In meinem Büro dachte ich immer noch über sie nach, als Melissa, meine Sekretärin, hereinkam. »Eilbrief«, sagte sie. »Ich habe für dich unterschrieben.« Ich warf den Brief auf den Tisch. Eilbriefe waren Routine: Anscheinend wollte kein Anwalt mehr die »Schneckenpost« benutzen. In Gedanken war ich bei Katy und nahm von dem Absender keine Notiz, bis ich plötzlich herumfuhr:
Wilbee Cingu
Never-Never Land Enterprises
64 Martin Luther King Blvd.
Cross Roads Junction, NH
Ich schaute noch einmal hin. Wilbee Cingu. Ich kannte keinen Wilbee Cingu, und ein Anwaltsbüro, das Never-Never Land Enterprises hieß, gab es auch nicht.
Ich schaute genauer hin. Wil-bee-c-ing-u – werde dich treffen. Oje. Ich mußte mir keine Gedanken mehr darüber machen, wie ich Willy finden sollte. Er hatte mich bereits gefunden. Angst schnürte mir die Kehle zu, und ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen. Willy hatte zum Sprung auf mich angesetzt, und es war genauso unangenehm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es hätte mir nichts ausgemacht, eine dunkle Straße hinunterzugehen, um ihn zu treffen – na ja, natürlich schon, aber ich konnte ja doch nichts dagegen tun –, aber ich konnte nicht still sitzen bleiben, während er gegen mich vorging.
Ich hatte einmal eine Freundin, die vor zwanzig Jahren die erste weibliche Polizistin in ihrem Staat wurde. Dann mußte sie in einem Wohnhaus allein eine dunkle Treppe hinaufsteigen, wo ein Mann mit einer Axt auf sie wartete. Niemand wußte, wie sie das schaffte. Aber ich: Sie stieg einfach hinauf.
Ich zögerte einen Augenblick. Das konnte auch eine Briefbombe sein. Willy wäre dazu fähig. Andererseits könnte er dann aber nicht das Resultat bestaunen, so daß es ihm nicht genug Spaß machen würde. Wenn er eine Briefbombe schickte, dann stimmte meine Diagnose über sexuelle Sadisten nicht. Ich mußte fast lächeln. Noch nie in meinem Leben hatte ich soviel Vertrauen in meine Diagnose gehabt.
Ich öffnete den Brief. »Endlich frei«, zitierte Willy, »Endlich frei«, aber ich hätte wetten können, daß Martin Luther King dabei nicht an Willy gedacht hatte.
»Jetzt«, schrieb Willy, »müßtest Du Dich eigentlich fragen, welche Rolle Du im Never-Never Land übernehmen sollst. Schließlich: ›Realität ist nur das Produkt höchster Imagination.‹ Zeig mir Deine, und ich werde Dir meine zeigen.« Unterschrieben war der Brief mit
partytime@postoffice.worldnet.att.net.
Ich starrte den Brief an. Es war nicht gerade ein langes Schreiben, aber es verriet doch eine Menge. Ich wußte, woraus Willys Phantasien bestanden – aus wahrhaft fürchterlichen Foltermethoden –, und wenn Willy vorhatte, sie wahr werden zu lassen, dann würde es jemandem bald sehr schlecht ergehen.
Ich persönlich wollte Willys Phantasien wirklich nicht zu spüren bekommen. Die einzigen Menschen, die seine Phantasien erlebt hatten, waren seine Opfer.
Wenn er mir das also mitteilte, ja, dann hatte er vermutlich auch Pläne mit mir. Schlimmer noch, er machte sich damit noch nicht einmal strafbar. Es war eine Drohung, die nicht wie eine Drohung aussah. Willy war bestimmt nicht bei einem der größeren Provider mit ihren schriftlichen Abrechnungen gemeldet. Willy besaß sicherlich eine Software, mit der er direkten Zugang zum Internet hatte und mit der er sich von jedem Telefon der Welt einwählen konnte.
Aber dafür mußte ich kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich es Adam nicht erzählte. Was könnte er damit schon anfangen?
Das viel größere Problem war, was ich damit anfangen sollte. Ich versuchte nachzudenken. Jesus, er war noch nicht mal zehn Minuten draußen, und schon nahm er Kontakt zu mir auf. Hatte er das alles geplant?
Also gut: Welche Rolle hatte Willy im Never-Never Land für mich vorgesehen? Ich zweifelte nicht daran, daß er sich als Peter Pan sah, und wußte genau, was er mit den »verlorenen Jungs« vorhatte, die er zwangsläufig aufgabeln würde. Aber was war mit den Mädchen? Angenommen, daß ich darin eine Rolle spielen sollte, wie paßte ich da hinein? Es gab nur zwei weibliche Figuren bei Peter Pan – Tinker Bell und Wendy –, und keiner von beiden war etwas Schlimmes zugestoßen.
Na ja, da gab es noch die indianische Prinzessin. Wenn ich mich richtig erinnerte, war sie in einem Käfig an einen Pfahl gebunden worden, während das Hochwasser stieg. Das allerdings war wirklich keine schöne Perspektive ... Eine Sache war klar: Willy hatte mich eingeladen, mit ihm per E-Mail zu kommunizieren, und er kannte meine E-Mail-Adresse nicht.
Ich hatte zwar keine Lust, mit ihm dieses Spielchen zu spielen, aber wenn ich ihm antworten würde, hätte er automatisch meine E-mail-Adresse und damit eine weitere Möglichkeit, sich in mein Privatleben einzuschleichen. Aber wenn ich ihm nicht antwortete, hätte ich keinen Anhaltspunkt, was als nächstes kam. Was für ein Blatt! Würde mir nicht jeder, dem ich davon erzählte, raten, gleich nach Afghanistan auszuwandern? Nein, ich konnte es niemandem erzählen, nicht einmal Marv.
Das Telefon klingelte. Ich zuckte zusammen und brauchte einen Augenblick, bevor ich dranging. Ein einziger Brief von Willy, und schon war ich schreckhaft. »Es ist die Notaufnahme«, sagte Melissa, »die Bereitschaftsärztin will dich sprechen.«
»Wer ist es?« fragte ich.
»Das hat sie nicht gesagt«, antwortete Melissa.
»Stell sie durch«, meinte ich.
»Michael, hier ist Suzanne. Ich bin in der Notaufnahme, und wir haben hier unten eine deiner Klientinnen, eine Camille Robbins.«
Glücklicherweise war Suzanne Stenson eine der intelligentesten psychiatrischen Assistenzärztinnen, die die Jefferson-Klinik je hervorgebracht hatte. Das war deshalb ein Glück, weil es nicht halb so schlimm war, es mit einem verrückten Patienten zu tun zu haben, wie mit einem verrückten Arzt.
»Warum ist sie bei euch?«
»Du kennst doch Harvey vom Sweet Tomatoes? Er hat sie heute morgen im Garten gefunden, als sie sich vor ihrem Haus in den Büschen versteckte. Ihr verdammter Hund wollte ihn nicht in ihre Nähe lassen, und er wollte schon die Polizei rufen, als sie doch noch rauskam und den Hund zurückrief. Es sieht aus, als hätte sie eine Art Flashback. Harvey brachte sie hierher. Sie war desorientiert und verwirrt und fiel von einem Flashback in den nächsten.«
O Gott. Ich hätte nur gewünscht, Harvey hätte etwas von Hunden verstanden. Dem war wohl nicht so, sonst hätte er bereits die Polizei gerufen, als dieser Rottweiler ihn das erstemal ansah.
»Michael, das Problem ist, daß der Hund mitgekommen ist. Ich sage das nicht gerne, aber das Personal sorgt sich mehr um den Hund als um deine Klientin. Niemand will näher als einen halben Meter an ihn heran, was ein großes Problem darstellt, weil deine Klientin an der Leine klebt, als wäre sie ein Rettungsring. Sie sagt, er sei ein Anfall-Hund. Ist das wahr?«
»Es ist eine Sie«, sagte ich, »obwohl ich nicht überrascht bin, daß du nicht nah genug herangekommen bist, um nachzusehen. Ihr Name ist Keeter. Soweit ich weiß, ist sie ein Anfall-Hund, was bedeutet, daß sie überall hingehen darf. Sie ist gleichzeitig ein Kampfhund, also sei vorsichtig.«
»Hör mal, wenn die Leute hier noch vorsichtiger wären, würden sie sie erschießen.«
»Warum komme ich nicht einfach runter und schaue nach ihr?«
»Ja, warum tust du das nicht einfach.«
»Übrigens, hat sie dir nur gesagt, daß ich ihre Therapeutin bin, oder wollte sie mich sehen?«
»Sie wollte dich sehen.« Gut. Das bedeutete, daß wir doch eine Beziehung hatten, egal wie neu und zerbrechlich sie war. Suzanne fuhr fort: »Noch etwas, Michael. Sie müßte eingewiesen werden, aber wir können diesen Hund nicht mit einweisen.«
»Von Rechts wegen müßt ihr, es ist ein Partnerhund.«
»Von Rechts wegen tun wir es, also werden wir genau aus diesem Grund keine Einweisung für Camille empfehlen. Niemand glaubt, daß man sie trennen kann, und wir können diesen Hund nicht einfach auf der Station lassen. Die Sicherheitsleute würden durchdrehen, die anderen Patienten würden durchdrehen, und ich fürchte, auch der Hund würde durchdrehen. Nur damit du weißt, daß das keine Alternative ist.«
Na prima. Ich hatte da eine Frau, die so durcheinander war, daß sie sich mit Flashbacks in den Büschen versteckte, und eine Einweisung war nicht möglich. Aber ich konnte eigentlich nichts dagegen einwenden. Ich würde Keeter auch nicht auf der Station lassen. Was, wenn Camille die Gewalt über sie verlor und Keeter fünf oder sechs Patienten fraß? Andererseits, was sollte ich Camille sagen, wenn sie eingewiesen werden wollte?
Am besten die Wahrheit – was bedeutete, daß ich später dafür unter Beschuß stehen würde. Wenn die Klinik-Oberen Camille nicht einlieferten, weil sie nicht wußten, was sie mit dem Hund machen sollten, würden sie es gegenüber Camille niemals zugeben. Die Verwaltung würde die Assistenzärzte zwingen, Camille zu sagen, daß eine Einweisung nicht nötig war.
Mediziner hatten immer schon ein ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit. Oft war es für sie schwerer, die Wahrheit zuzugeben, als sie zu finden – die lange Geschichte der Lügen, mit denen Sterbende über ihren Zustand getäuscht wurden, belegt das. Nur gut, daß die Leitung mich sowieso schon für einen unberechenbaren Hitzkopf hielt, so daß ich nicht allzuviel zu verlieren hatte, was meinen Ruf betraf – wenn man das als gut bezeichnen konnte.
Ich legte Willys Brief in die Schublade. Leider konnte dieses verdammte Ding ein Beweis für ein zukünftiges Verbrechen sein, und außerdem wollte ich in der Lage sein, es noch einmal lesen und überdenken zu können. Es mußte doch einen Weg geben herauszufinden, was Willy vorhatte.
Ich ging hinunter in die Notaufnahme. Fred Feuerstein hat die Aufzüge entworfen, also nahm ich, wie der Rest des Personals, die Treppe. Ich ging geradewegs ins Schwesternzimmer. »Ich suche Dr. Stenson«, sagte ich. Ich trug mein Klinik-Schildchen, so daß die Schwester, die ich nicht kannte, kaum hochschaute, bevor sie mich den Gang hinunterführte. Was man in Kinofilmen zu sehen bekam, war gar nicht so falsch. Es wäre nicht allzu schwierig, wie ein Arzt auszuschauen. Na prima. Willy hatte mich bereits in eine komplette Paranoikerin verwandelt. Schon überlegte ich, wie einfach es für ihn wäre, an die Orte zu gelangen, an denen ich mich aufhielt.
Ich fand Suzanne im Arztzimmer, wo sie gerade Krankenblätter ausfüllte. Entlang des Zimmers verlief auf Sitzhöhe eine Theke, an der mehrere Ärzte saßen und ihre Notizen machten oder telefonierten. Krankenhausärzte machten sich generell Notizen, wenn sie einen Patienten sahen. Das klang gut und war es im Grunde auch, außer daß es in Krankenakten endete, die so dick waren, daß sie nach einer Weile niemand mehr lesen wollte. Natürlich verursachte das ab und an eine Katastrophe.
Suzanne war eine Ausnahme. Sie las die Krankenakte von Anfang bis Ende, egal wie oft der Patient schon eingewiesen worden war. Suzanne las noch einen Moment weiter, bevor sie aufblickte.
Ich sah die vertrauten Augenringe, die mir verrieten, daß sie schon die ganze Nacht auf war. Assistenzärzte wurden auf gefährliche Weise ausgenutzt, weil man sie routinemäßig zu 24- oder sogar 36-Stunden-Schichten einteilte. Es gab nur wenige Staaten, die das verboten, und leider war Vermont keiner von ihnen.
Natürlich war das für die Patienten, die eine miserable Behandlung bekamen, genauso furchtbar wie für die Assistenzärzte, die anfingen, ihr Leben zu hassen. Außerdem gab es da auch noch das kleine Problem, daß es schlecht für ihre Ausbildung war, weil niemand denken konnte, wenn er derart müde war.
Trotz aller Erklärungen der Klinikleitung geschah dies aus einem einzigen Grund: Geld. Leute einzustellen, die all diese Schichten machen konnten, kostete einen Haufen Geld. Assistenzärzte waren billig, und sie hatten vor allem keine Rechte.
Suzanne war schlank – wer hatte schon Zeit zu essen? – und hatte schulterlanges, dunkles Haar und helle Augen. Ich weiß nicht, warum Psychologen soviel Energie damit vergeuden, IQ-Tests zu entwickeln. Man kann an den Augen ziemlich gut erkennen, wie klug jemand ist. Jeder, der Suzanne ansah und nicht erkannte, daß sie wirklich sehr, sehr clever war, brauchte selber einen IQ-Test.
»Da bin ich ja froh«, meinte ich zu ihr, »wenn ich dir den Tag mit einer meiner Patientinnen verschönern kann. Ich weiß ja, wie gelangweilt du sonst hier herumsitzt, ohne etwas zu tun zu haben.«
»Eigentlich«, meinte sie, »sehen wir hier unten nicht so viele Patienten von dir. Ich dachte schon, du hättest dein Feingefühl eingebüßt, aber von wegen! Ich habe herausgefunden, daß du sie erst einmal gesehen hast. Ich schätze, wir können noch nicht einmal von dir erwarten, daß du jemanden in nur einer Sitzung kurierst.«
»Warum eigentlich nicht«, antwortete ich. »Die Verwaltung tut es doch auch. Also, was ist zu tun?« Ich wußte, daß Suzanne nicht allzuviel Zeit hatte.
»Nicht viel«, sagte sie. »Was ist der Frau passiert? Sie kann es uns anscheinend nicht sagen, und alles, was wir wissen, ist, daß sie in den Büschen herumgekrochen ist und von einem Flashback in den anderen fiel.«
»Was hat sie gesagt?«
Suzanne seufzte. »Nicht viel. Sie bekam einen Panikanfall und rollte sich zusammen. Dann schauten wir alle auf den Hund und hofften, daß der nicht glaubte, daß wir das Problem wären.«
»Medikamente?« fragte ich.
»Genug Haldol, um einen Elefanten umzulegen – vorausgesetzt, daß sie es nicht dem Hund gegeben hat.«
»Du hoffst, daß sie es dem Hund gegeben hat.«
»Bloß so ein Gedanke ...«, antwortete sie. »Die Frage ist nur«, fuhr sie fort, »was machen wir mit ihr? Wir haben ihr schon alle gängigen Medikamente gegeben. Wir können sie nicht einweisen. Hat sie Verwandte oder Freunde, die sich um sie kümmern können?«
»Nicht daß ich wüßte«, antwortete ich.
»Also«, sagte sie, während sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und die Arme vor der Brust kreuzte, »was möchtest du, daß wir mit ihr machen?«
»Kuriert sie«, sagte ich. »Was sonst?«
Ich stürmte hinaus, um nach Camille zu sehen. Vorher hätte ich eigentlich gerne die Krankenakte gelesen, aber Suzanne brauchte sie noch.
Auf dem Weg zum Saal ärgerte ich mich. Entgegen der populären Auffassung einiger Boulevardblätter neigten gute Therapeuten nicht dazu, den Zustand ihrer Patienten zu verschlimmern. Ich hatte geglaubt, daß Camille stabilisiert war, als sie meine Praxis verließ. Also, warum war sie hier? Wenn das hier nichts war, was sie jeden Tag tat, mußte ich der Tatsache ins Auge blicken, daß die Therapiesitzung bei ihr eine Dekompensation verursacht hatte: An Koinzidenz zu glauben war ein bißchen hart.
Wenn aber die Therapie das Problem war, hieß das, daß ich ein noch größeres hatte. Wenn Camille überhaupt nicht darüber sprechen konnte, was passiert war, ohne gleich zusammenzubrechen, egal wieviel Zeit wir darauf verwandten oder wie indirekt wir vorgingen: Wie weit konnten wir da kommen? Um ein bißchen Ruhe zu finden, mußte sie wenigstens über einen kleinen Abgrund springen. Was sollte ich tun, wenn sie auch das nicht konnte?
Schlimmer noch, ich hatte das unangenehme Gefühl, daß Camille nicht die einzige war, die in einen Abgrund schaute. Noch an diesem Morgen war Willy nur eine vage Möglichkeit gewesen, ein flüchtiger Vielleicht-taucht-er-auf-vielleicht-auch-nicht-Gedanke. Jetzt plante er in meinem Vorgarten einen Spießrutenlauf und schickte mir eine schriftliche Einladung.