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Lyall
Der Spießrutenlauf nahm kein Ende. Nachdem mich unsere Concierge Isla noch am Abend ins Old Arms geschickt hatte, um irgendeine besondere Gewürzmischung für den Koch des Grand zu holen, erteilte Moira mir am nächsten Morgen den Auftrag, nachmittags zum Bürgermeister zu gehen, um die Genehmigung für die Highland Games in sechs Wochen zu beantragen. Natürlich gab es für solche Aufgaben Boten im Hotel. Aber offenbar hatte man entweder eine diebische Freude daran, mich zu quälen – oder meine Tante glaubte tatsächlich, dass meine Wiedereingliederung so funktionieren würde. Als ob. Wenn ich an die Welle aus Ablehnung dachte, die mir im Pub entgegengeschlagen war, wurde mir klar, dass es schon ein Wunder brauchte, um die Leute vergessen zu lassen, was passiert war. Meine bloße Anwesenheit schien sie wieder in die Zeit vor drei Jahren zurückzuversetzen – und mich gleich mit. Allerdings konnte ich nichts anderes machen als zu lächeln und so zu tun, als würde mir das nichts ausmachen. Denn auch wenn ich durchaus in der Lage war, mir auf andere Weise Respekt zu verschaffen, war das hier leider völlig fehl am Platz. Ich hasste es mit jeder Faser meines Körpers, dass ich nach Grandmas Pfeife tanzen musste.
Bis zum Nachmittag hatte ich immerhin Schonfrist, um etwas zu tun, das ich tatsächlich mochte: arbeiten. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, nahm die Kopfhörer und startete das aktuelle Album der Twenty One Pilots . Dann begann ich, die Pläne des Neubaus mit Anmerkungen zu versehen, falls Moira auf mich hören sollte und einige der Trockenbauwände nicht ziehen würde. Und wie immer, wenn ich an einem Grundriss arbeitete, entspannte sich etwas in mir. Berechnungen, Linien, Strukturen, geordnete Kreativität, das alles beruhigte mich. Als ich zwei Stunden später von den Plänen aufsah, fühlte ich mich fast wie ich selbst.
Und hungrig.
Ich hätte die Concierge Isla anrufen können, um mir etwas zu essen zu bestellen – am besten mit breitestem US-Akzent, um sie richtig auf die Palme zu bringen. Früher hätte ich genau das getan. Aber zum einen war Moira im Haus und würde mir dann einen Vortrag halten, dass zu Kilmores Bewohnern auch die Angestellten des Hotels zählten. Und zum anderen hatte ich das Bedürfnis, mich zu bewegen.
Der Gang im obersten Stock war menschenleer, obwohl das Grand zu dieser Zeit im Juli nahezu ausgebucht war. Suite-Gäste trieben sich einfach nicht auf den Fluren herum. Ich lief in Richtung Seitentreppe, um in meinem Jeans-und-Shirt-Look niemandem zu begegnen. Aber als ich gerade abbiegen wollte, fiel mir eine offene Tür auf: die zum Dachgewölbe des Hotels, wo sich unsere Lagerräume befanden. Eigentlich ging keiner außer Domhnall dort hoch, der Hausmeister des Grand  – einer der Menschen, die mich auch nach allem, was passiert war, noch gemocht hatten. Ich hatte ihn noch gar nicht gesehen, seit ich hier war. Also ignorierte ich meinen knurrenden Magen und stieg die ausgetretenen Holzstufen hinauf.
Oben flirrte Staub in den dünnen Strahlen der Sonne, die durch die Ritzen im Gebälk hereinfiel. Ich schob die Tür zum Lager auf und spähte auf der Suche nach dem Hausmeister in den dämmrigen Raum. Es war jedoch nicht Domhnall, der dort zwischen zwei Regalen stand und den prüfenden Blick über die Gegenstände darin schweifen ließ.
Es war Kenzie.
Sie hatte mir den Rücken zugewandt, aber ich erkannte sie an den rotbraunen Haaren, die das Licht der schwachen Glühbirne an der Decke reflektierten, und an ihrem auffälligen Tattoo. Sie streckte sich nach etwas, das auf dem obersten Brett lag, und ich starrte für einen Moment auf die nackte Haut, die dadurch an ihrem Rücken zum Vorschein kam. Verschwinde lieber, bevor du auf dumme Gedanken kommst. Ich hörte nicht auf die Stimme in meinem Kopf. Stattdessen trat ich noch einen weiteren Schritt in den Raum hinein, so laut, dass sie es hören musste.
»Hey, brauchst du vielleicht Hilfe?«, fragte ich.
Kenzie fuhr erschrocken herum, fing sich aber schnell wieder.
»Von dir?« Sie sah mich abweisend an. »Nein.«
»Das sieht aber anders aus.«
Ihre Augen verengten sich weiter. »Ich bin durchaus in der Lage, einen Ballen Stoff von einem Regal zu holen, vielen Dank.« Sie sagte es bissig und der Hinweis war deutlich: Es war Zeit, den Rückzug anzutreten. Und trotzdem bewegte ich mich nicht vom Fleck.
Als Kenzie das bemerkte, ließ sie von ihrem Vorhaben ab und verschränkte die Arme. »Sag mal, hast du nichts Besseres zu tun? Ich dachte immer, Snobs wie du machen in ihrer Freizeit so wahnsinnig aufregende Dinge. Golfen zum Beispiel. Mit Supermodels schlafen. Auf niedliche Tiere schießen. Oder Geld zählen.«
Ich hob eine Augenbraue und unterdrückte ein Lachen. »Jagen und Geldzählen, ernsthaft? Das 20. Jahrhundert hat angerufen, es will seine Klischees zurück.«
»Ach, dann willst du das etwa leugnen?«
»Allerdings«, sagte ich und lehnte mich gegen eines der Regale. »Wenn du wüsstest, wie mies ich golfe, würdest du das sofort zurücknehmen. Und ich habe noch nie auf Tiere geschossen oder mein Geld gezählt.«
»Schade, denn dann wärst du wenigstens bis in alle Ewigkeit beschäftigt«, raunzte sie und ließ keinen Zweifel daran, was sie von Leuten wie mir hielt. Moment mal. War das nicht meine Masche gewesen?
»Hat da etwa jemand Vorurteile, Miss Bennet?« Der Name der Figur aus Stolz und Vorurteil war mir einfach so in den Sinn gekommen, aber als ich ihn aussprach, sah Kenzie beinahe ertappt aus. Der Ausdruck war jedoch sofort wieder verschwunden.
»Du hast Jane Austen gelesen?«, fragte sie skeptisch.
»Ich war in Eton. Natürlich habe ich Jane Austen gelesen.«
»Und dir gleich Mister Darcy als Vorbild genommen, wie es scheint«, schnaubte sie. Wenn sie diese steile Falte zwischen den Augenbrauen bekam, sah sie wirklich umwerfend aus. »Aber das passt ja. Leute wie ihr müsst andere Menschen offenbar nicht mit Respekt behandeln.«
Ihr Vorwurf traf mitten ins Ziel. Ich richtete mich auf und sah sie ernst an. »Ich habe das bei Carson’s nicht gesagt, um dir wehzutun, Kenzie.«
»Ach nein?« Sie schien noch mehr sagen zu wollen, biss dann aber die Zähne aufeinander. Ich ahnte, warum – sie wollte mir nicht zeigen, dass meine Worte sie tatsächlich verletzt hatten. Und das bedeutete, unsere Begegnung hatte sie nicht kaltgelassen. Ein Teil von mir frohlockte darüber … während ein anderer genau wusste, das hier war zum Scheitern verurteilt. Vollkommen zum Scheitern verurteilt.
»Nein«, sagte ich trotzdem. »Das war nicht meine Absicht. Ich dachte, du würdest nicht hören, was ich zu ihm sage.«
Kenzie schnaubte wieder, und ich merkte, dass sie meine Worte völlig falsch verstanden hatte. Ich atmete ein, wollte es berichtigen … und stockte. Lass das! Je näher du ihr kommst, desto schwieriger wird es, sie auf Abstand zu halten. Und das musste ich um jeden Preis. Also blieb ich stumm. Und Kenzie trat passenderweise einen Schritt zurück.
»Vielleicht solltest du dann lieber gehen. Sonst kommt wieder jemand vorbei, und du sagst nochmal etwas, das mich nicht verletzen soll.« Sie verdrehte die Augen, wandte sich ab und ging wieder zu dem Regal, das immer noch viel zu hoch für sie war. Ich wollte mich umdrehen und sie allein lassen, aber als sie sich nach etwas umsah, auf das sie steigen konnte, gab ich mir einen Ruck. Es würde mich nicht in Gefahr bringen, ihr kurz zu helfen.
Schließlich hatte ich sie erfolgreich daran erinnert, dass ich kein netter Kerl war.