Kapitel 6

I ch schlief bis Mittag und erwachte dennoch völlig unausgeschlafen. Gott, tat mir der Kopf weh. Ich brauchte etwas zu essen. Und Koffein. Und eine Aspirin könnte auch nicht schaden.

»Schlecht geschlafen?«, erkundigte sich Judd, sobald ich die Küche betrat, sah aber nicht von seinem Kreuzworträtsel auf.

»Kann man wohl sagen«, erwiderte ich. »Haben Sie schon Agent Mullins getroffen?«

Judd verzog leicht die Lippen und wiederholte meine Worte: »Kann man wohl sagen.«

Judd Hawkins war über sechzig. Laut seiner offiziellen Stellenbeschreibung sollte er sich sowohl um das Haus als auch um uns kümmern. Das Haus war in ausgezeichnetem Zustand. Was die fünf Teenager anging, die darin wohnten … er sorgte dafür, dass wir immer was zu essen hatten und unsere Gliedmaßen einigermaßen intakt waren, aber ansonsten ließ uns Judd die meiste Zeit in Ruhe.

»Agent Mullins scheint zu glauben, dass sie hier einziehen kann«, bemerkte ich.

Judd füllte eine weitere Zeile in seinem Kreuzworträtsel aus. Falls es ihn ärgerte, dass mehr oder minder unangekündigt eine FBI-Agentin hier aufgekreuzt war, so ließ er sich nichts anmerken.

»Darf sie das überhaupt?«, fragte ich.

Endlich sah Judd von seinem Kreuzworträtsel auf.

»Wäre sie jemand anderes, würde die Antwort höchstwahrscheinlich nein lauten«, antwortete er.

Angesichts der Tatsache, dass Agent Mullins auf Wunsch ihres Vaters gekommen war, wurde mir klar, dass Judd absolut nichts dagegen sagen konnte. Was ich nicht verstand, war, warum Judd offensichtlich nichts dagegen sagen wollte. Sie war hier, um eine Bewertung der Akademie zu schreiben. Sie hatte es Schadensbegrenzung genannt. Aber jetzt mal ehrlich, für mich klang das eher nach einer Invasion.

»Gut, du bist schon wach.«

Wenn man vom Teufel spricht, dachte ich. Doch dann hielt ich inne. Ich war nicht objektiv – und auch nicht fair. Ich beurteilte Agent Mullins mehr danach, was sie auf meine Vermutung hin tun würde, als nach dem, was sie tatsächlich getan hatte. Tief im Innersten war mir eine Sache aber mehr als klar: Völlig egal, wen sie als Ersatz für Locke geschickt hätten, ich wäre nicht dafür bereit gewesen. Jede Ähnlichkeit war Salz in der Wunde. Und jeder Unterschied ebenfalls.

»Schläfst du üblicherweise immer bis mittags?«, erkundigte sich Agent Mullins, legte den Kopf schief und musterte mich. Da ich sie nicht daran hindern konnte, tat ich es ihr gleich und betrachtete sie ebenfalls aufmerksam. Sie trug Make-up, sah allerdings nicht zurechtgemacht aus. Wie bei dem klaren Nagellack hatte sie die Farben für Augen und Lippen so ausgesucht, dass die Schminke kaum auffiel, sondern fast natürlich wirkte.

Ich fragte mich, wie viel Mühe es sie kostete, so mühelos perfekt zu wirken.

Wenn du einem UNSUB nahekommen, aber nicht in seinen Schuhen stecken willst, kannst du noch ein anderes Wort verwenden: du. Diesen Ratschlag hatte mir Agent Locke gleich zu Beginn gegeben.

»Haben Sie die Nacht hier verbracht?«, fragte ich Mullins und spielte beide Antwortmöglichkeiten im Kopf durch. Locke hatte nie hier geschlafen. Briggs schlief auch nicht hier. Du machst keine halben Sachen.

»Im Arbeitszimmer gibt es ein Schlafsofa«, erklärte Judd ein wenig mürrisch. »Ich habe ihr mein Zimmer angeboten, aber Miss Dickkopf wollte es ja nicht annehmen.«

Miss Dickkopf? Bevor Judd beim FBI angefangen hatte, hatte er im Militär gedient. Ich hatte noch nie gehört, dass er einen FBI-Agenten anders als mit seinem Titel oder dem Nachnamen angesprochen hatte. Warum also redete er mit Agent Mullins in genau dem Ton, den er normalerweise Lia gegenüber anschlug?

»Ich werde Sie bestimmt nicht aus Ihrem Bett vertreiben, Judd.«

Ihr genervter Tonfall sagte mir, dass sie diese Diskussion schon mindestens zwei Mal geführt hatten.

»Setzen Sie sich«, murrte Judd. »Alle beide. Cassie hat heute noch nichts gegessen, und wenn ich schon dabei bin, ich kann ebenso gut gleich zwei Sandwiches machen.«

»Ich kann mir mein Sandwich selber machen«, entgegnete ich.

Judd warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Diese Seite an ihm kannte ich noch gar nicht. Auf seltsame Weise erinnerte er mich fast an meine durch und durch italienische Großmutter, die glaubte, ich befände mich an einer sehr fortschrittlichen, von der Regierung geförderten Hochbegabtenschule. Nonna hielt es für ihr größtes Lebensziel, Essen in Leute zu stopfen, und wehe dem Unglücklichen, der sich ihr dabei in den Weg zu stellen versuchte.

»Ich habe mir bereits ein Sandwich gemacht«, erklärte Agent Mullins steif.

Judd machte trotzdem zwei. Eines stellte er vor mir ab und das andere vor einem leeren Platz am Tisch, bevor er sich setzte und sich wieder seinem Kreuzworträtsel widmete. Er sagte kein Wort und nach einer kleinen Weile ließ sich auch Agent Mullins auf einem Stuhl nieder.

»Wo sind denn die anderen?«, fragte ich Judd. Normalerweise konnte ich keine fünf Minuten in der Küche verbringen, ohne dass sich Michael von meinem Teller bediente oder Lia hereinkam, um ein bisschen Eis zu stehlen.

An Judds Stelle antwortete mir Agent Mullins. »Michael ist noch nicht aufgetaucht. Dean, Lia und Sloane sind im Wohnzimmer und befassen sich mit den Prüfungen zur Hochschulzugangsberechtigung.«

Fast wäre ich an einem Stück Schinken erstickt. »Womit?«

»Es ist Ende September«, informierte mich Agent Mullins, in diesem viel zu ruhigen Tonfall, der sie wahrscheinlich bei der Befragung von Verdächtigen auszeichnete. »Wärst du nicht Teil dieser Akademie, dann würdest du zur Schule gehen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass man deiner Familie erzählt hat, du würdest hier Unterricht bekommen. Manche Leute drücken bei so was vielleicht ein Auge zu. Ich aber nicht.«

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass sie in diesem Fall mit »manche Leute« nicht Judd meinte, sondern Agent Briggs.

»Du hast das Glück, eine Familie zu haben, die sich irgendwann vielleicht tatsächlich für deine Schulbildung interessiert«, fuhr Agent Mullins fort. »Nicht alle in diesem Haus können das von sich behaupten, aber du wirst genau die Ausbildung erhalten, die man dir versprochen hat.« Sie warf einen Blick auf Judd und sah dann wieder mich an. »Dean und Lia sind jahrelang hier zu Hause unterrichtet worden. Wenn Judd seinen Job richtig gemacht hat, sollten sie die Zulassungsprüfungen bestehen. Bei Sloane mache ich mir da keine Gedanken.«

Damit blieben nur Michael und ich übrig. Wäre das Programm nicht gewesen, würde ich diesen Monat mein letztes Schuljahr beginnen.

»Mach die Zulassungstests«, befahl mir Mullins beiläufig in einem Ton, der mir sagte, dass sie es gewohnt war, keine Widerworte zu hören. »Wenn du einen Tutor brauchst, besorgen wir dir einen, aber auf jeden Fall können die anderen Aspekte deiner … Ausbildung erst mal warten.«

Seit ich der Akademie beigetreten war, hatte ich schon fast vergessen, dass es auch eine Art des Lernens gab, bei der es nicht um das Innen und Außen eines kriminellen Gehirns ging.

»Ihr entschuldigt mich bitte?«, sagte ich und stand vom Tisch auf.

Judd sah mich amüsiert an. »Das hast du doch sonst auch noch nie gefragt, oder?«

Das reichte mir als Antwort. Judd beendete sein Kreuzworträtsel, und als ich schon fast die Tür erreicht hatte, wandte er sich an Agent Mullins. »Essen Sie Ihr Sandwich, Ronnie?«

Ronnie? Ich riss die Augen auf und hatte es plötzlich nicht mehr eilig, aus der Küche zu kommen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Agent Mullins bei der Nennung des Kosenamens leicht erstarrte.

»Ich heiße Veronica«, korrigierte sie Judd. »Oder Agent Mullins. In diesem Haus geht es nicht anders.«

Sie kennen sich, dachte ich. Sie kennen sich schon sehr lange.

Und plötzlich kam mir in den Sinn, dass Direktor Mullins seine Tochter vielleicht aus ganz anderen Gründen für diesen Job ausgesucht hatte als wegen der Tatsache, dass sie miteinander verwandt waren.

Gerade wollte ich durch die Küchentür verschwinden, da schwang sie nach innen auf und stieß mich beinahe um. Agent Briggs trat herein und sah aus, als sei er eben aus einem Flugzeug gestiegen. Er streckte die Hand aus, um mich festzuhalten, doch sein Blick fiel in eine andere Richtung.

»Ronnie!«

»Briggs«, entgegnete Agent Mullins. Sie verwendete bewusst nicht seinen Vornamen oder eine Abkürzung. »Ich nehme an, der Direktor hat dich informiert?«

Briggs neigte leicht den Kopf. »Du hättest anrufen können.«

Es stimmt also, dachte ich. Die beiden haben definitiv schon zusammengearbeitet.

»Cassie«, sagte Agent Briggs. Plötzlich bemerkte er, dass seine Hände noch auf meinen Schultern lagen, und er ließ sie fallen. »Wie ich sehe, hast du Agent Mullins bereits kennengelernt.«

»Ja, gestern Abend schon.« Ich sah Briggs an und suchte nach Anzeichen dafür, dass er die Gegenwart dieser Frau in unserem Haus ablehnte. »Wie geht es Mackenzie?«

Briggs lächelte – was selten genug vorkam. »Sie ist zu Hause. Sie wird in nächster Zeit viel Unterstützung brauchen, aber sie wird es schaffen. Das Mädchen ist eine Überlebenskünstlerin.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Agent Mullins zu. »Die Cold Case Academy hat diesen Monat gerade den zweiten alten Fall abgeschlossen«, erzählte er ihr. »Es ging um eine Entführung.«

Da war er – der Hinweis, dass Agent Briggs keineswegs beabsichtigte, seine Autorität der Neuen unterzuordnen. Seine Worte sollten eine klare Botschaft übermitteln: Er hatte es nicht nötig, sich bedroht zu fühlen. Die Akademie funktionierte. Wir retteten Leben.

»Beeindruckend«, fand Agent Mullins, aber ihr Ton machte mehr als deutlich, was sie wirklich dachte. Das eine Wort strotzte vor Sarkasmus. »Besonders, wenn man bedenkt, dass wegen dieser Akademie nur zwei Kinder ins Krankenhaus mussten und nur eines davon tatsächlich angeschossen wurde. Das gleicht sich ja offensichtlich ganz gut aus.«

Zwei Kinder – Michael und Dean. Ich machte den Mund auf, um Agent Mullins zu sagen, dass wir keine Kinder mehr waren, doch Briggs warf mir einen warnenden Blick zu.

»Cassie, geh doch bitte mal nachsehen, was die anderen so treiben.«

Genauso gut hätte er sagen können: »Geh doch ein bisschen im Garten spielen.«

Innerlich kochte ich vor Wut, aber ich tat wie mir geheißen. Als ich ins Wohnzimmer kam, überraschte es mich kaum, dass der Einzige, der sich mit den Aufnahmetests befasste, Dean war. Lia feilte sich die Nägel und Sloane schien aus Bleistiften und Gummibändern eine Art Katapult zu bauen.

Lia bemerkte mich als Erste. »Guten Morgen, meine Liebe«, begrüßte sie mich, »ich bin zwar nicht Michael, aber deinem Gesicht nach zu urteilen schätze ich, dass du gerade ein wenig Zeit mit der reizenden Agentin Mullins verbracht hast.« Sie strahlte mich an. »Ist sie nicht die Beste?«

Das Gruselige an Lia war, dass sie alles ehrlich klingen lassen konnte. Sie war grundsätzlich kein besonders großer Fan des FBI und pfiff aus Prinzip auf Regeln, aber obwohl ich wusste, dass ihre Begeisterung nur gespielt war, hatte ich keinen blassen Schimmer, was dahintersteckte.

»Agent Mullins hat irgendwas an sich, findet ihr nicht? Fast möchte ich mir anhören, was sie zu sagen hat«, fuhr Lia ernst fort. »Ich glaube, wir sind so etwas wie Seelenverwandte.«

Dean schnaubte amüsiert, sah aber nicht von seinem Test auf. Sloane schoss ihr Katapult ab, und ich musste in Deckung gehen, um nicht einen Bleistift zwischen die Augen zu bekommen.

»Agent Briggs ist wieder da«, verkündete ich, als ich mich wieder aufrichtete.

»Gott sei Dank.« Lia ließ die Schauspielerei sein und ließ sich gegen die Sofalehne fallen. »Aber wenn ihm jemand steckt, dass ich das gesagt habe, bin ich wohl gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen.«

Worin ihre Vorstellung von »drastischen Maßnahmen« bestand, wollte ich gar nicht wissen.

»Briggs kennt Agent Mullins«, erzählte ich. »Und Judd auch. Sie nennen sie Ronnie.«

»Dean«, sagte Lia und dehnte seinen Namen auf diese Art, die ihn jedes Mal auf die Palme brachte, »hör gefälligst auf, so zu tun, als würdest du arbeiten, und erzähl uns, was du weißt.«

Aber Dean ignorierte sie. Lia sah mich an und zog die Augenbrauen hoch. Offensichtlich war sie der Meinung, dass ich bessere Chancen hatte, ihn zum Reden zu bringen, als sie.

»Agent Mullins hat zum Team gehört, das deinen Vater zur Strecke gebracht hat, stimmt’s?«, testete ich meine Theorie vorsichtig. »Sie war Briggs’ Partnerin.«

Zuerst glaubte ich, dass Dean mich ebenso ignorieren würde wie Lia. Doch schließlich legte er den Bleistift weg, zog die Augenbrauen hoch und sah mich an.

»Ja, sie war seine Partnerin«, bestätigte er. Seine Stimme war leise und angenehm und hatte einen leichten Südstaatenakzent. Normalerweise sagte er nicht mehr als notwendig, aber heute gab er uns noch eine weitere Information: »Sie war auch seine Frau.«