8
Kenzie
Es tat so unglaublich
gut, Lyall stehen zu lassen, nachdem er mir erneut die ganze Bandbreite seines einnehmenden Wesens präsentiert hatte. Er hatte also gedacht, ich würde ihn bei Carson’s
nicht hören? Das machte es ja so viel besser. Und dann seine Antwort mit den Klischees, als würde ich nicht merken, dass er die Supermodels in seiner Aufzählung ausgelassen hatte. Ja, du bist heiß, ich habe es verstanden. Aber deswegen bist du trotzdem ein Arsch.
Der Ballen mit Tartan-Stoff, den ich eben für Lyall verlassen hatte, lag immer noch ganz oben auf dem Regal, als ich zu ihm zurückkehrte. Vielleicht konnte ich auf einen der alten Stühle steigen. Oder diese Kommode dort drüben herschieben …
»Jetzt sei nicht so stur und lass mich dir helfen«, erklang es hinter mir.
Ich schob bockig das Kinn vor. »Ich sagte doch, ich schaffe das schon.«
»Wenn dir nicht demnächst zwei Meter lange Arme wachsen, dann wohl eher nicht.« Seine schwarzen Augen musterten mich streng. »Und falls du denkst, du könntest dich auf einen der Stühle stellen – vergiss es. Die sind morsch und halten dich nicht aus.«
Moment, hatte er gerade gesagt, ich wäre zu schwer? »Und ich dachte, du könntest nicht noch
charmanter werden«, sagte ich.
»Ich muss nicht charmant sein, um dich an einer blöden Idee zu hindern. Du wirst hier nicht verunglücken, während ich in der Nähe bin. Das fällt nur auf mich zurück. Falls es dir entgangen ist, diese Stadt steht nicht besonders auf mich.«
»Woher das wohl kommt, wo du doch so ein höflicher junger Mann bist«, sagte ich sarkastisch. »Unvorstellbar, dass dich jemand nicht leiden kann.«
Sein Gesicht verhärtete sich, und ich hatte plötzlich das Gefühl, ihn tatsächlich verletzt zu haben. Aber dann nickte er nur.
»Wenn du mich einfach kurz helfen lässt, verschwinde ich, und du musst dich nicht mehr mit mir abgeben. Also?«
Da war etwas Wahres dran, deswegen trat ich einen Schritt zur Seite und gab ihm damit mein Einverständnis.
»Ich brauche den Ballen dort, den in Folie.«
Er schob sich zu mir in die Nische und reckte sich nach oben, um den Ballen auf dem obersten Regal zu erreichen. Mein Blick fiel auf die angespannten Muskeln seiner Arme, und ich spürte, wie ungefragt Hitze in mir aufstieg. Wow
, spottete ich über mich selbst. Kaum stand ein unhöflicher, aber dummerweise gut aussehender Kerl vor mir, überließ mein Verstand den niederen Instinkten das Feld? Lyall Henderson war in der Tat der Teufel.
»Hab ihn.« Er zog den Ballen mit einem Ruck vom Regal herunter. Die Plastikfolie war jedoch zu glatt und rutschte ihm plötzlich durch die Finger. Ich streckte die Hände aus, um danach zu greifen, aber das Ding war verflucht schwer und schmierte ab. Lyall packte mich und brachte uns beide aus der Schusslinie, bevor der Ballen neben uns auf den Boden knallte.
»Hatte
ihn«, korrigierte sich Lyall trocken. »Alles okay bei dir?«
»Ja, klar«, antwortete ich atemlos.
Ich war ihm sehr nahe, meine Hände lagen auf seinen Armen, ich spürte die warme Haut unter meinen Fingern. In mir wehrte sich etwas dagegen, loszulassen, aber dann nahm ich die Hände herunter. Dabei streiften sie seine und ich hielt die Luft an – aber nicht, weil die Berührung unangenehm war. Im Gegenteil. Meine Fingerspitzen kribbelten, als wären wir beide elektrisch aufgeladen. Ich schaute auf, sah Lyall direkt in seine dunklen Augen …
… und machte einen Schritt zurück, ohne es bewusst entschieden zu haben. Verdammt. Was war das denn gewesen?
Es hatte sich angefühlt, als würde etwas anderes mich steuern, eine Macht, die viel stärker war als meine Vernunft. Ich holte Luft und drängte das Gefühl beiseite.
»Also, das hätte ich auch geschafft«, sagte ich dann und deutete auf den Ballen, der auf den staubigen Holzdielen lag.
»Nein, hättest du nicht. Schließlich wärst du nie an das Ding herangekommen, um dich dann davon erschlagen zu lassen.« Lyalls Stimme klang belustigt, und als ich aufsah, bemerkte ich, dass, was auch immer ich eben noch in seinen Augen gesehen hatte, verschwunden war. Da ich aber im Moment auch keine Arroganz entdeckte, beschloss ich, ihn nicht gleich wieder zum Teufel jagen zu wollen – sondern seine Muskeln lieber für meine Zwecke zu nutzen. Nein, nicht so.
»Wo du gerade davon sprichst«, begann ich unschuldig. »Glaubst du, dass du mir den Ballen vielleicht bis ins Büro eures Hausmeisters tragen könntest? Dann kann ich mir dort ein Stück Stoff abschneiden.«
Er sah mich zweifelnd an. »Dazu musst du in Domhnalls Büro? Hat er die einzige Schere in diesem Gebäude? Wenn ja, muss ich dringend meine Tante fragen, ob das Grand
finanzielle Probleme hat.«
Ich sah ihn an. »Täusche ich mich oder versuchst du nur, dich vor dem Tragen zu drücken?« Dann schlug ich mir in gespielter Erkenntnis vor die Stirn. »Natürlich! Mister Darcy hat für so etwas selbstverständlich Personal. Dumm von mir. Lass den Ballen einfach liegen, ich bitte jemand anderen um Hilfe.«
»Nicht nötig.« Schon hatte Lyall sich heruntergebeugt und den Stoffballen mit Leichtigkeit auf seine Schulter gewuchtet. »Siehst du, alles bestens.« Dann deutete er zur Tür. »Nach Ihnen, Miss Bennet.«
»Vielen Dank.« Ich knickste, schritt voran durch die Lagertür und stieg die schmale Treppe hinunter. Lyall, durch die sperrige Last gehandicapt, folgte mir langsamer.
»Wofür brauchst du den Stoff eigentlich?«, fragte er, während er vorsichtig die steile Stiege hinabkletterte.
»Für meinen Entwurf. Ich habe beschlossen, ein Moodboard zu erstellen, um deine Tante und Paula zu überzeugen. Skizzen und 3-D-Modelle sind ja nett, aber ich wollte auch etwas zum Anfassen.« Kenzie, könntest du aufhören, so normal mit ihm zu reden? Er ist ein unhöflicher Idiot, schon vergessen? – Er trägt gerade einen mehrere Kilo schweren Stoffballen für mich, also muss ich ihn ja wohl bei Laune halten.
»Gute Idee«, antwortete Lyall. »Ich weiß zwar nicht, ob man Moira diesen altmodischen Unfug austreiben kann, aber einen Versuch ist es wert.«
»Dass du von Paulas Entwurf nicht viel hältst, habe ich schon gemerkt«, sagte ich zu Lyall. »Warum? Willst du ihr einfach nur widersprechen, oder meinst du ernst, was du sagst?«
Er runzelte die Stirn.
»Ich meine es ernst, ich halte nichts von Stillstand. Natürlich ist das Grand
etwas anderes als unsere sonstigen Hotels, aber Moira hat einfach keinen Sinn für Innovation. Sie ist das personifizierte Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht
.«
»Warum arbeitest du dann an dem Projekt mit? Es gibt doch sicher zig andere Neubauten auf der Welt, wo man deinen Sinn für Innovation besser gebrauchen könnte.« Außerdem konnte er sein unvergleichliches Wesen dann woanders zur Verfügung stellen.
Lyalls entspannter Gesichtsausdruck verschwand und seine Miene verschloss sich augenblicklich. »Ich hatte keine Wahl.« Es klang so düster, dass ich nicht wagte, nachzufragen. Also schwiegen wir.
Ich bog neben Lyall in den Gang ein, an dem die Suiten mit ihren breiten, doppelflügeligen Holztüren lagen. Wie gerne hätte ich da mal reingeschaut. Die Suiten des Grand
waren legendär, ich hatte die Bilder auf der Website genau studiert. Aber es war einfach etwas anderes, die Materialien tatsächlich zu sehen und zu befühlen – oder zu betrachten, wie sie sich im Licht verhielten.
Lyall musste meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt haben, denn er blieb stehen.
»Du schaust wie ein Kind vor dem Süßigkeitenregal. Was ist?«
»Ach«, winkte ich ab. »Ich dachte nur daran, dass ich gerne mal in eine der Suiten schauen würde. Sie müssen unglaublich toll ausgestattet sein.«
Er hob die Schultern. »Geschmackssache, schätze ich. Aber wenn du sie sehen willst …«, er zögerte kurz. »Man hat mich in einer davon einquartiert. Und du wirst es nicht glauben, aber ich habe sogar eine Schere in meiner Suite.«
»Was, im Ernst?« Ich nickte beeindruckt. »Direkt neben deiner Briefmarkensammlung?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben verschiedene Schubladen. Sonst fangen die beiden Streit darüber an, mit wem ich mehr Mädchen rumgekriegt habe.«
Nun grinste ich, obwohl mir nach wie vor die Worte durch den Kopf geisterten, die er Carson gegenüber geäußert hatte. Aber wenn Lyall so vor mir stand, mit diesem Lächeln im Gesicht, war ich bereit, das für einen Moment zu vergessen. Vor allem, weil er den Schlüssel für eine der Suiten hatte.
»Gut, du hast gewonnen und darfst deine Muskeln schonen.« Ich nickte gnädig. »Ich muss nur schnell meine Tasche mit den Entwürfen von unten holen, ich habe sie bei Mister Adair im Büro gelassen.«
»Okay. Dann …« Lyall drehte sich mit dem Ballen auf der Schulter um und deutete den Gang entlang. »Es ist Zimmer 412, das letzte links. Klopf einfach.«
Ich nickte und machte mich dann auf den Weg ins Erdgeschoss, wo neben der Lobby die Büroräume des Personals lagen. Währenddessen gingen mir die letzten zehn Minuten durch den Kopf. Wie waren Lyall und ich von Arroganz und bissiger Ablehnung zu Klopf einfach
gekommen?
Ich hatte keine Ahnung.
Aber mit der Aussicht auf Mustertapeten und Polstermöbel interessierte mich das gerade auch nicht.