mit Niels Bohr. Der entgegnete nur flapsig: »Können Sie mir das Gegenteil beweisen?« 254
Einstein musste klein beigeben und ist in den Augen der meisten Historikerinnen und Physiker der Verlierer dieser Auseinandersetzung. Er war, verständlicherweise, enttäuscht von der Quantentheorie, wie die Kopenhagener Interpretation sie formuliert hatte. Und er hoffte, dass man eine bessere, eine verständlichere Erklärung finden würde.
Kritisiert wurde die Methode von Bohr und Co. vor allem wegen des »Hinguckens«, das dafür sorgte, dass ein Quantensystem plötzlich kollabierte. Was genau bedeutete »hingucken«? Wer guckte? Und warum interessierten sich die Quanten überhaupt dafür? Um die Absurdität der Kopenhagener Deutung für die physikalische Welt aufzuzeigen, stellte der Erfinder der Wellengleichung, mit der wir noch heute Quantensysteme untersuchen und vorhersagen, ein Gedankenexperiment an, das unter dem Namen »Schrödingers Katze« große Berühmtheit erlangte.