E s war Ende September, die Jahreszeit, in der man die letzten, schweren Atemzüge des Sommers fast spüren konnte, der langsam dem Herbst Platz machte. In der untergehenden Sonne war es kühl im Garten, aber das fühlten wir fünf kaum, weil wir trunken waren von unserer Macht und dem Unglaublichen, das wir gerade geschafft hatten. Lia wählte die Musik aus und das gleichmäßige Dröhnen des Basses übertönte die Geräusche der kleinen Stadt Quantico in Virginia.
Bevor ich der Cold Case Academy beigetreten war, hatte ich nie irgendwo dazugehört, doch in diesem Augenblick, diesem einzigen Moment, in dieser Nacht, zählte nichts anderes.
Nicht das Verschwinden meiner Mutter und dass sie vermutlich ermordet wurde.
Nicht die Leichen, die angefangen hatten, sich anzuhäufen, seit ich zugestimmt hatte, für das FBI zu arbeiten.
In diesem Augenblick, diesem einzigen Moment, in dieser Nacht, war ich unbesiegbar und mächtig und Teil eines Ganzen.
Lia nahm mich an der Hand und führte mich von der Terrasse auf den Rasen. Sie bewegte sich mit einer geschmeidigen Anmut, als sei sie zur Tänzerin geboren.
»Lass dich einfach fallen«, forderte sie mich auf, »wenigstens dieses eine Mal.«
Ich konnte nicht besonders gut tanzen, doch meine Hüften begannen irgendwie wie von selbst im Takt der Musik zu schwingen.
»Sloane«, schrie Lia, »schwing deinen Hintern hierher!«
Sloane, die ihre versprochene Tasse Kaffee bereits intus hatte, kam auf uns zugesprungen. Schnell wurde klar, dass ihre Art zu tanzen aus jeder Menge Herumhüpfen und gelegentlichen Fingerfiguren bestand. Grinsend gab ich es auf, Lias geschmeidige, sinnliche Bewegungen nachahmen zu wollen, und passte mich Sloanes Tanzstil an. Hüpfen, mit den Fingern wackeln, hüpfen.
Lia sah uns ein wenig mitleidig an und wandte sich an die Jungen zur Verstärkung.
»Nein«, weigerte sich Dean strikt. »Auf keinen Fall.« Es war schon so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht genau erkennen konnte, aber ich konnte mir vorstellen, wie er starrsinnig die Kiefer aufeinanderpresste. »Ich tanze nicht.«
Michael zeigte keine solchen Bedenken. Er kam zu uns, deutlich humpelnd, doch er schaffte ein paar ganz gute einbeinige Hüpfer.
Lia sah gottergeben zum Himmel. »Ihr seid hoffnungslos«, erklärte sie.
Michael zuckte mit den Schultern und hob die Hände mit gespreizten Fingern. »Das ist nur eine meiner vielen guten Eigenschaften.«
Lia schlang den Arm um seinen Nacken und schmiegte sich, immer noch tanzend, dicht an ihn. Er zog die Augenbrauen hoch, schob sie aber nicht weg, sondern wirkte eher amüsiert.
Mein Magen verkrampfte sich heftig. Die beiden hatten früher mal eine On-off-Beziehung, doch seit ich sie kannte, war nichts zwischen ihnen gelaufen. Das geht dich nichts an. Das musste ich mir immer wieder sagen. Lia und Michael können tun und lassen, was sie wollen.
Michael bemerkte meinen Blick. Er studierte mein Gesicht wie jemand, der ein Buch liest. Dann lächelte er und zwinkerte mir langsam und ganz bewusst zu.
Sloane trat neben mich und sah erst Michael und dann Dean an. Daraufhin hüpfte sie noch näher an mich heran.
»Es besteht die vierzigprozentige Chance, dass heute noch jemand eine geknallt kriegt«, prophezeite sie im Flüsterton.
»Komm schon, Dean!«, rief Lia. »Mach mit!«
Ihre Worte waren teils Einladung, teils Herausforderung. Michaels Körper bewegte sich im Einklang mit Lias, und plötzlich wurde mir klar, dass sie ihre Show weder für mich noch für Michael abzog. Sie wollte Dean eine Reaktion entlocken.
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte Lia schon längst gewonnen.
»Du willst es doch auch!«, neckte sie ihn und drehte Michael im Tanz den Rücken zu. Dean und Lia waren die ersten Rekruten in der Akademie gewesen, und es waren Jahre vergangen, bis andere dazukamen. Lia hatte mir einmal erzählt, dass Dean und sie wie Geschwister füreinander waren, und im Augenblick sah Dean ganz genau so aus wie ein überfürsorglicher großer Bruder.
Michael liebt es, Dean zu reizen. Was keine große Neuigkeit war. Lia liebt es, Dean aus seinem Schneckenhaus zu locken. Und Dean …
In Deans Kiefer zuckte ein Muskel, als Michael seine Hand über Lias Arm gleiten ließ. Sloane hatte recht, es lag eine Schlägerei in der Luft. Und wie ich Michael kannte, hielt er das garantiert für einen Akt der Verbrüderung oder so was. Ich verdrehte innerlich die Augen.
»Komm schon, Dean«, warf ich schnell ein, bevor Lia etwas sagen konnte, was die Situation noch mehr anheizte. »Du musst ja nicht tanzen, du kannst einfach im Takt schmollen.«
Das entlockte Dean sogar ein überraschtes Lächeln und ich grinste. Michael entspannte sich und brachte etwas mehr Abstand zwischen seinen und Lias Körper.
»Hast du Lust zu tanzen, Colorado?«, fragte er, nahm meine Hand und wirbelte mich herum. Lia sah uns finster an, fing sich aber schnell wieder, schlang den Arm um Sloanes Taille und versuchte, sie zu etwas zu zwingen, was ein wenig mehr nach Tanz aussah.
»Du ärgerst dich über mich«, stellte Michael fest, als ich ihm direkt in die Augen sah. In diese verdammt hübschen Augen. Himmel, konzentrier dich.
»Ich mag keine Spielchen.«
»Ich habe doch nicht mit dir gespielt«, verteidigte Michael sich und wirbelte mich ein zweites Mal herum. »Und nur fürs Protokoll, mit Lia habe ich auch nicht gespielt.«
»Aber du hast mit Dean gespielt.«
»Jeder braucht ein Hobby«, erklärte Michael und zuckte mit den Schultern. Diesmal verdrehte ich die Augen nicht nur innerlich, aber auf gutmütige Weise. Michael ist und bleibt ein Spinner.
Dean war am Rand des Rasens stehen geblieben, doch ich spürte, dass er mich ansah.
»Deine Lippen zucken verdächtig nach oben«, bemerkte Michael mit schief gelegtem Kopf. »Aber auf deiner Stirn sehe ich ein Runzeln.«
Ich wandte den Blick ab. Vor sechs Wochen hatte Michael mich aufgefordert, ich solle herausfinden, wie ich zu ihm stand – und zu Dean. Ich hatte mir Mühe gegeben, nicht daran zu denken und möglichst gar nichts für einen von ihnen zu empfinden, denn sobald ich etwas fühlte – egal was –, würde Michael es wissen. Bislang war ich ganz gut ohne Liebesschwüre und Herzschmerz durchs Leben gegangen. Ich brauchte das nicht, jedenfalls nicht so sehr wie das hier : das Gefühl, zu etwas dazuzugehören, etwas in einer Weise für Menschen zu empfinden, die ich nicht für möglich gehalten hatte. Nicht nur für Michael und Dean, sondern auch für Sloane und sogar Lia. Ich passte hierher. Schon lange hatte ich nicht mehr irgendwo dazugehört.
Vielleicht noch nie.
Das durfte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Für niemanden. Nicht für Michael, auch wenn er noch so verboten hübsche Wangenknochen hatte und mich immer wieder zum Lachen brachte und aus der Reserve lockte. Und auch nicht für Dean, der auf seine ganz eigene, verwegene Art vermutlich jedes Mädchen in seinen Bann zog.
»Und wir können dich wirklich ganz sicher nicht zum Tanzen überreden?«, rief Lia Dean zu.
»Nein, ganz sicher nicht.«
»Na, wenn das so ist …« Lia drängte sich zwischen Michael und mich, und ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, tanzte ich wieder mit Sloane, während Lia erneut an Michael hing. Unter den dichten Wimpern hervor sah sie ihn an und legte ihm die Hand auf die Brust. »Sag mir, Townsend«, schnurrte sie, »fühlst du dich wohl?«
Das konnte echt nicht gut gehen.