Kapitel 6

Der größte Raum in der Notaufnahme sah aus wie eine Miniatur-Sporthalle, die in kleine Felder zersplittert war. Darauf verteilten sich Menschen, die voneinander nur durch einen Vorhang getrennt waren, der manchmal halb, manchmal ganz zugezogen war. Die Vorhänge nützten den Patienten wenig. Natürlich konnte niemand den malträtierten Körper des anderen sehen, während man behandelt wurde, aber jeder konnte hören, was die Angelegenheit des anderen war. Es war nicht gerade angenehm, mit einem gebrochenen Ellenbogen dazuliegen und auf der einen Seite ein Kind weinen zu hören, dessen Gesicht gerade genäht wurde, und auf der anderen Seite eine schluchzende alte Frau zu haben, deren Mann nach einer Herzattacke gerade für eine Operation vorbereitet wurde.

Aber wie der Operationssaal ist auch die Notaufnahme ein Ort, an dem physische Nöte Vorrang vor emotionalen haben. »Zwischenmenschliche Belange« – wie das Schlagwort hieß, mit dem Krankenhäuser humanisiert werden sollten – wurden in der Notaufnahme nicht allzu wichtig genommen. Man mußte das Leben eines Patienten erhalten, bevor man sich um seine Gefühle kümmern konnte. Ein großer Raum half dem Pflegepersonal, schnell von einem zum anderen zu kommen, wenn es nötig war.

Ich wanderte umher, bis mir klar wurde – welche Überraschung –, daß sie den Hund nicht hier hatten unterbringen wollen. Ich ging zurück zum Schwesternzimmer und fragte nach Camille. Dann wurde ich zu einem kleinen Untersuchungszimmer mit geschlossener Tür geführt. Ich klopfte leise an, steckte meinen Kopf hinein und fragte: »Darf ich hereinkommen?«

Camille saß gegenüber der Tür, mit dem Rücken zur Wand. Anfangs war ihr Blick ausdruckslos, und mir wurde klar, daß sie mich nicht wiedererkannte. Sie starrte ins Leere und sah desorientiert aus. Ich fragte mich, wie erregt sie ohne das Haldol gewesen wäre, das die Flashbacks zwar unter Kontrolle brachte, aber auch ein starker Tranquilizer und ein Psychopharmakon war, bei dem sie sich anschließend ziemlich elend fühlen würde. Niemand, der es schon einmal genommen hatte, wollte es noch einmal nehmen, egal wie verrückt er war.

Langsam betrat ich das Zimmer. Camilles Blick schärfte sich, und ihr Gesicht hellte sich auf. Ich hätte ihre beste Freundin sein können. Das war so, als ob man ein paar tausend Meilen von zu Hause entfernt jemanden traf, den man kaum kannte. Beziehungen waren immer relativ.

Ich bewegte mich langsam. Menschen mit einem posttraumatischen Streß-Syndrom waren nervös, und es gab nicht genug Haldol auf der Welt, um sie zu beruhigen. Ich setzte mich so nah wie möglich, was nicht nah genug war. Ich wußte, daß ihr im Moment jeder im Umkreis von drei Metern als Eindringling vorkommen konnte.

Keeter hob den Kopf, als ich hereinkam. Sie lag zwischen Camille und der Tür. Ich wußte nichts über den Umgang mit Schutzhunden, aber wenn Menschen es mochten, begrüßt zu werden, dann würde es Keeter vielleicht auch gefallen, dachte ich. Gerade wollte ich sie ansprechen, als mir klar wurde, daß ich lieber alles vermeiden sollte, woraus sich schließen ließ, daß Keeter hier die dominante Figur war. So sprach ich zuerst Camille an.

»Hallo«, sagte ich leise, »ich habe gehört, daß Sie eine schwere Zeit hatten.« Sie sagte nichts, legte bloß den Kopf in ihre Hände und begann zu weinen, beziehungsweise weinte erneut. Ihr Gesicht war rot und geschwollen und naß von Tränen.

»Guten Tag, Keeter«, sagte ich ruhig. »Ich hoffe, du behältst die Sache im Auge.« Keeter antwortete trotzdem nicht. Sie sah aus, als ob sie denken würde: »Ha, der älteste Trick der Welt.«

»Er ist wieder da«, meinte Camille. »Ich wußte, daß er wiederkommen würde.«

»Er ist wieder da?« wiederholte ich. Das wurde langsam kompliziert. Wenn ich zuviel fragte, würde es wieder einen Flashback auslösen, und sie würde völlig zusammenbrechen. Aber früher oder später mußte ich wissen, was passiert war. Wieviel konnte ich fragen?

Camille nickte und sagte nichts.

»Der gleiche Kerl?« fragte ich.

Sie nickte erneut.

»Sie haben ihn gesehen?« fragte ich. Es sah so aus, als ob ich mehr über den Umfang ihrer Flashbacks erfahren mußte. Ich hatte zwar schon geglaubt, ich wüßte, wie sie aussahen, aber es gab alle möglichen Arten: emotionale Flashbacks, somatische Flashbacks ... eine komplette Sicht- und Klang-Halluzination, das war das extremste.

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie haben ihn nicht gesehen?« Das war etwas seltsam. Ich hatte Camille schon auf einen kompletten »Da-ist-er«-Flashback festgelegt.

Sie schüttelte wieder den Kopf. »Es war dunkel. Er muß schon die ganze Zeit dagewesen sein.« Sie hielt inne und weinte heftiger. »Ich lag im Bett.«

»Camille, Sie kennen Flashbacks, nicht wahr? Sie wissen, daß er nicht wirklich da war, sondern daß es eine Rückblende war?«

Sie schaute mich direkt an, und für einen Augenblick war ihr Blick überraschend klar und intensiv. »Es war kein Flashback«, meinte sie bestimmt.

Es entstand eine Pause. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Camille starrte mich nur weiter an.

»Sie meinen, Sie glauben, daß er wirklich da war?«

»Er war da. Er war wirklich da.«

Wenn sie glaubte, daß der Kerl wirklich da war, mußte ihr Panik-Level unglaublich hoch gewesen sein. Flashbacks waren schlimm genug, aber dabei wußte sie immerhin, daß der Täter nicht wirklich zurückgekehrt war, um sie zu verschleppen und die ganze Sache von vorne beginnen zu lassen.

»Camille«, sagte ich sanft, »wie konnte er wiederkommen? War Keeter nicht bei Ihnen? Glauben Sie, daß Keeter so jemanden an Sie ranlassen würde? Waren Sie nicht mit Keeter zusammen im Haus?«

»Er war da«, sagte sie bestimmt und senkte dann wieder den Blick. »Ich habe nie geglaubt, daß Keeter ihn aufhalten könnte. Niemand kann ihn aufhalten.«

Während ich versuchte, das einzuordnen, entstand erneut eine Pause. Wahrscheinlich hatte diese Frau schon Tausende von Flashbacks gehabt. Was machte diesen so anders? Was hatte sie dazu gebracht zu glauben, daß er wirklich da war? Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr Camille fort. Ihre Stimme senkte sich bis zu dem Punkt, wo sie kaum noch zu hören war. »Er sagte, es würde diesmal schlimmer werden, viel schlimmer.«

Was hatte ihr dieser Kerl denn überhaupt angetan? Es muß Vergewaltigung gewesen sein, aber was für eine Art Vergewaltigung? Da gab es ein paar grausame Möglichkeiten: Vergewaltigung mit Objekten, Vergewaltigung, während das Opfer gefesselt war. Ich hatte schon eine Frau behandelt, die neben dem Grab vergewaltigt wurde, das sie vorher für sich hatte ausheben müssen.

»Wodurch sollte es schlimmer werden?« fragte ich. Es ist schon seltsam, wie gut man eine Unterhaltung führen kann, ohne zu wissen, wovon der andere redet. Vielleicht half es sogar: Man sagte weniger und hörte besser zu.

Camille antwortete nicht. Ich war sicher, sie wußte es nicht. Sie hatte aufgehört, auf ihre Tränen zu achten, die ihr Gesicht hinunterliefen. Ihre Nase lief ebenfalls, aber sie schniefte bloß. Wenn sie noch panischer wurde, würde sie auch das nicht mehr beachten. Ab einem bestimmten Panik-Level hörten zivilisatorische Feinheiten auf – selbst Hygiene.

Ich sah eine Kleenex-Box auf dem Tisch stehen und langte hinüber, um sie ihr zu geben. Sie beachtete meine ausgestreckte Hand nicht, so als ob sie gar nicht da wäre, und begann zwanghaft ihr Handgelenk zu reiben. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich wußte, was das bedeutete.

Ich wußte nicht, wie weit ich noch gehen konnte, aber ich machte weiter. Ich konnte nicht fragen, wie lange es gedauert hatte; sie würde es nicht wissen, also fing ich am anderen Ende an. »Wo hat man Sie gefunden?« fragte ich.

»Niemand hat mich gefunden«, sagte sie. »Ich habe zu Gott gebetet, wieder und wieder, aber Er half mir nicht. Niemand half mir.«

Ich versuchte es noch einmal. »Als es vorbei war ...«

Camille unterbrach mich, und es war das erste Mal, daß ich bei ihr ein Aufblitzen von Ärger feststellte. »Es war nicht vorbei«, meinte sie. »Es wird niemals vorbei sein.«

Einen Moment blieb ich still, um herauszufinden, wie ich fragen sollte. »Wohin sind Sie gegangen?« fragte ich. »Als Sie rauskamen?«

»Ich bin nie rausge ... oh ...«, sagte sie, als sie bemerkte, was ich sie fragen wollte. »In einen Zwinger«, sagte sie schließlich. »Ich bin über den Zaun geklettert und habe mich bei den Hunden versteckt. Ich hatte zuviel Angst, um in ein Haus zu gehen, und ich ... ich hatte nichts an. Ich habe gedacht, daß ich bei den Hunden sicher wäre.« Sie verstummte. »Nein, das habe ich nicht«, meinte sie bestimmt. »Ich habe nicht geglaubt, daß ich irgendwo sicher sein könnte.« Ich fing an, die Geschichte zusammenzusetzen – aber es gab immer noch eine Million Details, die ich nicht kannte.

»Hat er Sie gehen lassen?« fragte ich. Das klang nicht gerade nach einer Situation, aus der man leicht herauskam.

»Ich hatte einen Anfall«, meinte sie. »Ich hatte schon Jahre keinen mehr gehabt. Ich erinnere mich nicht an viel. Als ich ihn bekam, sagte er gerade, daß ich es nicht wert sei, umgebracht zu werden. Ich schätze, das war wahr, aber manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, er hätte es getan. Denn dann müßte ich das nicht noch einmal durchmachen.«

Ihre Stimme klang so resigniert, daß ich eine Gänsehaut bekam. Diese Frau dachte wirklich, daß ihr Folterer zurückgekehrt war, und glaubte nicht, daß sie oder irgend jemand sonst ihn davon abhalten konnte, es wieder zu tun – was auch immer es war. Schlimmer noch, dieser Hurensohn hatte ihr Selbstwertgefühl so weit vernichtet, daß sie sogar glaubte, es nicht wert zu sein, getötet zu werden.

Nun hatte ihre Nase angefangen zu tropfen, aber sie beachtete es nicht. Automatisch wollte ich ihr wieder das Kleenex geben, als ich bemerkte, daß es völlig zerknüllt war. Ich warf es weg, nahm die Kleenex-Box und zog ein neues raus. Da hörte ich einen scharfen Atemzug. Überrascht blickte ich auf.

Camilles Pupillen waren stark erweitert, und dann zogen sie sich auf Stecknadelgröße zusammen. Sie saß vollkommen starr da, während ihre Hände den Stuhl umklammerten. Ihre Fingerknöchel waren weiß. Ihr Gesicht fing an, diesen leeren Blick zu bekommen, der sagte, daß ich nicht mehr im Zimmer war.

»Camille«, sagte ich eindringlich. »Schauen Sie auf den Stuhl; schauen Sie auf Keeter. Was sehen Sie?« Sie verlor gerade den Kontakt zu ihrer Umgebung. Wenn ich sie dazu bringen konnte, sich auf Keeter oder irgend etwas im Zimmer zu konzentrieren, würde das vielleicht helfen, daß sie im Hier und Jetzt blieb.

Aber es war vergebens. Ihre Augen flackerten noch nicht einmal in Keeters Richtung. Statt dessen hob sie die Arme und berührte ihre Wangen. »Lieber Gott, nicht meine Nase. Nur meine Nase, laß mir meine Nase, sonst kann ich nicht mehr atmen.« Ihre Stimme wurde schriller und ihr Atem hektischer. »Nicht meine Augen verbinden«, sagte sie. »Ich kann nichts mehr sehen ... Ich kann nichts mehr sehen«, sagte sie, und ihre Stimme wurde noch schriller.

»Was?« fragte ich. »Was ist auf Ihrem Gesicht?«

Sie wandte mir ihr Gesicht zu wie eine Blinde. »Können Sie es nicht sehen?« Dann verlor ich sie endgültig. Sie rutschte leise vom Stuhl und rollte sich zusammen, legte die Hände auf ihren Kopf und fing an, hin und her zu schaukeln. Stille erfüllte das Zimmer, nur unterbrochen durch das leise Geräusch, das Camille machte. Wenn ich mich vorgelehnt hätte, hätte ich es vielleicht sehen können. Aber ich tat es nicht.

Keeter reagierte kaum auf das, was passierte. Sie sah todmüde aus, sicher war sie es auch. Ihre Besitzerin benahm sich wahrscheinlich schon den ganzen Tag so.

Ich schaute auf die Kleenex-Box in meinen Händen, um zu verstehen, was passiert war. Es war eine ganz normale Kleenex-Box. Als ich sie wieder hinstellen wollte, erstarrte ich. Dahinter, auf dem Tisch, wo vorher die Kleenex-Box gestanden hatte, lag das Problem. Ich erinnerte mich sofort an die Szene in meinem Büro. »Mama«, hatte sie gesagt, und ich hatte geglaubt, sie riefe ihre Mutter. O Mann, all die Dinge, die mir Leute erzählten, die ich aber nicht hörte.

Es war ein einfaches Ding, das auf dem Tisch lag. Man findet es in jedem Haushalt, in jedem Krankenhaus. Für die meisten Menschen war es beruhigend, wenn sie es um sich hatten. Es war wirklich nichts Besonderes, einfach nur eine dicke, gewöhnliche Rolle Klebeband.