Kapitel 1

D ie meisten entführten Kinder, die auch ermordet werden, werden innerhalb der ersten drei Stunden nach ihrer Entführung getötet. Dank meiner Zimmergenossin Sloane, dem wandelnden Lexikon für Wahrscheinlichkeiten und Statistiken, kannte ich die genauen Zahlen. Wenn man erst dazu überging, von Tagen anstatt von Stunden und dann von Wochen zu sprechen, war die Wahrscheinlichkeit, das Kind unversehrt zu finden, so gering, dass das FBI die Ausgaben für sein Personal nicht mehr rechtfertigen konnte, um den Fall weiterzuverfolgen.

Wenn so ein cold case seinen Weg bis zu uns fand, suchten wir wahrscheinlich nach einer Leiche und nicht länger nach einem kleinen Mädchen. Das alles war mir absolut klar.

Aber …

… Mackenzie McBride war sechs Jahre alt.

… ihre Lieblingsfarbe war Lila.

… sie wollte »Tierarzt-Rockstar« werden.

Man hörte nicht auf, nach so einem Kind zu suchen. Man hörte nicht auf zu hoffen, selbst wenn man es versuchte.

»Du siehst aus, als könntest du ein kleines bisschen Aufmunterung vertragen. Oder vielleicht auch einen Drink.« Michael Townsend zeigte sein unverschämt hübsches Grinsen, ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder und streckte sein verletztes Bein zur Seite aus.

»Mir geht es gut«, erwiderte ich.

»Du ziehst die Mundwinkel hoch«, schnaubte Michael, »obwohl der Rest deines Gesichts dagegen ankämpft, als könnte das kleinste Lächeln, das du dir erlaubst, in ein Schluchzen umschlagen.«

Das hatte man davon, mit anderen sogenannten Naturtalenten in dieser Akademie – der sogenannten Cold Case Academy – zusammenzuwohnen. Wir alle waren hier, weil wir Dinge sahen, die andere nicht bemerkten. Michael war Experte für Emotionen, er konnte Gesichtsausdrücke lesen, als wären die anderen ein offenes Buch.

Er neigte sich zu mir. »Du musst es nur sagen, Colorado, dann liefere ich dir die längst überfällige Ablenkung.«

Widerwillig musste ich fast lächeln, wie jedes Mal, wenn er mich mit dem Spitznamen ansprach, den nur er benutzte. Als Michael das letzte Mal angeboten hatte, mich abzulenken, hatten wir eine halbe Stunde lang Dinge in die Luft gesprengt und uns dann in gesicherte Dateien des FBI gehackt.

Na ja, eigentlich hatte Sloane die Dateien gehackt, aber es war auf dasselbe hinausgekommen.

»Keine Ablenkung«, erklärte ich bestimmt.

»Bist du sicher?«, fragte Michael. »Denn zu dieser Ablenkung gehören Lia, Wackelpudding und eine Vendetta, die unbedingt beglichen werden will.«

Danke, aber nein danke. Ich wollte gar nicht wissen, was unser hauseigener Lügendetektor angestellt hatte, um eine mit Wackelpudding geladene Vendetta zu provozieren. Bei Lias Persönlichkeit und ihrer Vorgeschichte mit Michael war die Zahl der Möglichkeiten praktisch unbegrenzt.

»Dir ist schon klar, dass es keine gute Idee ist, einen Kleinkrieg mit Lia anzufangen, oder?«, meinte ich.

»Absolut«, erwiderte Michael. »Wenn ich nur nicht so dermaßen vernünftig wäre und diesen unfassbar ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb hätte.«

Michaels Fahrkünste konnte man nur als irre bezeichnen und er verabscheute Autorität in jeglicher Form. Vor knapp zwei Monaten war er mir aus dem Haus gefolgt, obwohl er wusste, dass ein Serienkiller hinter mir her war, und war deswegen angeschossen worden.

Zwei Mal.

Sein Selbsterhaltungstrieb ließ mehr als zu wünschen übrig.

»Und wenn wir uns in diesem Fall irren?«, fragte ich. Meine Gedanken hatten sich im Kreis bewegt: von Michael zu Mackenzie, von dem, was vor sechs Wochen passiert war, zu dem, was Agent Briggs und sein Team gerade taten.

»Wir haben uns nicht geirrt«, widersprach Michael sanft.

Bitte mach, dass das Telefon klingelt, dachte ich. Briggs soll anrufen und mir sagen, dass dieses Mal … dass mich meine Instinkte dieses Mal nicht getäuscht haben.

Als mir Agent Briggs die Mackenzie-McBride-Akte gegeben hatte, hatte ich zuerst ein Profil vom Verdächtigen erstellt, einem auf Bewährung entlassenen Mann, der um die gleiche Zeit wie Mackenzie verschwunden war. Mein Talent war nicht wie Michaels. Ich konnte mich mit nur wenigen Details komplett in andere Menschen hineinversetzen und mir vorstellen, wie es wäre, sie zu sein, zu wollen, was sie wollten, und zu tun, was sie taten.

Verhalten. Persönlichkeit. Umgebung.

Der Verdächtige in Mackenzies Fall verfolgte kein Ziel. Die Entführung war aber sehr gut geplant. Das passte nicht zusammen.

Ich hatte die Akte durchforstet und nach jemandem gesucht, der ungefähr passen konnte. Jung, männlich, intelligent, präzise. Ich hatte Lia halb gebeten und halb gezwungen, die Zeugenaussagen durchzugehen, die Befragungen und Vernehmungen – einfach alle Aufzeichnungen zu diesem Fall, in der Hoffnung, dass sie jemanden bei einer Lüge ertappte. Und schließlich hatte sie das auch. Der Anwalt der Familie McBride hatte für seine Klienten ein Statement vor der Presse abgegeben. Mir war es sehr standardmäßig vorgekommen, aber für Lia waren Lügen so offensichtlich wie falsche Töne für einen Menschen mit absolutem Gehör.

»Eine derartige Tragödie ergibt für niemanden einen Sinn.«

Der Anwalt war jung, männlich, intelligent und präzise – und bei diesen Worten hatte er gelogen. Denn es gab einen Menschen, für den das Geschehen einen Sinn ergab und der es nicht für eine Tragödie hielt.

Den Menschen, der Mackenzie entführt hatte.

Michaels Meinung nach hatte es dem Anwalt der McBrides einen Kick gegeben, den Namen des kleinen Mädchens auch nur auszusprechen. Ich hatte gehofft, das ließe auf eine Chance schließen – zumindest eine witzige –, dass der Mann sie am Leben gelassen hatte, als einen lebenden, atmenden Beweis dafür, dass er dem FBI weit überlegen war.

»Cassie!«

Dean Redding platzte ins Zimmer und sofort schnürte es mir die Kehle zu. Dean war ruhig und selbstbeherrscht. Er erhob fast nie die Stimme.

»Dean?«

»Sie haben sie gefunden«, verkündete Dean. »Cassie, sie haben sie auf seinem Grundstück gefunden, genau dort, wo sie nach Sloanes schematischen Berechnungen sein sollte. Sie lebt!«

Ich sprang auf. Das Herz hämmerte in meinen Ohren, und ich wusste nicht, ob ich weinen, kreischen oder mich übergeben sollte. Dean lächelte. Es war kein schwaches Lächeln. Und auch kein Grinsen. Er strahlte und sein ganzes Gesicht veränderte sich. Funkelnde schokoladenbraune Augen unter den blonden Haaren, die ihm wie üblich ins Gesicht hingen. Und auf einer Wange erschien ein Grübchen, das ich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte.

Stürmisch fiel ich ihm um den Hals. Einen Moment später sprang ich zurück und umarmte Michael genauso heftig.

Der fing mich auf und stieß einen Jubelruf aus. Dean ließ sich auf der Armlehne des Sofas nieder, und so saß ich zwischen den beiden, spürte die Wärme beider Körper und konnte nur daran denken, dass Mackenzie auf dem Weg nach Hause war.

»Ist das eine Privatparty oder kann da jeder mitfeiern?«

Wir drehten uns um und sahen Lia in der Tür. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und hatte sich nur einen weißen Schal um den Hals geknotet. Sie zog die Augenbrauen hoch und wirkte cool und ruhig und ein klein wenig spöttisch.

»Gib es zu, Lia«, meinte Michael. »Du freust dich genauso wie wir.«

Lia sah mich an. Dann Michael und schließlich Dean.

»Ganz ehrlich«, sagte sie, »ich bezweifle, dass irgendjemand im Augenblick glücklicher ist als Cassie.«

Ich wurde immer besser darin, Lias kleine Sticheleien zu ignorieren, aber diese trafen genau ins Schwarze. Eingeklemmt zwischen Michael und Dean schoss mir Hitze in die Wangen. Sollte sie doch reden – ich würde mir von Lia nicht die Stimmung verderben lassen.

Dean schien das anders zu sehen. Mit grimmigem Gesicht stand er auf und ging auf Lia zu. Einen Moment lang glaubte ich schon, er wolle ihr die Meinung sagen, doch das tat er nicht. Stattdessen hob er sie einfach hoch und warf sie sich über die Schulter.

»He!«, protestierte Lia.

Dean grinste und ließ sie neben Michael und mir aufs Sofa fallen. Dann setzte er sich wieder auf die Lehne, als wäre nichts geschehen. Lia verzog das Gesicht und Michael kniff sie in die Wange.

»Gib es zu«, wiederholte er. »Du freust dich genauso sehr wie wir.«

Lia warf die Haare über die Schulter, starrte geradeaus und weigerte sich, einen von uns anzusehen. »Ein kleines Mädchen kommt nach Hause«, sagte sie schließlich. »Unseretwegen. Natürlich freue ich mich genauso wie ihr.«

»Berücksichtigt man den individuellen Serotoninspiegel, ist die Wahrscheinlichkeit, dass vier verschiedene Personen den gleichen Grad an Freude zur gleichen Zeit erfahren, ziemlich –«

»Sloane«, unterbrach sie Michael, ohne sich umzudrehen, »wenn du den Satz nicht zu Ende bringst, könntest du in naher Zukunft eine Tasse Kaffee dein Eigen nennen.«

»In allernächster Zukunft?«, erkundigte sich Sloane misstrauisch. Michael regulierte seit Langem ihre Koffeinzufuhr.

Wortlos sahen Michael, Lia und ich Dean an. Der verstand den Hinweis, erhob sich, ging zu Sloane und verfuhr mit ihr ebenso wie zuvor mit Lia. Als er sie sanft auf mich herunterließ, wäre ich kichernd beinahe vom Sofa gefallen, doch Lia hielt mich am Hemdkragen fest.

Wir haben es geschafft, dachte ich, während wir uns mit den Ellbogen auf dem Sofa Platz zu schaffen versuchten und Dean aus seiner Position außerhalb des Gedränges amüsiert zusah.

Mackenzie McBride wird keine Zahl in einer Statistik werden.

Sie wird nicht vergessen werden.

Mackenzie McBride würde aufwachsen können.

Unseretwegen.

»Also«, meinte Lia mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen, »ist hier noch jemand der Meinung, dass das gefeiert werden sollte?«