Kapitel 3

I ch war tot. Übermannt, überwältigt, nur Sekunden von einer Katastrophe entfernt – und ich konnte absolut nichts dagegen unternehmen.

»Ich nehme deine drei und erhöhe um zwei.« Michael grinste. Könnte ich Emotionen lesen, wüsste ich, ob das ein Ich habe ein unfassbar gutes Blatt und sehe genüsslich deinem Untergang zu- Grinsen war oder ein Wie cool ist das denn, dass du nicht weißt, ob ich bluffe- Grinsen. Dummerweise war ich besser darin, die Persönlichkeiten und Motivationen anderer Leute zu erkennen als das, was ein Gesichtsausdruck über ihre Gefühle verrät.

Spiel nie wieder Poker mit anderen Naturtalenten, dachte ich. Unter keinen Umständen, ganz egal, was passiert.

»Ich gehe mit.«

Lia drehte sich ihren glänzenden schwarzen Pferdeschwanz um den Zeigefinger, bevor sie die entsprechende Anzahl Oreo-Kekse in die Mitte des Tisches schob. Da sie Lügen erkennen konnte, nahm ich das als gutes Anzeichen dafür, dass Michael bluffte.

Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, ob vielleicht Lia bluffte.

Sloane sah hinter einem ansehnlichen Haufen Kekse hervor.

»Ich passe«, sagte sie. »Übrigens erwäge ich, ein paar von meinen Pokerchips zu essen. Können wir uns darauf einigen, dass ein Oreo ohne die Glasur ein Drittel weniger wert ist als ein ganzer?«

»Iss einfach deine Kekse«, meinte ich mit neidischem Blick auf ihren Haufen und nur halb im Scherz. »Du hast doch mehr als genug davon.«

Sloane war in Las Vegas geboren und aufgewachsen, ehe sie der Akademie beigetreten war. Sie hatte Karten gezählt, seit sie zählen konnte. Bei einem Drittel aller Blätter passte sie, aber die, die sie spielte, gewann sie jedes Mal.

»Da ist aber jemand ein schlechter Verlierer«, meinte Lia und drohte mir mit dem Finger.

Ich streckte ihr die Zunge heraus.

Der fragliche Jemand hatte nur noch zwei Kekse übrig.

»Ich gehe mit«, seufzte ich und schob sie zu dem Haufen. Es gab keinen Grund, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Hätte ich mit einem Fremden gespielt, wäre ich im Vorteil gewesen. Ich hätte mir seine Kleidung und seine Haltung angesehen und sofort gewusst, ob es sich um eine risikofreudige Person handelte oder ob er bluffte oder eine Show abzog. Dummerweise spielte ich aber nicht mit einem Fremden, und bei Leuten, die man bereits kannte, nutzte es einem leider kaum etwas, dass man Persönlichkeiten interpretieren konnte.

»Was ist mit dir, Redding? Bist du dabei oder nicht?«, fragte Michael herausfordernd.

Vielleicht hat ihn Lia doch falsch interpretiert , überlegte ich. Vielleicht blufft er gar nicht. Ich bezweifelte, dass Michael Dean herausgefordert hätte, wenn er sich nicht sicher wäre, gewinnen zu können.

»Ich gehe mit«, verkündete Dean. »All in

Er schob fünf Kekse in die Mitte und sah Michael mit hochgezogenen Augenbrauen an, sodass er dessen Gesichtsausdruck fast perfekt nachahmte.

Michael ging mit Dean mit, Lia mit Michael. Ich war an der Reihe.

»Ich habe keine Kekse mehr«, erklärte ich.

»Ich könnte einen bescheidenen Zinssatz in Erwägung ziehen«, meinte Sloane und beschäftigte sich wieder damit, einen Oreo-Keks von seiner Glasur zu befreien.

»Ich habe eine Idee«, verkündete Lia in dem überaus unschuldigen Tonfall, der immer nur eins bedeutete: Ärger. »Wir könnten das Spiel ja auf die nächste Ebene bringen.« Sie löste das weiße Halstuch von ihrem Nacken und warf es mir zu. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihres Tanktops und hoben es ein wenig an, um zu verdeutlichen, was die »nächste Ebene« war.

»Soweit ich das verstanden habe, muss sich nach den Regeln des Strip-Poker nur derjenige ausziehen, der verloren hat«, warf Sloane ein. »Bis jetzt hat niemand verloren, ergo …«

»Nenn es eine Solidaritätserklärung«, meinte Lia und zog langsam ihr Hemd hoch. »Cassie hat fast keine Chips mehr. Ich versuche nur, das Spiel auszugleichen.«

»Lia.« Dean klang wenig erfreut.

»Komm schon, Dean!« Lia schob die Unterlippe zu einem übertriebenen Schmollmund vor. »Bleib locker, wir sind doch hier unter Freunden.« Damit zog sie ihr Top aus. Darunter trug sie ein Bikinioberteil. Offensichtlich hatte sie sich schon passend gekleidet.

»Und jetzt du«, sagte sie zu mir.

Da ich keinen Badeanzug unter dem Top trug, würde ich es auf keinen Fall ausziehen. Langsam nahm ich den Gürtel ab.

»Sloane?«, wandte sich Lia an sie. Sloane starrte sie an und wurde langsam rot.

»Ich ziehe nichts aus, bis wir uns nicht auf eine Umtauschrate geeinigt haben«, meinte sie und deutete auf ihren Keksstapel.

»Sloane«, sagte Michael.

»Ja?«

»Wie wäre es mit einer zweiten Tasse Kaffee?«

Fünfundvierzig Sekunden später stand Sloane in der Küche und die Jungs hatten kein Hemd mehr an. Deans Oberkörper war gebräunt, ein oder zwei Nuancen dunkler als der von Michael, dessen Haut wie Marmor war, bis auf die Narbe von der Schusswunde, die rosa und geschwollen am Übergang von der Schulter zur Brust prangte. Auch Dean hatte eine Narbe – eine ältere, blassere, die so aussah, als ob jemand ein Messer von seinem Schlüsselbein bis zu seinem Nabel gezogen hätte.

»Ich will sehen«, verlangte Lia.

Einer nach dem anderen drehten wir unsere Karten um.

Drei gleiche.

Flush.

Full House aus Königinnen und Achten. Das war Michaels Blatt.

Wusste ich es doch, dachte ich. Er hat nicht geblufft.

»Du bist dran«, forderte Lia mich auf.

Ich drehte meine Karten um und mein Gehirn registrierte das Ergebnis.

»Full House«, verkündete ich grinsend. »Könige und Zweien. Das heißt wohl, ich habe gewonnen, was?«

»Wie hast du …?«, stieß Michael hervor.

»Soll das heißen, die Mitleidsmasche war nur gespielt?«, entrüstete sich Lia halb bewundernd.

»Nein, war sie nicht«, antwortete ich. »Ich dachte wirklich, dass ich verliere, ich hatte mir meine letzten Karten einfach noch gar nicht angesehen.«

Ich hatte mir das als Strategie überlegt: Wenn ich nicht wusste, was ich auf der Hand hatte, dann konnten es Michael und Lia auch nicht herausfinden.

Dean fing als Erster an zu lachen.

»Sei gegrüßt, Cassie, Königin der Schlupflöcher!«, sagte Michael.

Lia schnaubte.

»Heißt das, ich darf eure T-Shirts behalten?«, fragte ich, griff nach meinem Gürtel und mopste mir auch gleich noch einen Keks.

»Ich halte es für das Beste, wenn jeder im Besitz seines eigenen Hemdes bleiben und es auf der Stelle anziehen würde!«

Ich erstarrte. Der Befehl wurde von einer weiblichen, scharfen Stimme erteilt. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte ich mich wieder an die ersten Wochen hier, an unsere Betreuerin, meine Mentorin. Special Agent Lacey Locke. Sie hatte mich ausgebildet. Ich hatte sie vergöttert. Ich hatte ihr vertraut. Ich drehte mich um.

»Wer sind Sie?«, wollte ich wissen und zwang mich in die Gegenwart zurück. Ich konnte mir nicht erlauben, an Agent Locke zu denken – wenn ich diesen Weg erst einmal einschlug, würde ich nur schwer wieder zurückfinden. Stattdessen konzentriere ich mich mit aller Macht auf die Person, die hier Befehle gab. Sie war groß und schlank, doch nichts an ihr schien locker zu sein. Das dunkelbraune Haar hatte sie im Nacken zu einem strengen Knoten gebunden und sie hielt das Kinn leicht vorgereckt. Ihre Augen waren grau, ein wenig heller als ihr teurer Anzug, den sie trug, als sei ihr der Wert nicht bewusst.

An ihrer Seite trug sie eine Pistole im Halfter.

Pistole. Dieses Mal konnte ich die Erinnerung nicht im Keim ersticken. Locke. Die Pistole. Alles stürmte wieder auf mich ein. Das Messer.

Dean legte mir eine Hand auf die Schulter. »Cassie.« Ich spürte die Wärme seiner Hand durch mein T-Shirt und hörte ihn meinen Namen sagen. »Es ist in Ordnung. Ich kenne sie.«

Ein Schuss. Zwei. Michael geht zu Boden. Locke – sie hat eine Pistole …

Ich atmete tief durch, konzentrierte mich erst mal nur auf meine Atmung und verdrängte die Erinnerungen. Nicht ich war es, die angeschossen worden war. Es war nicht mein Trauma. Aber ich war der Grund dafür, dass Michael da gewesen war.

Ich war diejenige, die das Monster auf seine eigene verdrehte Weise geliebt hatte.

»Wer sind Sie?«, wiederholte ich scharf und bemühte mich, wieder in die Realität zurückzukehren. »Und was machen Sie in unserem Haus?«

Die Frau in Grau ließ ihren Blick über mein Gesicht gleiten und vermittelte mir das ungute Gefühl, als wüsste sie genau, was in meinem Kopf vorging und woran ich gerade gedacht hatte.

»Mein Name ist Special Agent Veronica Mullins«, sagte sie schließlich. »Und ab sofort wohne ich hier.«