A ls ich im Bett lag, starrte ich an die Decke und konnte die Furcht nicht loswerden, dass, sobald ich die Augen schloss, nichts mehr die Geister zurückhalten würde. Wenn ich schlief, verschwamm alles miteinander: was mit meiner Mutter geschehen war, als ich zwölf Jahre alt gewesen war, die Frauen, die Agent Locke letzten Sommer getötet hatte; das Leuchten in ihren Augen, als sie mir das Messer hingehalten hatte. Das Blut.
Ich drehte mich auf die Seite und langte nach dem Nachttisch.
»Cassie?«, fragte Sloane von ihrem Bett aus.
»Schon gut«, sagte ich. »Schlaf weiter.«
Meine Finger schlossen sich um den Gegenstand, den ich gesucht hatte: einen Lippenstift in der Farbe Rose Red, der Lieblingsfarbe meiner Mutter. Er war ein Geschenk von Locke an mich gewesen, Teil des kranken Spiels, das sie gespielt hatte, bei dem sie Hinweise geliefert hatte und mich nach ihrem Bild hatte formen wollen. Du wolltest mich wissen lassen, wie nah du mir warst . Ich schlüpfte in ihren Kopf und erstellte ihr Profil wie schon so viele Nächte zuvor. Du wolltest, dass ich dich finde. Der nächste Teil war immer der schwerste. Du wolltest, dass ich so bin wie du.
Sie hatte mir das Messer hingehalten. Sie hatte mir befohlen, das Mädchen zu töten. Und sie hatte tatsächlich geglaubt, ich würde mich darauf einlassen.
Lockes richtiger Name war Lacey Hobbes gewesen. Sie war die jüngere Schwester von Lorelai Hobbes – einer sogenannten Hellseherin und ein vermutliches Mordopfer. Meine Mutter. Ich drehte den Lippenstift in der Hand und starrte ihn im Dunkeln an. Egal wie oft ich versuchte, ihn wegzuwerfen, ich konnte es nicht. Es war eine Art masochistisches Souvenir: eine Erinnerung an die Menschen, denen ich vertraut und die ich verloren hatte.
Schließlich zwang ich mich, den Lippenstift zurückzustellen. Ich durfte mir das nicht immer wieder antun.
Wenn ich dafür nur stark genug wäre.
Denk an etwas anderes. Irgendetwas anderes. Ich dachte an Agent Mullins, den Ersatz für Locke. Ihre Kleidung war wie eine Rüstung für sie. Teuer und frisch gebügelt. Sie trug klaren Nagellack. Keine French Nails, keine Farbe – nur farblosen Lack. Warum überhaupt Nagellack, wenn er durchsichtig war? Mochte sie das Ritual, ihn aufzutragen und damit eine Art Schutzschicht zwischen ihre Nägel und den Rest der Welt zu bringen? Unterschwellig stand er für Schutz, Distanz, Stärke.
Du erlaubst dir keine Schwäche, dachte ich und redete sie im Stillen direkt an. Diese Vorgehensweise hatte man mir beigebracht, um eine direktere Verbindung zu der Person zu haben, deren Profil ich erstellte. Warum willst du um jeden Preis stark sein? Ich ging die Hinweise, die sie mir über ihre Vergangenheit gegeben hatte, noch einmal durch. Sie war die Jüngste gewesen, die je die FBI-Akademie verlassen hatte – und stolz darauf. Irgendwann einmal war sie ehrgeizig gewesen. Vor fünf Jahren hatte sie das FBI verlassen. Warum?
Anstelle einer Antwort hielten sich meine Gedanken an der Tatsache fest, dass sie irgendwann vor ihrem Ausscheiden Dean getroffen haben musste. Er kann nicht älter als zwölf gewesen sein, als du ihn kennengelernt hast. Der Gedanke löste in mir einen Alarm aus. Die einzige Möglichkeit für einen FBI-Agenten, zu diesem Zeitpunkt etwas mit Dean zu tun gehabt zu haben, war, dass sie dem Team angehört haben musste, das seinen Vater zur Strecke gebracht hatte.
Dieses Team hatte Agent Briggs geleitet. Kurz darauf hatte er begonnen, Dean zu benutzen – den Sohn eines berüchtigten Serienkillers –, um einen Einblick in die Denkweise anderer Mörder zu bekommen. Schließlich war das FBI dahintergekommen, was Briggs tat, doch anstatt ihn zu feuern, hatten sie die Sache offiziell gemacht. Dean war in ein altes Haus in der Stadt in der Nähe der Marine-Corps-Basis Quantico gebracht worden. Briggs hatte einen Mann namens Judd eingestellt, der als Deans Vormund fungierte. Mit der Zeit hatte Briggs noch weitere Teenager mit außergewöhnlichen Fähigkeiten rekrutiert und diese kleine Akademie gegründet. Zuerst war Lia mit ihrer Gabe, zu lügen und Lügen zu erkennen, sobald jemand sie ausgesprochen hatte, dazugekommen. Danach Sloane und Michael und zuletzt ich.
Du hast mit Agent Briggs zusammengearbeitet, dachte ich und versuchte, mir Agent Veronica Mullins vorzustellen. Du warst in seinem Team. Vielleicht warst du sogar seine Partnerin. Als ich zur Akademie kam, war Agent Locke Briggs’ Partnerin gewesen. Vielleicht war sie als Ersatz für Agent Mullins zum FBI gekommen, bevor sich die Situation umgekehrt hatte.
Es gefällt dir nicht, ersetzbar zu sein. Du bist nicht nur hier, um deinem Vater einen Gefallen zu tun, sagte ich im Stillen zu Agent Mullins. Du kennst Briggs. Du mochtest Locke nicht. Und irgendwann einmal hast du dir Sorgen um Dean gemacht. Hier geht es um etwas Persönliches.
»Wusstest du, dass die durchschnittliche Lebenserwartung des Haarnasenwombats zehn bis zwölf Jahre beträgt?«
Als ich gesagt hatte, es sei alles in Ordnung, hatte Sloane offensichtlich entschieden, dass dem nicht so war. Je mehr Kaffee meine Zimmergenossin trank, desto geringer war ihre Hemmschwelle, belanglose Statistiken von sich zu geben – besonders, wenn sie der Meinung war, dass jemand eine Ablenkung brauchte.
»Der älteste Wombat in Gefangenschaft wurde vierunddreißig Jahre alt«, fuhr Sloane fort und stützte sich auf den Ellbogen, um mich anzusehen. Da wir uns ein Zimmer teilten, hätte ich wahrscheinlich stärker dagegen protestieren sollen, ihr eine zweite Tasse Kaffee zu verabreichen. Doch heute fand ich Sloanes Hochgeschwindigkeits-Statistik-Stakkato irgendwie beruhigend. Ein Profil von Mullins zu erstellen hatte mich nicht davon abhalten können, an Locke zu denken.
Das hier vielleicht schon.
»Erzähl mir mehr über Wombats«, bat ich sie.
Sloane strahlte wie ein kleines Kind, das am Weihnachtsmorgen ein Wunder erlebte, und erfüllte mir meinen Wunsch.