32
Kenzie
In meinem Zimmer war es bereits dämmrig und mit jeder Sekunde wurde es dunkler. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Oder seit wann ich hier saß, auf dem Boden, den Rücken an den Heizkörper gelehnt. Es musste spät sein, schließlich wurde es im Sommer nicht sonderlich früh dunkel. Vielleicht zehn.
Unten im Haus hörte ich die Tür, offenbar war eine meiner Schwestern zurückgekommen. Dad war noch mal in die Firma gefahren, Eleni verbrachte heute die letzte Nacht im Krankenhaus, Willa hatte ein Date, also blieb nur Juliet, die zum Lernen bei einer Freundin gewesen war. Ich rührte mich jedoch nicht, machte mich nicht bemerkbar. Vielleicht dachte sie dann, dass keiner zu Hause sei.
Schritte auf der Treppe und ein fragender Ruf zerstörten meine Hoffnung. Aber bevor ich antworten konnte, ging bereits die Tür auf.
»Kenzie?« Willa streckte den Kopf herein und entdeckte mich. »Warum sitzt du denn hier im Dunkeln?«
Weil ich es nicht geschafft habe, aufzustehen.
»Nur so. Wieso bist du schon zurück?« Meine Stimme klang vom Weinen wie ein Reibeisen und ich räusperte mich. »War das Date so schlimm?«
»Schlimmer. Ich lasse mich nie wieder auf so ein dämliches Blind Date ein. Serena hat gesagt, Tom wäre ein Supertyp, total mein Fall. Von wegen.« Willa schüttelte den Kopf. »Wenn ich einen Fitnessfreak ohne Sinn für Humor wollte, dann
wäre er perfekt. Er hat mich im dritten Satz gefragt, was ich an Cardio mache und ob ich ernsthaft Pasta essen will, weil es doch schon nach 19 Uhr sei. Ich hab mir die Pasta dann einpacken lassen und bin weg. Wollen wir sie teilen? Nur, wenn du Kohlenhydrate nach 19 Uhr isst, natürlich.«
Ich grinste müde. »Heute nicht, danke.«
»Alles okay?« Sie kam näher und schaltete die Stehlampe neben meinem Bett ein. »Hast du geheult?«, fragte sie, plötzlich besorgt. »Was ist denn los?«
Erneut schnürte sich meine Kehle zu und ich brachte kein Wort heraus. Sofort war meine Schwester bei mir und nahm mich in den Arm, aber das machte es nicht besser. Im Gegenteil, in der nächsten Sekunde kamen die Tränen wieder. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, es war jedoch unmöglich. Mein Kummer brach über mich herein wie die Nacht draußen vor dem Fenster, und ich weinte Willa das sorgsam gewählte Outfit voll, während sie mich an sich drückte und geduldig wartete, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte.
»Hat Lyall irgendeinen Mist angestellt?«, fragte sie mich. »Wenn ja, werde ich ihm wehtun. Ganz egal, wie hübsch er ist.«
Ihre Worte halfen kein bisschen. Ich schniefte. »Nein, ich
war das. Ich habe Schluss gemacht.« Und ich hatte mir, aber vor allem ihm furchtbar wehgetan mit der Art, wie ich es beendet hatte. Ich brauche jemanden, der weniger Ballast mit sich herumträgt, Lyall. Jemanden, der nicht glaubt, er wäre beschädigte Ware.
Durch Willa ging ein Ruck und sie ließ mich los.
»Bist du völlig bescheuert?«, rief sie. »Der Typ ist eine verdammte 256 auf einer Skala von 1 bis 10! Wie kannst du den in die Wüste schicken?«
Meine Lippen bebten, und ich presste sie fest aufeinander, um sie daran zu hindern. »Ich hatte keine andere Wahl«, brachte ich heraus. »Ich musste ihm sagen, dass meine Gefühle nicht reichen. Ihn denken lassen, das mit uns sei nur eine Sexgeschichte gewesen.«
Willa holte Luft. »Aber wieso? Hast du etwa keine Gefühle für Lyall?«
»Doch!« Meine Stimme brach. »Doch, natürlich, ich habe noch nie für jemanden so etwas empfunden wie für ihn. Er ist so verdammt richtig für mich, dass es wehtut! Aber wenn … wenn ich es nicht beendet hätte, dann wäre alles den Bach runtergegangen. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass Lyall sich die ganze Zukunft versaut.« Das nächste Schluchzen kämpfte sich nach oben. Ich drückte die Hand auf den Mund.
»Die Zukunft?
Was meinst du damit?« Willa sah mich ratlos an.
»Wegen seiner Familie«, stieß ich hervor. »Bei denen gibt es strenge Regeln für so ziemlich alles, sonst wirst du verbannt und darfst mit niemandem mehr Kontakt haben. Und Lyall hatte Auflagen für den Sommer in Kilmore.«
»Was für Auflagen?«, fragte meine Schwester. »Muss er immer um Mitternacht zu Hause sein und regelmäßig sein Zimmer aufräumen?«
Ich lachte unter Tränen. »Nein, nicht so was. Eher: Fang bloß nichts mit irgendjemandem an, solange du hier bist
.«
»Aber das hat er getan«, stellte Willa fest. »Mit dir.«
»Ja«, antwortete ich. »Seine Schwester hat es zwar geschafft, das unter den Teppich zu kehren, aber wenn noch mal auch nur das Geringste zwischen uns passiert, wird seine fürchterliche Großmutter das benutzen, um ihm alles wegzunehmen.«
Und dann erzählte ich Willa die ganze Geschichte – von den Henderson-Regeln, von Lyalls Sommer vor drei Jahren, von Ada und seinem Plan, die Machtverhältnisse in der Familie umzukrempeln. Und während ich darüber sprach, kam es mir so unglaublich unfair vor, dass es hier gar nicht um mich und ihn ging, sondern um das öffentliche Bild eines Menschen, der so wunderbar war und nur das Beste wollte – und wegen dieser dummen Sache von vor drei Jahren nun auf der Abschussliste seiner eigenen Familie stand.
»Wow«, stieß Willa aus, als ich fertig war. »Das ist echt scheiße vertrackt. Und deswegen hast du es beendet? Um ihn zu beschützen?«
Ich nickte und begann wieder zu weinen, weil ich mich so sehr dafür schämte. Es war einer der schlimmsten Momente meines Lebens gewesen, Lyall am Telefon zu sagen, dass es vorbei war. Ihm so wehzutun wie bei dem Satz, dass er beschädigte Ware war, ihn mit genau den Worten zu verletzen, die er selbst gegen sich vorgebracht hatte. Seine Fassungslosigkeit zu ertragen, seine Wut und dann die Kälte, als ihm klar geworden war, ich meinte es ernst.
Willa schüttelte den Kopf. »Aber das ist doch irre. Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
»Eine andere Möglichkeit?«, echote ich.
»Na, bist du nicht auf die Idee gekommen, mit Lyall darüber zu reden, was seine Schwester gesagt hat? Ihn einzuweihen, damit er selbst eine Wahl treffen kann?«
»Natürlich habe ich daran gedacht!«, rief ich verzweifelt. »Aber dann würde ich ihn zwingen, sich zwischen mir und seiner Familie zu entscheiden – zwischen mir und seiner Schwester, seiner Mum, seinem Cousin. Das will ich aber nicht, Willy. Ich kann nicht von ihm verlangen, dass er das alles für jemanden aufgibt, den er erst ein paar Wochen kennt.« Edina hatte mir gesagt, dass sie Lyall diese Entscheidung nicht zumuten wollte. Deswegen hatte sie beschlossen, nicht mit ihm zu reden, sondern mit mir. Weil er sich so keine Vorwürfe machen musste, von denen er wegen Ada schon genug mit sich herumtrug. »Er wird drüber hinwegkommen und mich abhaken. Dafür habe ich gesorgt.«
Meine Schwester sah mich an. »Und du?«, fragte sie leise. »Wirst du auch darüber wegkommen?«
»Das muss ich«, antwortete ich ebenso leise. »Irgendwann.«
Unser Telefonat war erst ein paar Stunden her, aber ich merkte jetzt schon, wie sehr mir Lyall fehlte. Es fühlte sich an, als hätte man mich im tiefsten Winter barfuß und nur im T-Shirt nach draußen geschickt. Und da stand ich nun, zitternd und hilflos, in der Gewissheit, dass es bis zum Frühling noch eine Ewigkeit dauerte.
Wir schwiegen eine Weile. Dann berührte mich Willa am Arm. »Wie geht es jetzt weiter? Loki ist doch noch in Kilmore.«
Ich hob die Schultern. »Ich werde zurückfahren, die letzten zwei Wochen des Praktikums durchziehen und dann nach Hause kommen. Die Empfehlung von Lyalls Mutter will ich auf keinen Fall mehr. Es würde sich für mich immer so anfühlen, als wäre es die Gegenleistung dafür, dass ich mich von ihm getrennt habe. Und deswegen brauche ich das Praktikum bei Paula.«
»Aber was machst du, wenn du ihm dort begegnest?«, fragte meine Schwester fast schon zaghaft. »Ihm am Telefon vorzumachen, du wärst nicht in ihn verliebt, ist eine Sache. Vor ihm zu stehen eine völlig andere. Ich habe gesehen, wie du ihn angeschaut hast. Alles in deinem Gesicht hat geleuchtet, als wärst du eine Disney-Prinzessin und er der strahlende Prinz. Kriegst du es hin, ihm das Gegenteil zu verkaufen?«
»Nein.« Ich wehrte mich gegen die Tränen, die schon wieder zu laufen anfangen wollten. »Aber wenn ich Glück habe, will er ohnehin nie mehr mit mir reden, so wie ich ihm wehgetan habe.«
Doch sollte er je wieder mit mir sprechen, dann würde er wissen, dass ich ihn angelogen hatte.
Sofort.
Es war bestes Wetter, als ich ein paar Tage später am frühen Abend mit dem Flughafen-Taxi in Kilmore ankam. Nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen, dabei wünschte ich mir nichts mehr als einen heftigen Regenguss, passend zu meiner Stimmung. Wobei, nein, lieber kein Schauer. Das erinnerte mich nur daran, was passiert war, als es das letzte Mal heftig geregnet hatte.
Auf dem Campingplatz wartete Loki, als wären wir nie mit Lyall in die Highlands gefahren, um zu campen. Bei der Erinnerung zogen sich meine Eingeweide schmerzhaft zusammen. Als ich dort neben Lyall im Bett gelegen und ihm in die Augen gesehen hatte, war ich sicher gewesen, es wäre der Anfang von etwas Besonderem, ein Ausblick auf viele weitere Tage und Nächte. Ich hatte mich noch nie so gefühlt wie mit ihm, so einig, so vollkommen, so richtig. Allein der Gedanke, mich irgendwann wieder auf jemanden einzulassen oder auch nur mit jemandem zu schlafen, der nicht er
war, verursachte eine kalte Leere in mir, die auch das Sommerwetter nicht vertreiben konnte.
Loki stand an seinem angestammten Platz, aber als ich auf meinen geliebten Camper zuging, fiel mir ein, dass ich keinen Schlüssel dafür hatte. Ich hatte nicht daran gedacht, den Ersatzschlüssel von zu Hause mitzunehmen – und wusste nicht, wo der war, den Lyall hatte stecken lassen, als wir am Flugplatz angekommen waren. So ein Mist.
Ich war so durch den Wind, dass ich nicht einmal mehr die simpelsten Dinge auf die Reihe bekam, obwohl ich sonst einfach alles organisieren konnte. Ich brachte keinen klaren Gedanken zustande, weil meine Gefühle meinen Verstand völlig blockierten.
Ich drehte mich um und mein Blick fiel auf die Rezeption des Platzes. Vielleicht war der Schlüssel ja bei Drew deponiert worden. Es war einen Versuch wert.
Der kleine Raum, in dem man auch die nötigsten Lebensmittel, Tageszeitungen und am Morgen Brötchen kaufen konnte, war offen, und Drew saß am Tresen hinter dem Computer.
»Hey, Fremde.« Er grinste, als ich hereinkam. »Du bist wieder im Lande, cool. Wie geht es Eleni?«
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Besser, danke. Sie durfte vorgestern nach Hause und soll sich noch ein bisschen schonen, aber sie kann schon wieder lautstark nach Pommes und Eis verlangen, also geht es ihr wohl ganz gut.«
»Freut mich zu hören. Und natürlich, dass du wieder da bist. Ich dachte, vielleicht bleibst du im Süden, nach dem Unfall.«
Ich schüttelte mechanisch den Kopf. »Nein, ich brauche das Praktikum für meine Bewerbung. Außerdem hat Leni mir versprochen, bis zu meiner Rückkehr keinen Fuß vor die Tür zu setzen, ohne dabei eine Ganzkörperrüstung zu tragen.« Drew lachte und ich deutete nach draußen. »Hast du zufällig den Schlüssel für Loki?«
»Ich? Nee. Der ist drüben im Hotel, da ist schließlich immer jemand an der Rezeption. Als der Fahrer ihn gebracht hat, habe ich gedacht, das wäre besser. Ich wusste ja nicht, wann du kommst.«
Na super.
Wenn ich irgendwo nicht hinwollte, dann ins Grand
.
Drew musterte mich aufmerksam. »Was war das eigentlich für ein Typ, der Loki hergefahren hat? Du warst doch in den Highlands, oder?«
»Ach, so ein Fahrdienst vom Flughafen in Edinburgh«, log ich und war zu erschöpft, um darüber zu erschrecken, wie leicht mir diese Lüge über die Lippen kam. »Ich bin dorthin, als ich das mit Eleni erfahren habe. Und da es nicht viel teurer war als Loki dort stehen zu lassen, dachte ich, nutze ich das Angebot.«
Drew hob die Schultern, und ich war froh, dass er nicht weiter nachfragte. Als ich mich zum Gehen wandte, sprach er mich aber doch noch mal an. »Amy, Tamhas und ein paar andere treffen sich heute Abend unten am Loch, wir wollen was trinken und ein bisschen feiern. Komm doch auch, wenn du magst.«
»Klar.« Ich nickte, lächelte noch einmal und ging dann los. Ob ich wirklich kommen würde, wusste ich nicht. Gerade fühlte es sich an, als wäre es schon zu anstrengend, ein fünfminütiges Gespräch mit Drew zu führen und nicht in Tränen auszubrechen. Ich, die selbst nach dem Tod meiner Mutter in einem Stück geblieben war, fühlte mich jetzt, als könnte mich die kleinste Brise in meine Einzelteile zerlegen. Vielleicht, weil das mit meiner Mum passiert war, ohne dass ich daran Schuld hatte. Ich war das Opfer dieser Tragödie gewesen, nicht die Verursacherin. Aber die Sache mit Lyall, das hatte ich selbst getan. Ich hatte ihm und mir mutwillig das Herz gebrochen. Nicht aus freien Stücken, natürlich nicht. Nur machte das keinen Unterschied.
Der Weg zum Grand
erschien mir viel länger als sonst, und die ganze Zeit über schaute ich mich um, ob ich Lyall irgendwo entdecken konnte. Einerseits hoffte ich darauf, ihn zu sehen, aber auf der anderen Seite hatte ich riesige Angst. Davor, dass er mir die Wahrheit am Gesicht ablesen würde: wie schrecklich verliebt ich in ihn war. Und dass ich ihm das alles nie hatte antun wollen.
Er begegnete mir jedoch weder im Park noch in der Lobby, als ich dort an den Tresen trat und die Mitarbeiterin nach dem Schlüssel zu meinem Auto fragte. Sie ging ins Büro, um ihn zu holen. Während ich wartete, sprach mich jemand an.
»Kenzie, du bist wieder da.« Ich fuhr herum um und sah mich Moira Henderson gegenüber. Sie lächelte freundlich, aber ich brachte es nicht fertig, es zu erwidern. Nicht, wo ich mittlerweile wusste, dass sie Teil dessen war, was mich zu dieser Entscheidung gezwungen hatte. »Wie geht es deiner Schwester? Erholt sie sich gut?«
Ich nickte. »Ja, danke. Sie wird wieder.«
»Das freut mich. Und wie geht es dir?«
»Ich bin nur müde«, murmelte ich tonlos. Wie lange brauchte die verdammte Concierge denn, um meinen blöden Schlüssel zu finden? »Die letzte Woche war stressig.«
»Mrs Henderson?« Ein junger Mann in Kochuniform trat zu uns. »Wir sind jetzt bereit für das Testessen. Meine Kollegen bringen gerade alles hinüber zu Ihrem Haus.«
»Sehr schön, Nigel. Fangen Sie doch schon an, alles dort vorzubereiten, ich bin in zehn Minuten da.« Dann fiel ihr Blick auf mich. »Möchtest du vielleicht mit uns essen? Wir grillen, um die Auswahl der Speisen für die Highland Games zu verkosten und haben ohnehin viel zu viel.«
»Nein, danke«, sagte ich steif, auch wenn ich wusste, ich durfte nicht unhöflich sein. »Ich möchte lieber meine Ruhe.«
Moira nickte. »Das verstehe ich. Solltest du es dir jedoch anders überlegen – wir sind im Garten hinter meinem Haus. Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst.« Sie berührte kurz meine Schulter, nahm den Schlüssel für Loki von ihrer Mitarbeiterin entgegen und gab ihn mir. Ich bedankte mich knapp, dann flüchtete ich aus der Lobby und joggte zurück zum Campingplatz. Aber wenn ich gedacht hatte, hier wäre ich in Sicherheit, dann hatte ich mich getäuscht.
In dem Moment, als ich den Wagen aufschloss und hineinstieg, wusste ich, dass mein Zufluchtsort für alle Zeiten zerstört war. Lokis Innenraum war voller Erinnerungen an Lyalls und meine gemeinsame Zeit in den Highlands: ob die Küchenzeile, auf die er mich gehoben hatte, um mich zu küssen, der Boden, auf dem unsere Klamotten gelandet waren, und natürlich das Bett. Ich stand im Durchgang, starrte auf die Decken, auf das Kissen, wo er gelegen hatte, als ich versucht hatte, ihn mit einer guten Zwei
auf den Arm zu nehmen. Ich sah die Matratze an, auf die er seine Arme gestützt hatte, als ich mehr von ihm gefordert und alles bekommen hatte. Ich erinnerte mich an jede einzelne Sekunde, an jede Berührung, jedes Flüstern, an die unglaubliche Nähe zwischen uns. Der Kloß in meinem Hals wurde übermächtig groß und im nächsten Moment brach ich in Tränen aus. Ich war so stolz darauf gewesen, immer zu wissen, was zu tun war. Aber jetzt hatte ich keine Ahnung, was ich machen sollte. Wie ich weitermachen
sollte.
Die Minuten vergingen, während ich einfach nur dastand und weinte. Dann fiel mein Blick auf Lyalls Reisetasche, die wir bei unserer überstürzten Abreise auf der Sitzbank festgeschnallt hatten. Mit zitternden Händen löste ich den Gurt und nahm sie herunter, stellte sie so vorsichtig vor mir auf den Boden, als wäre sie eine Bombe. Scheiße, was sollte ich denn damit machen? Ich wagte nicht, sie zu öffnen, aus Angst darin Kleidung zu finden, die nach Lyall roch – es würde schlimm genug sein, das Bett neu zu beziehen. Aber hierlassen konnte ich die Tasche auch nicht. Sie war ein Beweis dafür, dass er nach der Rückkehr aus Andalusien mit mir unterwegs gewesen war.
Ich angelte das Handy aus meinem Rucksack und rief den Messenger auf. Ohne zu wissen, wie, schaffte ich es tatsächlich, Lyall eine Nachricht zu schicken.
Deine Sachen sind noch bei mir. Was soll ich damit machen?
Ich konnte sie ihm nicht bringen und er würde sie nicht selbst holen. Hoffentlich würde er das nicht. Es war viel zu gefährlich. Nicht nur für ihn, sondern vor allem für mich.
Es dauerte keine Viertelstunde, bis es an meinem Camper klopfte. Mein Puls schnellte innerhalb einer Sekunde auf 200 und ich sprang auf. War er es? War er selbst hergekommen? Hastig sah ich in den Spiegel, ob man mir meine Tränen ansehen konnte, aber ich war vorzeigbar. Voller Angst und Hoffnung zog ich den Hebel zurück und öffnete die Tür.
»Hi.« Es war Finlay.
»Hi.« Enttäuschung und Erleichterung kämpften erbittert gegeneinander, als ich ausatmete und merkte, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. »Komm rein.« Es war besser, er stand nicht vor meinem Wagen herum, wenn Drew in der Nähe war.
Zögernd stieg Finlay in den Camper. Heute war kein bisschen seiner Fröhlichkeit zu sehen, aber ich nahm es ihm nicht übel. Wenn man einer meiner Schwestern das angetan hätte, was ich Lyall an den Kopf geworfen hatte, wäre ich mit einem Messer auf ihn oder sie losgegangen.
»Hier«, ich zeigte auf die Tasche, die ich nicht angerührt hatte. Dann holte ich aus dem Schrank unter der Küchenzeile einen großen schwarzen Müllsack. »Vielleicht packst du sie besser da rein.«
Er tat es, ohne ein Wort mit mir zu reden, dann klemmte er sich das Bündel unter den Arm und wandte sich zur offenen Tür. »Ich hoffe, dir wird irgendwann klar, wen du da hast gehen lassen«, sagte er und sah mich auf eine Weise an, die mich tief traf. Wenn schon Finlay mich mit solcher Verachtung bedachte, wie musste es erst Lyall gehen?
Ich hätte es Finlay so gerne gesagt. Ich hätte ihm so gerne verraten, worum Edina mich gebeten hatte – dass es gute Gründe für mein abscheuliches Verhalten gab. Aber das Risiko war zu groß, dass Finlay es Lyall sagen würde. Deswegen blieb ich bei meiner Geschichte, so unendlich schwer mir das auch fiel. »Ich wollte ihm nicht wehtun«, sagte ich also nur. »Danke, dass du die Sachen geholt hast.«
Finlay nickte. »Kein Problem. Ich tue alles für ihn. Obwohl er diesen Ballast
mit sich herumträgt.«
Die Worte schnitten mir ins Herz wie ein Messer. Ich hatte Glück, dass Finlay sich längst umgedreht hatte und verschwunden war, als ich die Tür zuschlug und mir erneut die Tränen kamen. Unwirsch wischte ich sie weg. Ich musste das in den Griff kriegen, verdammt noch mal. Wenn ich herumlief wie ein Häufchen Elend, würde mir Lyall niemals abnehmen, dass ich keine Gefühle für ihn hatte.
Ich zog meine Schuhe an und beschloss, eine Runde am See spazieren zu gehen. Frische Luft half mir immer, um mich wieder auf die Reihe zu kriegen. Und wenn ich dann später zurückkam, würde ich das Bett neu beziehen, mich draußen auf den Rasen setzen und warten, bis ich so müde war, dass ich nicht mehr an Lyall denken konnte, bevor ich einschlief. Das würde funktionieren.
Es musste einfach.