28
Kenzie
Ja. Das hatte ich.
Ich sah Lyall an und drängte das ungute Gefühl in meinem Inneren beiseite. Gerade noch hatte ich ihm gesagt, dass ich ihm vertraute. Seine Worte brachten das jedoch ins Wanken. Für eine Sekunde schoss mir durch den Kopf, dass Drew Lyall als Psychopathen bezeichnet hatte. Würde er mir jetzt offenbaren, dass er in Wahrheit ein ganz anderer Mensch war? Nein,
mahnte ich mich selbst zur Vernunft. Das ist Schwachsinn.
»Was meinst du damit?«, fragte ich gegen den Druck in meinem Magen an.
»Ich bin daran schuld, dass Ada in den Wald gelaufen ist und danach nie wieder gesehen wurde.« Lyall atmete aus. »Nicht, weil ich sie von einer Klippe gestoßen oder sonst irgendwie zum Schweigen gebracht habe, wie alle denken. Sondern weil wir an dem Abend einen schrecklichen Streit hatten. Und damit die Katastrophe, die das zwischen uns war, auf ein neues Level gehoben haben.«
Ich erinnerte mich, dass Amy davon gesprochen hatte, die Beziehung von Ada und Lyall sei verkorkst
gewesen. Aber ich sagte nichts, sondern ließ ihn weiterreden.
»Das Schlimme ist, ich habe erst gar nichts gerafft, weil sie immer so nett war und sich für mich interessiert hat – für mich
, nicht für mein Aussehen, meinen Namen oder meine Familie. Sie hat mich zwar relativ lange auf Abstand gehalten, aber es hat mich nicht gestört, ich mochte die Dates mit ihr, lange am See zu sitzen, mit ihr zu reden … und als wir dann Sex hatten, war es echt gut. Ich hatte den Eindruck, wir verstehen uns, ich war gerne in ihrer Nähe, wahrscheinlich war ich sogar in sie verliebt.«
Ich sah ihn verwundert an. »Das klingt nach einer schönen Geschichte, nicht nach einer Katastrophe.«
Er lachte bitter. »Ja, weil ich nicht gemerkt habe, wie unsicher und verletzlich sie war. Nach außen hin hat sie immer das toughe, nette Mädchen gegeben und mir erst nichts von dieser anderen Seite gezeigt. Wahrscheinlich war ich auch nicht aufmerksam genug, weil ich mit meinem eigenen Scheiß beschäftigt war, keine Ahnung. Ich hatte mich vorher keinen Funken für Beziehungen interessiert. Also dachte ich zuerst, so wie sie sich verhält, das ist normal.«
»Wie hat sie sich denn verhalten?«
»Ganz anders, als ich sie kennengelernt hatte«, sagte er. »Sie rief mitten in der Nacht weinend an, weil sie davon geträumt hatte, ich würde Schluss mit ihr machen. Ist unangemeldet bei mehreren Essen meiner Familie aufgetaucht, hat mich ständig nach Mädchen von früher gefragt, war unglaublich eifersüchtig auf jede, mit der ich mal etwas gehabt hatte. Und wenn ich ihr gesagt habe, dass mir das echt zu viel wird, hat sie wieder komplett umgeschaltet und alles runtergespielt. Ein paarmal habe ich noch geglaubt, dass wir es auf die Reihe bekommen, aber unsere Treffen wurden immer anstrengender und wir haben eigentlich nur noch gestritten. Ich habe gemerkt, dass wir einander nicht guttun, deswegen habe ich Schluss gemacht. Daraufhin hat sie der halben Stadt verzweifelt ihr Leid geklagt – allen voran Drew. Dass sie alles für mich getan hätte, aber trotzdem nicht gut genug für mich wäre. Und dass ich sie eiskalt abserviert hätte und zur Nächsten gegangen wäre. Du kannst dir vorstellen, wie die Leute in Kilmore darauf reagiert haben.«
Ich war verwundert. »Hast du das einfach so stehen lassen?«
Lyall starrte mich an, und mir schwante, dass er bis jetzt geglaubt hatte, ich wäre nicht auf seiner Seite. Dann atmete er aus, und ich konnte förmlich sehen, wie Erleichterung seinen Körper durchflutete. »Was hätte ich tun sollen?«, fragte er leise. »Jeder im Ort hat sie geliebt
, wegen ihrer sonst total freundlichen Art. Außerdem hat es doch gepasst – ich war schließlich jahrelang der Typ gewesen, der nichts anderes wollte, als jede Nacht eine andere zu vögeln. Also haben sie geschlussfolgert, dass ich Ada schlecht behandelt hätte. Ist ja eigentlich auch kein Wunder. Und in einem kleinen Ort wie Kilmore, da genießen es natürlich alle, etwas auszuschmücken, wenn es was zum Tratschen gibt.«
»Gab es deswegen zwischen Ada und dir diesen Streit?«, fragte ich und runzelte die Stirn.
»Nicht direkt. Es war der Abend am Ende des Sommers, die Feier nach den Highland Games, die meine Familie jedes Jahr veranstaltet. Ada war nicht dort und ich ziemlich erleichtert darüber. Aber dann tauchte sie irgendwann auf und hat mir wieder eine riesige Szene gemacht. Ich hatte keine andere Wahl, als sie da wegzuschaffen, bevor Moira etwas mitbekommt, und bin mit ihr in den Park. Dort hat sie angefangen schrecklich zu weinen und mich auf Knien angefleht, ihr noch eine Chance zu geben. Wortwörtlich auf Knien. Es war unglaublich erniedrigend, und sie tat mir echt leid, also wollte ich sie zu Gavina fahren, bei der sie über dem Laden wohnte. Nur haben wir dann auf dem Weg zum Parkplatz schon wieder übel gestritten, und sie ist einfach weggerannt, in den Wald. Und ich war so wütend auf sie, dass ich ihr nicht gefolgt bin. Das war mein Fehler.«
Ich nickte langsam. »Verstehe. Und danach hat sie niemand mehr gesehen?«
Er schüttelte den Kopf und schwieg kurz, bevor er antwortete. »Nein … Natürlich war die halbe Stadt auf den Beinen, um nach ihr zu suchen, dazu die Polizei, und meine Familie hat extra Kräfte angeheuert, um sie zu finden. Aber nichts, sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ich war der Letzte, der sie gesehen hat, der Letzte, mit dem sie gesehen wurde. Und damit bin ich für Kilmore der Schuldige Nummer eins. Womit sie ja auch recht haben. Nur nicht so, wie sie denken.«
Für einen Moment überrollte mich die grauenhafte Vorstellung, dass eine meiner Schwestern spurlos verschwinden könnte, aber ich drängte sie weg. Stattdessen konzentrierte ich mich auf Lyall, der vor mir saß und aussah, als würde er mein Urteil erwarten. »Weißt du, was ich daran nicht verstehe?«, fragte ich.
»Hm?«
»Warum denkst du, dass es deine Schuld ist?«
»Ich … was?«, stammelte er nur.
»Warum denkst du, dass du die Verantwortung für ihr Verschwinden trägst?«
»Weil sie vermutlich nie in den Wald gerannt wäre, wenn ich mich anständiger verhalten hätte, als ich es getan habe. Ich wusste, wie sie war, dass sie so extrem emotional und unbedacht reagieren konnte, und habe mich trotzdem wie ein Arsch benommen.« Seine Augen waren stumpf vor Scham und Schuld, und ich hielt es nicht länger aus, ihn so zu sehen. Also rückte ich direkt neben ihn und schlang den Arm um seinen Rücken, der so verhärtet war, als wäre er gerade mitten in einem Ringkampf. Zart streichelte ich seinen Nacken.
»Ja, vielleicht hättest du dich anders verhalten müssen«, antwortete ich leise. »Wahrscheinlich sogar. Deswegen bist du aber nicht verantwortlich dafür, dass sie abgehauen ist. Das war ihre Entscheidung.«
Lyall schwieg einige Augenblicke und ich strich weiter über seine Haut.
»Du … meinst das ernst?« Schließlich schaute er mich an, als hätte er mich noch nie gesehen.
»Natürlich.« Ich lächelte leicht. »Glaubt denn sonst niemand, dass es nicht deine Schuld ist?«
Er hob die Schultern. »Doch, schon. Edina, Finlay … meine Mum. Aber niemand, der mich nicht schon mein ganzes Leben lang kennt und nicht objektiv ist.«
Ich musste lachen. »Wie schon gesagt, keine Ahnung, ob ich nach dem hier«, ich deutete auf das zerwühlte Bett, »noch besonders objektiv bin.« Ich wurde wieder ernst. »Aber ich habe ein gutes Gespür für Leute. Bei dir hatte ich so eine Ahnung, dass du in Ordnung bist.«
»Sogar, als ich dich vor Fiona mies behandelt habe?« Er hob eine Augenbraue.
»Nee, da nicht. Und als du Drew bedroht hast, bin ich auch ein bisschen ins Wanken gekommen.« Ich sagte es leichthin, um die Schwere zu vertreiben, die sich über uns, vor allem aber über Lyall gelegt hatte.
Er antwortete nichts, aber seine Muskeln entspannten sich unter meinen Händen, und schließlich hob er den Kopf und sah mich an.
»Alles okay?«, fragte ich leise.
»Ja, jetzt schon.« Er lehnte sanft seine Stirn gegen meine. »Danke«, sagte er. »Danke, dass du mir glaubst.«
»Danke, dass du es mir gesagt hast.« Ich lächelte als Antwort und nutzte den Moment, um ihn zu küssen. Es war ein zärtlicher Kuss, der sich anfühlte, als würde das mit uns schon viel länger gehen, als es tatsächlich der Fall war.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich dann. »Hast du Hunger?«
»Immer.« Er grinste, und ich konnte erkennen, dass er die dunklen Gefilde, in denen er sich in den letzten Minuten aufgehalten hatte, langsam wieder verließ. »Aber vorher sollten wir vielleicht etwas essen.«
Ich lachte und raffte mich auf. »Gut. Dann lass uns mal nachsehen, was wir zur Auswahl haben.«
Die Nacht kam und ging, genau wie der Morgen, an dem wir unendlich lang im Bett blieben, über Gott und die Welt redeten und … auch nicht redeten. Erst am späten Vormittag des Samstags standen wir auf, zogen uns an und wechselten den Standort. Lyall schien jeden schönen Platz in den Highlands zu kennen und zeigte mir nicht nur den höchsten Punkt der Gegend, sondern auch einen abgelegenen kleinen See, in dem wir schwimmen gehen konnten. Er hielt es deutlich länger im Wasser aus als ich, denn es war eiskalt, aber wir fanden einen Weg, wie uns wieder warm wurde.
Es war ein nicht weniger als perfekter Tag, mit der perfekten Begleitung, und ich wusste nicht, ob ich in den vergangenen Jahren jemals glücklicher gewesen war. Jedes Mal, wenn ich Lyall ansah, spürte ich, wie das zwischen uns im Sekundentakt ernster und näher wurde. Und wenn er mich dann noch küsste, auf diese schrecklich süchtig machende Lyall-Art, dann war ich endgültig im Himmel. Noch nie hatte ich so etwas gefühlt, diese verzehrende Sehnsucht in jedem Moment, in dem er mich nicht berührte, diese überwältigende Erlösung in jedem Moment, wenn er es tat. Ich war vollkommen und hoffnungslos verrückt nach ihm. Wir
waren es nacheinander. Und ich wollte, dass es nicht endete. Niemals.
»Was spricht eigentlich dagegen, nicht wieder in die Zivilisation zurückzukehren?« Lyall sah mich an. Es war der zweite Abend, wir hatten direkt an dem kleinen Loch etwas gegrillt, im Freien gegessen und machten gerade den Abwasch. Draußen wurde es langsam dunkel.
»Keine Ahnung. Wie sind denn deine Jagdfähigkeiten?« Ich grinste ihn an, weil ich daran dachte, dass ich ihm genau das an den Kopf geworfen hatte, bei unserer Begegnung auf dem Dachboden des Hotels.
»Mäßig.« Er verzog das Gesicht. »Es ist echt armselig – ich esse zwar Fleisch, kann aber trotzdem keine Tiere umbringen.«
»Dann werden wir wohl ab und zu einen Supermarkt aufsuchen müssen.« Ich legte den Schwamm weg und trocknete mir die Hände ab. »Aber ansonsten … habe ich nichts dagegen, mit dir für immer und ewig hier draußen zu bleiben, Mister Darcy.«
»Gut zu wissen, Miss Bennet.« Lyall lehnte sich zu mir, ich stellte mich auf die Zehenspitzen und ließ mich von ihm küssen, meine Hände längst unter seinem Shirt, weil ich einfach nicht anders konnte. Er umschlang mich, ich drängte mich an ihn, aber da kam plötzlich der Klingelton meines Handys dazwischen. »Sorry, ich sollte …«, sagte ich entschuldigend.
»Klar«, antwortete er und ließ mich los.
Meine Schwester sah mir vom Display entgegen, und ich ahnte, wieso sie sich meldete. Wir hatten schon seit vorgestern nicht geredet, und Eleni rief oft um diese Zeit am Abend an, um mir von ihrem Tag zu erzählen und danach zu fragen, was ich so machte. Heute würde ich ihr darauf wohl keine ganz ehrliche Antwort geben.
»Leni, hi. Was gibt es?« Ich warf einen Blick zu Lyall, der gerade auf dem Weg nach draußen war, um den Rest aufzuräumen, und musste lächeln. Er erwiderte es auf eine Weise, die meinen Magen wohlig kribbeln ließ.
»Hier ist nicht Leni, sondern Juliet«, hörte ich es am anderen Ende sagen, und der Tonfall vertrieb meine Glückseligkeit sofort. »Dad hat gesagt, ich soll dich nicht anrufen, aber ich flippe ein bisschen aus und –«
»Was ist passiert?«, fragte ich, während mir fünfhundert Schreckensszenarien gleichzeitig durch den Kopf schossen. Lyall musste die Änderung in meiner Stimme bemerkt haben, denn er kam wieder rein und sah mich fragend an.
»Es ist … es ist wegen Eleni«, stammelte meine Schwester. »Sie war reiten, obwohl du es verboten hast, und die sind raus ins Gelände, das Pferd hat sich erschreckt und sie ist runtergefallen. Erst war alles okay, sie war nicht weggetreten oder so, also ist sie mit zurück zum Hof, aber –«
»Herrgott, komm auf den Punkt, Juliet!«, fuhr ich sie an.
»Sie … sie ist, wir haben X Factor
geguckt, und danach ist sie vom Sofa aufgestanden und einfach umgekippt. Dad hat einen Krankenwagen gerufen und die haben sie direkt in eine Klinik nach London gefahren, mit Blaulicht und Sirene. Wir sind jetzt dort, aber sie wissen nicht, was mit ihr ist. Ich hab so Angst, Kenzie.«
»Leni ist im Krankenhaus?« Oh Gott, das war mein schlimmster Albtraum: dass noch jemandem aus meiner Familie etwas passierte. Und ich war nicht da. Ich war nicht nur nach Kilmore gefahren, sondern außerdem in die Highlands, was die Fahrzeit bis nach Hause auf mindestens acht Stunden erhöhte. Wie hatte ich so egoistisch sein können? Wie hatte ich glauben können, dass schon nichts schiefging, wenn ich weg war?
Meine Panik überrollte mich, ich umklammerte das Handy so fest, dass meine Finger taub wurden. Ich wusste, ich sollte hundert Dinge fragen, nach dem Arzt, nach Dad, ob ich ihn sprechen konnte. Aber ich brachte kein Wort heraus, während ich vor meinem geistigen Auge Eleni sah, die mit blutendem Kopf in einem Krankenhausbett lag, um sie herum Dutzende Ärzte, die vergeblich versuchten, ihr Leben zu retten. Scheiße. Scheißescheißescheiße!
»Hey, komm her, ich mach das«, sagte Lyall und nahm mir das Telefon aus der Hand, bevor er mich sanft auf Lokis Sitzbank drückte. »Hallo, Juliet?« Er ging ran und schaltete auf Lautsprecher. »Hier ist Lyall, ich bin ein Freund deiner Schwester. Kannst du mir deinen Vater geben?«
»Er ist nicht da«, sagte sie hilflos. »Er ist bei Leni, aber die haben uns rausgeschickt. Willy ist gegangen, weil sie irgendwas ausfüllen soll, aber ich kann … ich kann gar nichts machen.«
»Hat er schon mit einem Arzt gesprochen, weißt du das?« Lyalls ruhige Art hätte mich entspannen müssen, aber im Moment konnte mich gar nichts beruhigen. Mein Puls raste immer noch mit Tempo 200. Wie hatte das mit Leni passieren können? Ich hatte ihr doch verboten, reiten zu gehen!
»Nein«, ertönte erneut Juliets zittrige Stimme. »Ich meine, ja, er hat mit einem gesprochen, aber ich weiß nicht, was er gesagt hat. Die machen gerade irgendwelche Untersuchungen, ein MRP
oder so …«
Lyall korrigierte sie nicht. »Okay. Wenn dein Dad wieder da ist, kannst du ihn bitten, Kenzie zurückzurufen?«
»Ja … ja, natürlich.« Juliets Stammeln brach mir das Herz. Sie gab sich immer so tough, aber eigentlich war sie die Sensibelste von uns vieren.
»Alles wird gut«, sagte Lyall so zuversichtlich wie möglich. »Ich weiß, das ist nur eine dämliche Floskel, aber meistens stimmt es trotzdem.«
Juliet atmete aus. »Danke … Lyall, richtig, oder?«
»Richtig.« Er lächelte. »Bis später.«
Kaum hatte er aufgelegt, löste sich meine Starre, und ich fing an, wie verrückt im Wagen herumzuräumen, das Bett zu machen, Klamotten von einer Seite auf die andere zu werfen und dabei nur noch mehr Chaos anzurichten. Ich brauchte einen Plan, das wusste ich. Aber mein Hirn funktionierte nicht wie sonst. Es wollte einfach keinen brauchbaren Gedanken ausspucken.
»Hey, nicht durchdrehen«, sagte Lyall im Versuch, mich aufzuhalten. »Wir wissen doch noch gar nichts.«
Ich sah zu ihm hoch. »Was, wenn es etwas Schlimmes ist? Wenn sie eine Hirnblutung hat oder im Koma liegt oder …« Ich konnte nicht aussprechen, was ich am meisten befürchtete: dass meine Schwester starb.
Lyall zog mich in seine Arme und hielt mich fest. »Dein Vater wird zurückrufen und dir sagen, was mit ihr ist«, murmelte er beruhigend. »Und wenn Eleni nur halb so stark ist wie du, dann wird sie das überstehen.«
Für eine Sekunde flüchtete ich mich in seine Umarmung, dann meldete sich endlich ein Funke Rationalität in mir.
»Ich muss nach Hause.« Hastig machte ich mich los und strich mir durch die Haare. »Ich muss sofort dorthin. Verdammt, wenn ich mit dem Auto fahre, dauert es bis morgen früh. Fliegt von Edinburgh abends noch etwas nach London?« Wahrscheinlich schon, aber mit allem Drumherum waren das auch mehrere Stunden, bis ich dort ankommen würde. »Du bist nicht zufällig die Sorte reicher Typ, die einen Helikopter hat?« Ich musste lachen und hatte das Gefühl, ich schnappe gleich über.
»Nein, leider nicht.« Lyall zückte sein Handy und tippte etwas ein. »Aber ich könnte vielleicht trotzdem etwas organisieren. Kann ich dich kurz allein lassen?«
»Ja«, stieß ich aus, »ja, kannst du.«
Lyall küsste mich auf die Haare. »Halt durch, okay? Wir schaffen das.« Dann stieg er aus dem Wagen und zog die Tür halb hinter sich zu.
Ich begann, alles in die Schränke zu räumen, damit es bei der Fahrt nicht herumflog. Das erneute Klingeln meines Telefons unterbrach mich dabei. Hastig ging ich dran. »Dad? Was ist mit Leni?«
»Wir wissen es noch nicht. Die bringen sie gerade ins MRT
und machen noch einige Untersuchungen. Aber sie wird wieder. Ganz bestimmt ist es nichts Schlimmes.«
Die gefasste Art meines Dads brachte mich auf die Palme.
»Wie konntest du sie auf ein Pferd steigen lassen, zum Teufel noch mal?!«, schnauzte ich ihn an. »Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist, warum erlaubst du ihr das?«
Mein Vater holte Luft. »Sie war zehn, als sie zuletzt runtergefallen ist. Das ist Jahre her. Wir können sie nicht auf ewig in Watte packen, Kenzie.«
Ich schnaubte. »Das ist es also, was ich mache? Ich packe sie in Watte? Vielleicht bin ich auch einfach die Einzige in dieser Familie, die sich dafür interessiert, dass nicht noch
jemand von uns draufgeht!« Ich wusste, ich war unfair, aber ich verstand nicht, wie er so ruhig bleiben konnte.
»Kenzie, ich habe genauso viel Angst wie du!«, platzte es aus meinem Vater heraus. »Und ich mache mir große Vorwürfe! Aber ich stehe hier nur eine Flurlänge von deinen Schwestern entfernt, also kann ich jetzt nicht ausrasten, okay? Das solltest du doch verstehen.«
Ich schwieg und wusste genau, was er meinte. Wie viele dieser Situationen hatte es in den letzten Jahren für mich gegeben – die Momente, wo man ausflippen wollte, aber nicht konnte, weil jemand da war, der das Gefühl brauchte, alles würde in Ordnung kommen. Mir kam wieder in den Sinn, wie ich damals auf dieser Brücke gestanden hatte. Wie ich an meine Schwestern gedacht und heruntergestiegen war.
»Tut mir leid, Dad«, sagte ich leise.
»Schon gut, Schätzchen«, antwortete er müde.
»Ich schaue, dass ich es so schnell wie möglich nach Hause schaffe, okay? Aber ich bin in den Highlands und es kann eine Weile dauern. Bitte ruf an, wenn es etwas Neues gibt.«
»Das werde ich. Fahr bloß vorsichtig, Kenzie.«
Lyall kam wieder herein und sah mich fragend an, aber ich schüttelte nur den Kopf. »Mache ich. Bis später, Dad.« Dann legte ich auf.
»Was Neues?«
»Nein, sie untersuchen sie noch, gerade ist sie im MRT
. Hast du etwas herausgefunden wegen der Flüge? Gibt es noch einen Platz in einer Maschine nach London?«
Er lächelte leicht. »Es gibt etwas Besseres. Und deswegen sollten wir jetzt los. Man wartet in Perth darauf, dass wir kommen.«
»Was meinst du damit? Wieso in Perth?« Das war eine kleine Stadt, die zwischen Kilmore und Edinburgh lag.
»Ich habe vielleicht keinen Helikopter, aber ich kenne jemanden mit einem Privatjet«, sagte Lyall. »Und der steht gerade auf dem Flugplatz von Perth. Mein Bekannter hat für uns klargemacht, dass wir den Flieger heute Nacht nutzen können. Damit sind wir in drei Stunden im Süden, die Fahrt eingerechnet.«
Ich starrte ihn einen Moment ungläubig an und konnte es nicht fassen. Dann fiel ich ihm um den Hals, unfähig, ein Danke herauszubringen. Er hatte das einfach mal eben geregelt, für mich
. Deswegen ging es Eleni noch nicht besser, aber ich war so viel schneller bei meiner Schwester.
Als mir das bewusst wurde, ließen sich die Tränen nicht mehr aufhalten. Weil ich jetzt nicht die Starke spielen musste. Da war jemand, der mich auffing, der verstand, wie ich mich fühlte, und für mich stark war. Jemand, dem ich vollkommen vertraute. Mir wurde bewusst, dass ich das so, so
lange nicht gehabt hatte, und die Erkenntnis entlud sich in einer ganzen Flut aus Schluchzern und Tränen, die Lyalls Shirt durchweichten, während er mich an sich drückte.
»Ich habe solche Angst«, gestand ich ihm leise und wischte mir über die Wangen, als er mich losließ.
»Ich weiß.« Er küsste mich auf die Stirn, nahm dann den Schlüssel vom Haken, ging nach vorne und glitt wie selbstverständlich auf den Fahrersitz. »Aber das wird erst besser, wenn wir dort sind. Also komm, lass uns fahren.«
Ich schaffte es, nicht völlig durchzudrehen, während wir diesen wunderschönen Platz in den Highlands verließen – was auch daran lag, dass Lyall bei mir war und mit mir redete, während er im Dunkeln den Rückweg in die Zivilisation suchte. Es waren beruhigende Worte, die es tatsächlich schafften, meine blinde Panik etwas zu dämpfen, und er ließ meine Hand nur los, wenn er schalten musste. Mein Dad meldete sich ein weiteres Mal, aber richtige Neuigkeiten hatte er nicht. Eleni war noch nicht ansprechbar und die Ärzte werteten gerade das MRT
aus. Eine Prognose konnte im Moment niemand geben.
Es dauerte gefühlt ewig, bis wir endlich in Perth ankamen und Lyall an einer Kreuzung in Richtung Dunkelheit abbog. Erst zehn Minuten später erreichten wir ein massives Rolltor mit einem kleinen Häuschen davor. Es schien einer dieser privaten Flugplätze zu sein, die Normalsterbliche in der Regel nicht zu Gesicht bekamen. Lyall sagte dem Pförtner den Namen seines Bekannten, und man öffnete die Schranke für uns, damit wir über eine lange breite Straße zu einem Hangar fahren konnten, der hell erleuchtet war. Meinen Van parkte er neben dem Flugzeug, einem schwarzen Lear Jet
mit dem Logo einer Immobilienfirma.
»Ich habe organisiert, dass man dein Auto zurück nach Kilmore bringt«, sagte Lyall zu mir, bevor er die Fahrertür öffnete.
»Bekommst du wegen der Sache hier eigentlich Ärger?«, fragte ich. Ich hatte in der Sorge um Eleni nicht daran gedacht, was die Hendersons von Lyall erwarteten. Wenn ihn in Kilmore alle hassten, weil sie glaubten, er habe mit Adas Verschwinden zu tun, und er deswegen Order hatte, sich von jedem Mädchen fernzuhalten, was würde Moira dann tun, wenn er jetzt für mich einen Jet kaperte?
»Nein. Der Bekannte, dem das Flugzeug gehört, hat nichts mit meiner Familie zu tun. Niemand wird davon erfahren.« Damit stieg er aus und wartete, bis ich ihm folgte. Vor der Gangway stand die Pilotin, eine stämmige Frau mit grauen Haaren.
»Guten Abend, Mister Henderson. Ich bin Elise Jenkins, ich wurde informiert, dass Sie nach London möchten.«
»Danke, Mrs Jenkins, dass Sie uns fliegen. Es ist eine Art Notfall.«
»Natürlich, Sir. Mein Chef hat mir gesagt, worum es geht. Ich habe selbst zwei Töchter, bei denen ich ständig aufpassen muss, dass sie keine Dummheiten machen. Wenn ich also helfen kann, mache ich das sehr gerne.« Sie lächelte mich an.
»Vielen Dank.« Ich erwiderte das Lächeln.
»Dann steigen Sie bitte ein.« Die Pilotin wies zu dem Flugzeug. »Ich habe kein Servicepersonal angefordert, wenn Sie also etwas essen oder trinken möchten, dann bedienen Sie sich bitte selbst.«
Lyall nickte und bedankte sich noch einmal, dann ließ er mir den Vortritt, und ich betrat zum ersten Mal in meinem Leben einen Privatjet. Meine Angst um Eleni sorgte für eine dumpfe, neblige Wolke in meinem Kopf, aber ich bemerkte trotzdem, dass ich bis heute keine Vorstellung davon gehabt hatte, wie reich Menschen tatsächlich sein konnten.
»Das Ding bringt mir doch sicher ein paar Punkte auf der Klischee-Skala ein, oder?« Lyall war mir in den schmalen, mit dunklen Ledersitzen ausgestatteten Innenraum gefolgt.
Sein Scherz entlockte mir ein schwaches Lächeln. »Was früher der Vierspänner war, ist jetzt eben der Jet, Mister Darcy.«
»Ich möchte zu Protokoll geben, dass der Jet nicht mir gehört.« Er verzog das Gesicht. »Vielleicht rettet das meinen Ruf.«
»Als könnte irgendetwas deinen Ruf bei mir zerstören. Nicht nach heute. Nach allem in den letzten Tagen.« Mein Lächeln wurde liebevoll. Unser Ausflug hatte ein abruptes Ende gefunden, aber deswegen hatte ich nicht vergessen, was passiert war. Wie wir auf mehr als eine Art zusammengekommen waren.
Er zog mich für einen schnellen Kuss an sich. »Wo willst du sitzen?«, fragte er dann.
»Völlig egal. Hauptsache, du sitzt daneben.«
Er wählte zwei Sitze in der Mitte gegenüber einer breiten Bank, überließ mir den Fensterplatz und schnallte sich an. Kaum hatte ich das ebenfalls erledigt, schob ich meine Hand in seine. Mit der anderen drückte er einen Knopf auf der Armlehne. »Mrs Jenkins? Wir sind so weit.«
»Gut. Ich habe Starterlaubnis. Wir landen in etwa einer Stunde in Heathrow.«
Lyall sah auf sein Handy. »Ich habe vorhin einen Wagen geordert, der Fahrer wird direkt am Rollfeld auf uns warten.« Er strich sanft mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Bist du schon mal geflogen oder soll ich dir die Sicherheitsvorkehrungen kurz erläutern?«
Ich wusste, er wollte mich aufheitern, und ließ es zu. »Ich bin schon geflogen, in so etwas allerdings nicht. Wenn du also vorne das Schwimmwestenballett machen möchtest, halte ich dich nicht davon ab.«
»Verzichte.« Er lehnte sich in seinem Sitz zurück. Das Display seines Handys leuchtete neben mir auf der Armlehne auf und ich sah eine Nachricht. Lye, wo steckst du?
»Von Edina?«, fragte ich, weil ich das kleine runde Bild über der Mitteilung ihr zuordnete.
Lyall nickte und schaltete das Handy aus, als der Jet zu rollen begann. »Sie hat seit Donnerstag nichts von mir gehört, da fängt sie oft an, sich zu sorgen. Ich antworte ihr später.«
Und dann steckte er das Telefon weg und hielt meine Hand, bis wir landeten.