Kapitel 9

A m Ende landete ich in der Bibliothek. Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke und enthielten mehr Bücher, als ich in zwei Leben hätte lesen können. An der Tür blieb ich stehen. Ich war nicht wegen eines Buches gekommen. Drittes Regal von links, zweite Borte von unten. Ich schluckte heftig und ging dann zum richtigen Regal. Ordner 12, Vernehmung 28.

Meine Finger schlossen sich um den richtigen Ordner, und ich zwang mich, ihn herauszunehmen. Als ich das letzte Mal versucht hatte, die Vernehmung 28 aus Ordner 12 zu lesen, hatte ich aufgehört, als ich den Namen des Mannes gelesen hatte, der befragt wurde.

Lia hatte recht. Ich wusste nicht wirklich, was Dean durchmachte. Aber ich wollte es wissen. Ich musste es wissen, denn wäre ich kurz davor, in den Abgrund zu stürzen – Dean hätte es verstanden.

Dean verstand immer alles.

Ich setzte mich auf den Boden, legte den Ordner auf meine Oberschenkel und blätterte zu der Seite, auf der ich vor ein paar Wochen aufgehört hatte. Briggs hatte damals die Vernehmung im Gefängnis geleitet. Er bat Deans Vater, eines seiner Opfer zu identifizieren.

Redding : Sie stellen die falschen Fragen, mein Sohn. Es geht nicht darum, wer sie sind. Es geht darum, was sie sind.

Briggs : Und was sind sie?

Redding : Sie sind mein!

Briggs : Haben Sie sie deswegen mit Kabelbindern gefesselt? Weil sie Ihnen gehört haben?

Redding : Sie wollen, dass ich sage, ich hätte sie gefesselt, damit sie bleiben. Ihr geschniegelten FBI-Psychologen ergötzt euch daran, mich über die vielen Frauen reden zu hören, die mich verlassen haben. Über meine Mutter und die Mutter meines Sohnes. Aber ist euch je in den Sinn gekommen, dass mir gefällt, wie die Haut einer Frau aussieht, wenn sie sich gegen die Plastikfesseln wehrt? Vielleicht hat es mir gefallen zu sehen, wie sich auf ihren Handgelenken und Knöcheln weiße Streifen bildeten, wie ihre Hände und Füße taub wurden. Vielleicht gefiel mir, wie sie die Muskeln anspannten und wie manche sich wehrten, bis sie bluteten, während ich einfach nur dasaß und zusah … Können Sie sich das vorstellen, Agent Briggs? Können Sie das?

Briggs : Und sie zu brandmarken? Wollen Sie mir sagen, dass das nichts mit Besitz zu tun hatte? Sie zu besitzen, sie zu dominieren, sie zu kontrollieren – ging es Ihnen nicht darum?

Redding : Wer sagt, dass es überhaupt um irgendetwas ging? Als ich aufwuchs, hat sich nie jemand für mich interessiert. Die Lehrer sagten, ich sei mürrisch. Mein Großvater hat mich aufgezogen, und er befahl mir immer, ihn nicht so anzusehen und meine Großmutter nicht so anzusehen. Irgendetwas war mit mir, etwas war anders. Ich musste lernen, es zu verbergen. Aber mein Sohn? Dean? Er wurde mit einem Lächeln geboren. Die Leute mussten ihn nur ansehen und schon lächelten sie ebenfalls. Alle liebten diesen Jungen. Meinen Sohn.

Briggs : Und Sie? Liebten Sie ihn auch?

Redding : Ich habe ihn erschaffen. Er gehörte mir, und wenn er die Fähigkeit hatte, andere zu verzaubern, oder sie sich zumindest durch ihn wohlfühlten, dann steckte das auch in mir.

Briggs : Ihr Sohn hat Ihnen beigebracht, wie man sich anpasst, wie man von anderen gemocht wird, wie sie einem vertrauen. Was haben Sie Ihrem Sohn beigebracht?

Redding : Warum fragen Sie nicht Ihre Frau? Hübsches kleines Ding, nicht wahr? Aber ihr Mundwerk … hmmm, mmm, mmm …«

»Spannende Lektüre?«, riss mich eine Stimme in die Realität zurück.

»Lia!«

»Du kannst es einfach nicht lassen, nicht wahr?«, fragte sie scharf, aber sie schien nicht mehr so blind vor Wut zu sein.

»Das von vorhin tut mir leid.« Ich machte den ersten Schritt, ging das Risiko ein, mich zu entschuldigen, auch wenn ich wusste, dass sie deswegen erneut ausflippen könnte. »Du hast recht. Ich weiß nicht, was Dean durchmacht. Die Sache mit Locke und mir … das war nicht das Gleiche.«

»Oh, so schön ehrlich wie immer«, sagte Lia in leichtem Singsang, aber dennoch spürbar ärgerlich. »Und immer bereit, die eigenen Fehler wiedergutzumachen.« Sie sah zu dem Ordner auf meinem Schoß und fuhr tonlos fort: »Nur leider auch immer bereit, dieselben Fehler wieder und wieder zu machen.«

»Lia«, sagte ich, »ich versuche nicht, mich zwischen euch zu drängen.«

»Mein Gott, Cassie! Ich habe dir gesagt, dass es dabei nicht um dich geht. Glaubst du jetzt etwa, es ginge um mich?«

Ich war mir nicht sicher, was ich glauben sollte. Lia legte es darauf an, schwer durchschaubar zu sein. Das Einzige, wobei ich mir sicher war, war ihre Loyalität Dean gegenüber.

»Er würde nicht wollen, dass du das liest.« Sie klang sehr sicher – das tat sie aber eigentlich immer.

»Ich dachte, es würde vielleicht helfen«, erklärte ich. »Wenn ich es verstehen könnte, dann könnte ich womöglich …«

»Helfen?«, stieß Lia heftig hervor. »Genau das ist das Problem mit dir, Cassie. Du hast immer die besten Absichten. Du willst immer nur helfen. Aber letztendlich hilfst du niemandem. Irgendjemand wird verletzt, aber das bist nie du.«

»Ich werde Dean nicht verletzen!«, widersprach ich heftig.

Lia stieß ein heiseres Lachen aus. »Süß von dir, dass du das glaubst, aber natürlich wirst du das.« Sie ließ sich an der Wand herabgleiten, bis sie auf dem Boden saß. »Als ich vierzehn war, ließ mich Briggs eine Tonaufzeichnung der Vernehmung von Redding hören.« Sie zog die Knie an die Brust. »Damals war ich gerade ein Jahr hier, und Dean wollte nicht, dass ich irgendetwas, das mit seinem Vater zu tun hatte, auch nur im Entferntesten zu nahe komme. Aber ich war wie du. Ich dachte, ich könnte helfen, doch es hat nicht geholfen, Cassie.« Jedes Mal, wenn sie von Hilfe sprach, verzog sie verächtlich das Gesicht. »Diese Vernehmungen sind die Daniel-Redding-Show. Er ist ein Lügner. Einer der besten, die ich je gesehen habe. Er lässt dich glauben, er lügt, wenn er die Wahrheit sagt, und dann sagt er wieder Dinge, die einfach nicht wahr sein können …« Lia schüttelte den Kopf, als könne sie auf diese Weise die Erinnerungen daran vertreiben. »Etwas zu lesen, was Daniel Redding zu sagen hat, wird dich nur verwirren. Und zu wissen, dass du es gelesen hast, wird Dean verwirren.«

Sie hatte recht. Dean würde nicht wollen, dass ich das hier las. Sein Vater hatte ihn als einen kleinen Jungen beschrieben, der mit einem Lächeln geboren wurde, den jeder sofort liebte, in dessen Gegenwart sich andere mühelos wohlfühlten. Doch der Dean, den ich kannte, verbarg sich hinter einem Schutzwall.

Besonders vor mir.

»Sag mir, dass ich mich irre, Cassie. Wenn du das kannst, dann muss ich mich ernsthaft bei dir entschuldigen. Sag mir, dass dir Daniel Redding nicht jetzt schon unter die Haut gegangen ist.«

Völlig ausgeschlossen, dass ich Lia anlog. Es gab da dieses Etwas in mir – der Teil, der Menschen als ein Puzzle betrachtete, das man lösen musste –, das vor allem eins wollte: Alles – und damit auch die schrecklichen, entsetzlichen Dinge wie das, was meiner Mutter passiert war oder was Daniel Redding diesen Frauen angetan hatte – sollte irgendeinen Sinn ergeben. So musste es doch einfach sein, oder?

»Dean würde nicht wollen, dass ich das tue«, gab ich daher zu und biss mir auf die Unterlippe, bevor ich fortfuhr: »Aber das heißt nicht, dass er damit recht hat.«

In meiner ersten Woche bei der Akademie hatte Dean versucht, mich zu verjagen, indem er erklärte, es würde mich zugrunde richten, Profile von Killern zu erstellen. Bei ihm selbst sei es zu dem Zeitpunkt, als Agent Briggs angefangen hatte, ihn bei seinen Fällen um Hilfe zu bitten, dafür schon längst zu spät gewesen.

Wäre ich an seiner Stelle und damit diejenige, die in alldem hier drohte unterzugehen – Dean hätte sich nicht zurückgezogen.

»Ich habe letzte Nacht in Michaels Zimmer geschlafen.« Lia wartete die Wirkung ihrer Worte ab und zeigte mir dann ihr schönstes Grinsekatzengesicht. »Ich wollte Revanche für das Strip-Poker-Spiel und Monsieur Townsend hat sich nur zu gerne dazu bereit erklärt.«

Es war, als hätte sie mir einen Eiszapfen in die Brust gestoßen. Ich wurde ganz still und versuchte, überhaupt nichts zu fühlen.

Lia schnappte sich den Ordner von meinem Schoß und schnaufte: »Im Ernst, Cassie, du machst es mir echt zu leicht. Falls und wenn ich wieder eine Nacht mit Michael verbringen will, wirst du es wissen, denn dann wirst du am nächsten Morgen schlicht unsichtbar sein, und Michael wird niemand anderen ansehen als mich. In der Zwischenzeit …« Lia klappte den Ordner zu. »Gern geschehen. Ich habe dir offiziell zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten erspart, dir etwas bildlich vorzustellen, was du eigentlich gar nicht sehen willst.« Sie fixierte mich mit ihrem Blick. »In Daniel Redding willst du dich garantiert nicht hineinversetzen, Cassie.« Sie warf sich das Haar über die Schulter. »Wenn du mich dazu zwingst, so etwas ein drittes Mal zu tun, werde ich kreativ werden müssen.«

Mit dieser recht beunruhigenden Bemerkung verließ sie den Raum – und nahm den Ordner und alles, was er enthielt, mit.

Darf sie das eigentlich? Ich blieb sitzen und starrte ihr nach. Endlich riss ich mich zusammen und sagte mir, dass sie recht hatte. Ich musste die Einzelheiten über den Fall von Deans Vater nicht wissen, um jetzt für ihn da zu sein. Aber selbst als ich mir das bewusst gemacht hatte und fest davon überzeugt war, dass es stimmte, konnte ich nicht verhindern, mich zu fragen, wie die Teile der Vernehmung wohl aussahen, die ich nicht hatte lesen können.

Was haben Sie Ihrem Sohn beigebracht? , hatte Agent Briggs gefragt.

Ich hatte keine Ahnung, wie Deans Vater aussah, aber ich konnte mir vorstellen, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, als er sagte: Warum fragen Sie nicht Ihre Frau?