Kapitel 10

D ean ließ das Abendessen ausfallen. Judd machte einen Teller für ihn zurecht und stellte ihn in den Kühlschrank. Ich fragte mich, ob Judd es gewohnt war, dass Dean stundenlang verschwand. Vielleicht war das normal gewesen, als Dean damals hergekommen war. Ich dachte immer öfter an ihn – an den zwölfjährigen Jungen, dessen Vater als Serienmörder verhaftet worden war.

Du wusstest, was er tat . Ohne es auch nur zu merken, schlüpfte ich in Deans Rolle. Du konntest es nicht verhindern.

Mich in Dean hineinzuversetzen, seine Gefühle seinem Vater gegenüber und was der Anblick der Leiche dieses Mädchens in ihm ausgelöst haben musste – das konnte ich nicht in einem versteckten Winkel meiner Psyche unterbringen. Ich spürte, wie es begann, meine eigenen Gedanken zu beherrschen. Mir kam es mehr als wahrscheinlich vor, dass Dean im Augenblick ständig den Gedanken hin und her wälzte, dass das Blut eines Killers in seinen Adern floss. So wie ich daran dachte, dass in meinen das von Locke floss. Vielleicht hatte Lia recht. Vielleicht konnte ich wirklich nicht wissen, was Dean durchmachte – aber ein Profiler zu sein bedeutete, dass ich nicht anders konnte, als es zu versuchen. Ich konnte nicht verhindern, dass ich seinen Schmerz spürte und darin das Echo meines eigenen.

Nach dem Essen wollte ich eigentlich nach oben gehen, doch meine Füße trugen mich zur Garage. Vor der Tür blieb ich stehen. Ich konnte hören, wie mit einem dumpfen Geräusch jemand auf irgendetwas einschlug, immer und immer wieder. Ich legte die Hand an den Türgriff, zog sie dann jedoch wieder zurück.

Er will mich nicht sehen , rief ich mir in Erinnerung. Doch gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass er uns doch bestimmt nicht ausschloss, weil er es wollte, sondern vielmehr, weil er nicht zuließ, was er eigentlich wollte. Es war möglich – sehr gut möglich sogar –, dass Dean nicht unbedingt alleine sein wollte, sondern bloß glaubte, er hätte es nicht besser verdient.

Wie von selbst streckte sich wieder meine Hand aus. Dieses Mal öffnete ich die Tür einen Spaltbreit und dem rhythmischen, dumpfen Patsch, patsch, patsch gesellte sich ein Keuchen hinzu. Mir stockte der Atem, aber ich stieß die Tür auf.

Dean sah mich nicht. Sein blondes Haar klebte ihm verschwitzt auf der Stirn. Sein dünnes weißes T-Shirt war ebenfalls durchnässt und klebte fast durchsichtig an seinem Körper. Ich sah die Muskeln auf seinem Bauch und seiner Brust. Seine Schultern waren nackt und die Muskeln so angespannt, dass ich fürchtete, sie würden wie Gummibänder reißen oder seine gespannte Haut durchstoßen.

Patsch, patsch, patsch.

Seine Fäuste droschen auf einen Punchingball ein. Immer wenn dieser zurückprallte, schlug er härter zu. Der Rhythmus seiner Schläge wurde schneller und in jeden Schlag legte er mehr Körpergewicht hinein. Mit bloßen Fäusten schlug er zu.

Ich war mir nicht sicher, wie lange ich dastand und ihn beobachtete. Die Bewegungen hatten etwas Animalisches an sich. Mein Profiler-Auge sah, dass jeder Schlag für ihn zählte. Kontrolle verlieren und wiedergewinnen. Strafe und Erlösung.

Er wollte den Schmerz in seinen Knöcheln spüren. Er war unfähig aufzuhören.

Ich trat ein paar Schritte näher, blieb aber außer Reichweite. Dieses Mal beging ich nicht den Fehler, ihn zu berühren. Seine Augen waren auf den Ball gerichtet und sahen nichts anderes. Ich war mir nicht sicher, wen er da schlug – seinen Vater oder sich selbst. Nur eines wusste ich: Wenn er nicht freiwillig aufhörte, wäre er irgendwann dazu gezwungen, weil etwas anderes aufgeben würde – der Ball, seine Hände, sein Körper oder sein Geist.

Er musste wieder zu sich kommen.

»Ich habe dich geküsst.«

Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, das zu sagen, aber irgendetwas musste ich sagen. Ich konnte den Augenblick sehen, als meine Worte zu ihm durchdrangen. Seine Bewegungen wurden ein wenig verhaltener, und ich spürte, wie er die Welt um sich herum wieder wahrnahm.

»Das spielt keine Rolle.« Dean schlug weiter auf den Punchingball ein. »Es war ja nur ein Spiel.«

Wahrheit oder Tat. Er hatte recht. Es war nur ein Spiel gewesen. Warum hatte ich dann jetzt das Gefühl, ich hätte eine Ohrfeige bekommen?

Endlich hörte Dean auf, auf den Ball einzudreschen. Er atmete schwer und sein ganzer Körper bebte bei jedem Atemzug. Mit einem Seitenblick auf mich fügte er hinzu: »Du hättest Besseres verdient.«

»Etwas Besseres als ein Spiel?«, fragte ich. Oder etwas Besseres als dich?

Dean antwortete nicht. Mir wurde klar, dass es hier wirklich nicht um mich ging. Dean sah mich gar nicht. Hier ging es um eine irreale, idealisierte Cassie, die er für sich aufgebaut hatte, etwas, mit dem er sich selbst strafte. Ein Mädchen, das etwas verdiente. Ein Mädchen, das er selbst nie verdienen würde. Ich hasste es, dass er mich auf ein Podest stellte und glaubte, ich wäre unerreichbar für ihn. Als ob ich dazu selbst gar nichts zu sagen hätte.

»Ich habe einen Lippenstift«, schleuderte ich ihm entgegen. »Locke hat ihn mir gegeben. Ich sage mir, dass ich ihn als Andenken aufbewahre, aber so einfach ist es nicht.« Er erwiderte nichts, daher fuhr ich fort: »Locke hatte geglaubt, ich könnte so sein wie sie.« Das war der ganze Sinn und Zweck ihres kleinen Spiels gewesen. »Sie wollte es so sehr, Dean. Ich weiß, dass sie ein Monster war. Ich weiß, dass ich sie hassen sollte. Aber manchmal wache ich morgens auf und habe es für einen kurzen Moment vergessen. Und in diesem Moment, bevor mir wieder einfällt, was sie getan hat, da vermisse ich sie. Ich wusste nicht einmal, dass wir miteinander verwandt waren, aber …«

Ich brach ab, und es schnürte mir die Kehle zu, denn ich dachte immer wieder, dass ich es hätte merken müssen. Ich hätte es verdammt noch mal wissen müssen, dass sie die letzte Verbindung zu meiner Mutter war. Ich hätte wissen müssen, dass sie nicht war, was sie zu sein vorgab. Doch ich hatte es nicht erkannt und deshalb waren Menschen verletzt worden.

»Zwing dich nicht, das zu sagen, nur weil du meinst, dass ich es hören sollte«, sagte Dean heiser. »Du bist nicht im Geringsten so wie Locke.«

Er wischte sich die Hände an der Jeans ab, und ich hörte die Worte, die er nicht aussprach. Du bist nicht im Geringsten so wie ich.

»Um zu tun, was wir tun«, erwiderte ich leise, »müssen wir beide vielleicht ein wenig von dem Monster in uns tragen.«

Dean hielt inne, und eine Weile standen wir schweigend voreinander, atmeten ein und wieder aus und atmeten durch die Wahrheit hindurch, die ich gerade ausgesprochen hatte.

»Deine Hände bluten«, sagte ich schließlich so heiser, wie er eben geklungen hatte. »Du hast dich verletzt.«

»Nein, es …« Dean sah nach unten, bemerkte seine blutenden Knöchel und verschluckte den Rest seiner Bemerkung.

Wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte, hätte er sich die Hände völlig zerschlagen. Dieses Wissen ließ mich in Aktion treten. Eine Minute später war ich mit einem sauberen Handtuch und einer Schüssel Wasser wieder zurück.

»Setz dich«, befahl ich, und da Dean nicht reagierte, sah ich ihn streng an und forderte ihn nochmals dazu auf. Eigentlich war ich meiner Mutter sehr ähnlich, aber bei ausreichender Motivation konnte ich auch eine gute Vorstellung meiner Großmutter väterlicherseits hinlegen. Und mit meiner Nonna legte man sich nur auf eigene Gefahr an.

Mein unnachgiebiger Blick brachte Dean dazu, sich auf die Work-out-Bank zu setzen. Er streckte die Hand nach dem Handtuch aus, aber ich ignorierte ihn und tunkte es ins Wasser.

»Gib mir deine Hand«, befahl ich.

»Cassie …«

»Gib mir deine Hand!«, wiederholte ich. Ich merkte, dass er widersprechen wollte, doch irgendwann reichte er mir doch seine Hand. Ich drehte sie langsam um. Vorsichtig und sorgfältig wusch ich das Blut von seinen Knöcheln und ließ das Handtuch über Sehnen und Knochen gleiten. Das Wasser war lauwarm, doch als mein Daumen leicht über seine Haut glitt, breitete sich die Hitze in meinem ganzen Körper aus.

Ich ließ die linke Hand los und machte mit der rechten weiter. Keiner von uns sagte etwas. Ich sah ihn nicht einmal an, sondern heftete meinen Blick auf seine Finger, seine Knöchel und die Narbe, die an seinem Daumen entlanglief.

»Ich habe dich verletzt«, brach Dean schließlich das Schweigen. Ich spürte, wie uns der Moment entglitt. Ich wünschte ihn mir zurück, so heftig, dass es mich selbst überraschte.

Ich will das gar nicht wollen. Ich wollte, dass alles so blieb, wie es war. Ich konnte das. Ich hatte es schon früher gekonnt.

Nichts musste sich ändern.

Ich ließ Deans Hand los.

»Du hast mich nicht verletzt«, erklärte ich bestimmt. »Du hast nur nach meinem Handgelenk gefasst.«

Ich zog den Ärmel hoch und wedelte mit meinem rechten Arm als Beweis herum. Neben seiner Sonnenbräune wirkte meine Haut fast unerträglich hell.

»Ich habe weder Abdrücke noch blaue Flecken. Gar nichts. Es ist alles in Ordnung.«

»Du hast Glück gehabt«, meinte Dean. »Ich war … ganz woanders.«

»Weiß ich.« Am Abend zuvor, als mich die Ankunft von Agent Mullins durcheinandergebracht hatte, war er derjenige gewesen, der mich von woanders zurückgeholt hatte. Einen Moment lang hielt er meinem Blick stand und in seinen Augen leuchtete Verständnis auf.

»Du machst dir Vorwürfe wegen dem, was mit Locke geschehen ist.« Dean war ebenso ein Profiler wie ich und konnte sich ebenso leicht in mich hineinversetzen wie ich mich in ihn. »Was den Mädchen passiert ist, die Locke getötet hat, oder Michael oder mir.«

Ich antwortete nicht.

»Es war nicht deine Schuld, Cassie. Du konntest es nicht wissen.« Dean schluckte schwer. Mein Blick fiel auf seinen Adamsapfel. Dann machte er den Mund auf und sagte: »Mein Vater hat mich gezwungen zuzusehen.«

Die leise geflüsterten Worte hatten die Gewalt einer Gewehrkugel, doch ich reagierte nicht. Wenn ich irgendetwas sagte, wenn ich atmete oder mich irgendwie rührte, würde Dean wieder dichtmachen.

»Ich habe herausgefunden, was er tat, und er hat mich gezwungen zuzusehen.«

Was taten wir hier? Geheimnisse austauschen? Schuldgefühle? Was er mir gerade erzählt hatte, war so viel mehr, als ich ihm je sagen konnte. Er war dabei zu ertrinken, und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn da herausholen sollte. Wir saßen schweigend da, er auf der Bank und ich auf dem Boden. Ich wollte ihn berühren, aber ich hielt mich davon ab. Ich wollte ihm sagen, dass alles wieder gut werden würde, doch ich tat es nicht. Ich stellte mir das Mädchen vor, das wir in den Nachrichten gesehen hatten.

Das tote Mädchen.

Dean konnte auf einen Punchingball einschlagen, bis seine Knöchel verschwanden. Wir konnten Geständnisse austauschen, die nie jemand machen sollte. Aber nichts davon änderte die Tatsache, dass Dean nicht wieder ruhig schlafen konnte, bis dieser Fall abgeschlossen war. Und ich auch nicht.